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Ein verhängnisvoller Pirschgang

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Ein verhängnisvoller Pirschgang
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1915, Vierter Band, Seite 206–208
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Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[206] Ein verhängnisvoller Pirschgang. – Ein unaufgeklärtes Vorkommnis aus den Jugendjahren des Kaisers Wilhelm I. bildet bis heute der Jagdunfall, bei dem der Prinz zwei Glieder des rechten Zeigefingers verlor, eine Tatsache, die wenig bekannt ist.

Am 15. Dezember 1819 hatte sich Prinz Wilhelm, nur begleitet von dem Obersten v. Malachowski, zur Jagd auf Rehwild nach dem dem Grafen Redern gehörigen Gute Lanke bei Biesental in der Provinz Brandenburg begeben. Bei klarem Winterwetter machten sich die beiden Herren am folgenden Morgen in Begleitung eines Försters zu einem Pirschgang auf. Kaum hatte der Förster im dichten Walde die Herren verlassen, um einen in einer Schonung stehenden Bock auf den Standort des hohen Jagdgastes zuzutreiben, als ein Schuß ertönte. Gleich darauf hörte der Förster die Stimme des Obersten v. Malachowski, der ihm zurief, er solle sofort zurückkommen. Er fand die beiden Herren in großer Aufregung vor. Der Prinz saß am Boden und wickelte soeben sein Taschentuch um seine Hand. Auf des Försters entsetzte Frage, was geschehen sei, erklärte Prinz Wilhelm, sein Gewehr habe sich, als er eben die Kugel mit dem Ladestock in den Lauf treiben wollte, entladen, und dadurch sei ihm der Zeigefinger völlig zerschmettert worden. Man brachte darauf den Prinzen in einem schnell herbeigeholten Wagen nach dem Städtchen Bernau in das Haus des Postmeisters v. Glisczinski, und in Ermanglung eines Arztes amputierte hier der als Chirurg recht geschickte [207] Bernauer Barbier Wartenberg die völlig zerfetzten beiden Glieder des rechten Zeigefingers so gut, daß sich keine weiteren Komplikationen einstellten und der Fingerstumpf bereits nach vierzehn Tagen tadellos verheilt war.

Prinz Wilhelm soll über diesen Unfall stets sehr ungern gesprochen haben, blieb aber jedenfalls immer bei seiner ersten Darstellung, daß sein Gewehr sich von selbst entladen habe, obwohl Zweifel laut wurden, ob der Sachverhalt nicht ein ganz anderer gewesen sei. Der Förster, der damals den Prinzen und den Obersten in den Wald begleitet hatte, wollte nämlich, als er davonlief, um den Wagen zu holen, noch einen zweiten Schuß aus der Richtung gehört haben, wo die beiden Herren sich befanden. Als er dann nachher die Gewehre der Jagdgäste nach dem Schlosse trug, konnte er feststellen, daß beide Büchsen frisch abgeschossen waren, obwohl Herr v. Malachowski gar nicht zum Schuß gekommen war. Später soll er dann auch den unversehrten Ladestock der Flinte des Prinzen in einem Gebüsch unweit der Unfallstelle gefunden haben.

Die Vermutung, die der Förster Bekannten gegenüber aussprach, ging nun dahin, daß sich nicht die Büchse des Prinzen, sondern die mit Schrot geladene des Herrn v. Malachowski durch dessen Unvorsichtigkeit entladen und der Schrotschuß dem in nächster Nähe stehenden Prinzen den Finger zerschmettert habe. Als Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme führte der Förster folgendes an: Würde die Flinte des Prinzen wirklich beim Feststoßen der Kugel losgegangen sein, so würde der mit großer Gewalt herausgeschleuderte Ladestock an den starken Ästen der Eiche, unter der die Herren im Augenblick des Unfalles standen, unfehlbar zerschmettert worden sein. Er lag jedoch vollkommen unverletzt in einem nahen Haselnußgebüsch. Dann war der erste Schuß, den der Förster hörte, und der dem Prinzen zwei Fingerglieder kostete, dem Klange nach ein Schrotschuß, dagegen der zweite, den er nachher auf dem Wege zum Schlosse vernahm, ein Kugelschuß.

Bei Hofe wurden natürlich durch Lakaiengeschwätz diese Gerüchte, Oberst v. Malachowski sei an der Verwundung des Prinzen schuld, bald allgemein bekannt. Man erzählte sich [208] in der Hofgesellschaft gegenseitig unter dem Siegel der Verschwiegenheit, Prinz Wilhelm verheimliche die Wahrheit nur deshalb, um dem Obersten Unannehmlichkeiten zu ersparen. Er selbst habe dem völlig verzweifelten Malachowski befohlen, den Ladestock sofort in das Gebüsch zu werfen, dann den Förster zurückzurufen und nach dem Schlosse zu schicken, noch bevor der Mann Zeit fände, die Gewehre zu untersuchen. Ebenso mußte der Oberst, als der Jäger verschwunden war, die Büchse des Prinzen gleichfalls abfeuern, um so eine Entdeckung des wahren Sachverhalts unmöglich zu machen.

Wie sich der Jagdunfall in Wirklichkeit abgespielt hat, wird nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden können. Vieles spricht dafür, daß der hochherzige Prinz seinen Jagdgefährten lediglich schonen wollte und deshalb die Vorgänge anders geschildert hat – am meisten wohl der Umstand, daß Prinz Wilhelm niemals dieses Geschehnis irgendwie berührte, vielleicht aus dem Grunde, weil es ihm wie allen wahrhaft gütigen und großmütigen Menschen unangenehm war, an eine Handlung erinnert zu werden, die so sehr für seinen in jeder Hinsicht vornehmen Charakter sprach.

An jener Stelle des Lanker Waldes befindet sich noch heute ein vom Grafen Redern errichteter Granitobelisk mit der Inschrift: „16 Dezember 1819.“

W. K.