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Ein streitiges Gebiet

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Textdaten
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Autor: Emil Adolf Roßmäßler
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Titel: Ein streitiges Gebiet
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 213–215
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Diatomeen – Tiere oder Pflanzen?
Teil 10 der Artikelreihe Aus der Menschenheimath.
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[213]

Aus der Menschenheimath.

Briefe
des Schulmeisters emer. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Zehnter Brief.
Ein streitiges Gebiet.

Wenn man eine Lilie und einen Fisch vergleicht, so sollte man allerdings kaum glauben, daß es zwischen dem Thierreiche und dem Pflanzenreiche ein streitiges Gebiet, daß es Wesen gebe, über die heut zu Tage noch von den Naturforschern gestritten wird, ob sie Thiere oder Pflanzen seien.

Ich glaube nicht mich zu irren, indem ich voraussetze, daß es Dich interessiren werde, wenn ich Dich in meinem heutigen Briefe einmal auf dieses streitige Gebiet hinausführe. Obgleich es sich dabei nur um die kleinsten Wesen handelt, so werden wir doch bei einigen derselben großartige Beziehungen, sogar zu dem Interesse des menschlichen Lebens und Bedürfnisses und zu der Oberflächengestaltung der Erde finden. Daß es sich hier aber nicht um große Körper handeln könne, das versteht sich wohl ganz von selbst; denn darin liegt eben zum Theil wenigstens der Grund, daß man über ihre thierische- oder pflanzliche Natur im Unklaren ist, daß sie viel zu winzig sind, um eine nur einigermaßen zusammengesetzte innere Organisation zu haben, die es, wenn sie sie hätten, leicht machen würde, den Zweifel zu lösen.

Eigentlich steht die Angelegenheit, die uns jetzt ein Stündchen beschäftigen soll, in engster Verbindung mit der Frage: wodurch unterscheiden sich Thiere und Pflanzen von einander. Jedermann glaubt dies zu wissen und dennoch – gesteht jeder ehrliche Naturforscher ein, daß er es nicht wisse. Ja, wenn alle Pflanzen die vollendete Ausbildung der Eichen, Tulpen und dergl., und alle Thiere die der Vögel, Insekten, Fische u. s. w. hätten, so wäre die Sache leicht. Es gibt aber eine Menge niederer, d. h. sehr unvollkommen gebildeter Thiere und Pflanzen, bei denen die von den genannten und ähnlichen vollkommneren Thieren abgeleitete Erklärung der Begriffe Thier und Pflanze oft weder hinter noch vor passen will.

Es würde also keinesweges ein überflüssiges Geschäft sein, wenn ich Dir jetzt die Unterschiede zwischen Pflanzen und Thieren möglichst deutlich und ausführlich auseinandersetzen würde. Ich unterlasse es aber, weil es mich heute zu weit von meinem „streitigen Gebiete“ wegführen würde. Wünschest Du es, so ist es später einmal auch noch Zeit.

Ich führe Dich jetzt in Gedanken an einem heißen Sommertage an einen Sumpf oder Teich, oder an einen Wassergraben oder meinetwegen auch an eine kleine Lache eines verlassenen Steinbruches – mit einem Worte an ein stehendes Gewässer, welches einen feinen schlammigen Grund hat, in welchem Meerlinsen und andere Sumpf- und Wassergewächse und namentlich die bekannten, grünen, schlüpfrigen Wasserfäden, die der Botaniker Algen nennt, wachsen. So viel auch auf einer Quadratmeile Landes Insekten und Fische und Vögel und Säugethiere leben – in einer Hand voll von dem feinen Schlamme eines solchen Wassers leben doch oft hundertmal mehr kleine Wesen; so klein freilich, daß es der stärksten Vergrößerung bedarf, um sie einigermaßen deutlich zu sehen.

Niemand ahnet – wem nicht die Kenntniß der Natur offen daliegt – daß ein am Rande eines Teiches schwimmendes verfaultes Baumblatt ein kleines Weltall ist für Millionen – ich schreibe Dir diese Zahl nicht gedankenlos hin – unendlich kleiner und unendlich zierlicher Wesen, welche für die Menschen von Leeuwenhoeck[1] gewissermaßen erst geschaffen wurden, als er sie mit dem nicht lange vorher erfundenen Mikroskope 1675 entdeckte.

Bis vor nicht langer Zeit wurde diese außerordentlich artenreiche Welt winziger Geschöpfchen unter dem Namen Infusionsthierchen zusammengeworfen. Seit etwa 30 Jahren hat man aber angefangen diese schon vielen Tausende verschiedener Gattungen und Arten – von denen man eine vollständige Sammlung in einem Fingerhute unterbringen könnte – als Wesen von sehr verschiedenartiger Gattung auf der Stufenleiter des Natursystems zu erkennen.

Für heute will ich mich auf eine Gruppe dieser kleinen Feenwelt beschränken, welche man mit dem wissenschaftlichen Namen Diatomeen belegt, was auf das Vermögen, sich zu theilen, hindeutet. Früher nannte man sie meist Bacillarien oder Stabthierchen, wegen der Aehnlichkeit mancher mit einem Zollstabe. Einen allgemein angenommenen deutschen Namen gibt es noch nicht. Er wird kommen, wenn der Streit, ob Thier ob Pflanze, entgiltig entschieden sein wird.

Ich bitte Dich, ohne weiteres meine heutige Zeichnung zur Hand zu nehmen. An sie will ich das anreihen, was ich Dir von den Diatomeen erzählen will. Vergiß nicht, daß meine Figuren sehr stark vergrößert sind. Die Vergrößerung ist ungefähr eine vierhundertmalige. Die Figur 10 also z. B. ist in der Wirklichkeit blos den vierhundertsten Theil so lang als sie hier erscheint. Man braucht [214] lange Zeit, wenn man die zahllosen Diatomeen genau mit dem Mikroskop besehen will, welche mit einem Tropfen Wasser auf einem Glasplättchen von der Größe eines Zolles dünn ausgebreitet sind.

Die Zierlichkeit und Manchfaltigkeit der Figuren meiner Zeichnung wird Dir um so mehr auffallen, wenn Du bedenkst, daß die formschaffende Kraft dazu blos einen so unendlich kleinen Raum hat. Du würdest die abgebildeten

etwa 30 Diatomeen auf einem Glasplättchen für ein wenig Staub halten und hinweghauchen. Was wirst Du aber sagen, wenn ich hinzufüge, daß diese Körperchen unverbrennlich sind. Wenn Du das Glasplättchen mit ihnen mit einem Zängelchen über einer nicht rußenden Spiritusflamme glühend heiß machen würdest, so würdest Du sie nachher unter dem Mikroskope unverändert wiederfinden. Nur die feinen Stielchen von Fig. 1 und 3 und die Algenfäden mit x bezeichnet, an denen jene wie Fig. 7 und 8, sitzen, würdest Du von der Hitze zerstört finden. Woher kommt das? Alle Diatomeen haben wie unsere Schnecken und Muscheln einen zierlichen sogenannten Panzer – das was Du siehst ist blos der Panzer – der aus einer Kieselerde besteht, wie die Schnecken- und Muschelschalen aus Kalkerde bestehen. Dieser Panzer ist fast immer, wenn es überhaupt Ausnahmen von dieser Regel gibt, glashell durchsichtig. Ich habe dies durch Uebereinanderlegung einiger, z. B. 7 über 9, angedeutet. Also alle die zierlichen Streifen, Rippen, Punkte, Zähnchen, die Du siehst, befinden sich an dem Kieselpanzer. Innerhalb desselben befinden sich nun die schwachen Spuren von Organisation, mit denen sich diese unvollkommenen Wesen begnügen müssen. Da ist freilich von Herz und Magen, Lungen und Leber, Augen und Ohren keine Rede. Darum ist aber eben die Entscheidung der Frage so schwer, ob man in ihnen Thiere oder Pflanzen vor sich habe. Und doch ist in den schwachen Spuren ihres inneren Organismus von Beiden etwas, weshalb sie von Manchen für Wesen gehalten werden, welche gewissermaßen zwischen Thier- und Pflanzenreich in der Mitte stehen.

Fig. 7 und 9 zeigen Dir, daß sich die Diatomeen auf verschiedene Weise zu zierlichen Gruppen verbinden. Fig. 10 ist eine einzelne selbstständige Diatomee, (stärker vergrößert), wie sich deren in Fig. 9 eine ganze Menge zu dem zierlichen Kreise durch seitliche Aneinanderlegung verbunden haben. Es ist dies das schöne meridion circulare. – Deutsche Namen gibt es für diese Geschöpfchen kaum, da sich das Volk noch nicht mit ihnen befaßt hat und die Wissenschaft nicht nach den Sprachstämmen ihre Namen gibt, sondern in den für alle Sprachstämme gleich geltenden Sprachen der alten Römer und Griechen. Bei der gemeinen Diatomee, Diatoma vulgare, (Fig. 7) sind die einzelnen Individuen an einer Ecke durch einen kurzen Stiel zu einer Kette verbunden. Die Synedra gracilis (Fig. 8) sitzt sternförmig gruppirt an einem Stückchen Algenfaden. Die sehr kleine Cocconeis pediculus (Fig. 2) schmarotzt oft zu Hunderttausenden an den Algenfäden, wie die Schildläuse (Coccus) auf Pommeranzenblättern, von denen sie auch den Namen hat. Die gemeinste von allen Diatomeen, Navicula viridis, siehst Du in Fig. 4 von zwei Seiten dargestellt; eben so zwei andere Arten: die von der einen Seite einer Schuhsohle ähnliche Surirella solea (Fig. 5) und die schlanke Synedra ulna (Fig. 6). Gomphonema subramosum (Fig. 1) sitzt gesellig auf kurzen, zuweilen verästelten weichen Stielchen ebenso wie Cocconema cistula (Fig. 3) auf einem Algenfaden.

Doch ich nehme Deine Aufmerksamkeit nicht blos für die Kleinheit und Zierlichkeit und für die zweifelhafte Natur der Diatomeen in Anspruch. Sie sind auch von hohem praktischen Interesse. Mehrere Straßen von Berlin stehen auf einer an manchen Stellen über 50 Ellen mächtigen feinen silbergrauen Erde, welche großentheils aus Diatomeen-Panzern besteht, und woraus man Ziegelsteine brennt. Man baut also Häuser aus diesen unsichtbar kleinen Wesen! In der Lüneburger Haide findet sich eine Schicht, die viele hundert Ruthen lang und zum Theil 40 Fuß mächtig ist, welche durchaus nur aus den leeren Panzern von Diatomeen besteht! Unser Polierschiefer und Tripel ist nichts weiter, als Diatomeen Panzer. Ein Würfelzoll davon enthält deren etwa 41,000 Millionen! Solche Diatomeen-Schichten kennt man in Europa, Afrika und Amerika.

Aber ihre höchste, wenn auch eine traurige Bedeutung für den Menschen gewinnen diese kleinen Wesen dort oben am kalten Norden, in Schweden und Lappland, wo der Sommer nicht warm und lang genug ist, um Brodkorn zu reifen. Dort werden alljährlich viele hundert Wagen feines, schneeweißes Bergmehl, so nennt man diese Kieselpanzer-Erde, mit gemahlener Baumrinde und einem wenig echten Roggenmehl – zu Brod verbacken. Also recht eigentlich Brod aus Kieselstein! Ich habe von dort, aus Lollhagysiön, eine Probe dieses Bergmehls, worin ich mit [215] dem schärfsten Mikroskop nichts weiter als eben die, zum Theil zerbrochenen, kleinen Kieselpanzer entdecke. Gerade dort ißt man sie in der Noth sehr häufig. Jene Ablagerungen der Kieselpanzer dieser kleinen Wesen, welche wahrscheinlich vor Jahrtausenden erfolgt sind, sind also Magazine für den darbenden Hunger; uralte Magazine!



  1. Sprich: Löwenhuk.