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Ein russisches Findelhaus

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Titel: Ein russisches Findelhaus
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 122–126
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Wospitatelnoi-Dom in Moskau
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Ein russisches Findelhaus.


„Heut’ Morgen, mein Herr, Wospitatelnoi-Dom! Machen Sie sich fertig auf zehn Uhr; wir müssen die Kinder in die Kirche ziehen sehen. Jeder Fremde, der nach Moskau kommt, sieht sich das Schauspiel an.“

So dictirte eines schönen Sonntagsmorgens mein deutscher Lohndiener in Moskau. Er war ein Prachtexemplar seiner Art, in allen Winkeln der ungeheuern Czarenstadt zu Hause wie in seiner Tasche, aber Widerspruch ertrug er nicht. Schon vierzehn Tage, die ich mich seiner Führung übergeben, verfügte er über mich, als wäre ich ein willenloses Stück Waare. Ich mußte also auch heute gehorchen und mit ihm nach dem großen kaiserlichen Findel- und Waisenhause fahren, – denn das will Wospitatelnoi-Dom besagen.

Eine mildthätige Stiftung, welche unter ihrem Dache über fünfundzwanzigtausend Kinder und ein Heer von mehr als zweitausend Aufsehern, Aufseherinnen, Ammen, Lehrern, Beamten beherbergt, die jährlich über sieben Millionen Rubel verausgabt und Jahr aus Jahr ein mehr als siebentausend Säuglinge und kleine Kinder aufnimmt, darf sich dreist zu den Wundern der Welt zählen. In Rußland hat Alles einen Gigantenmaßstab, nur die Freiheit nicht; ich nahte mich denn dieser gewaltigen Verkörperung und Vereinigung von Glaube, Liebe und Hoffnung mit ehrfurchtsvoller Erwartung.

Durch eine unabsehbare schnurgerade Lindenallee fuhren wir der Anstalt zu; nach einer halben Stunde hielten wir vor der breiten steinernen Freitreppe des säulengeschmückten Hauptportales. In dem großen Wartesaale begrüßte uns mit gemessener Verneigung ein martialisch aussehender Herr in blauer Uniform mit dem Degen an der Seite, bedeutete meinen getreuen und gestrengen Cicerone zurückzubleiben und machte mir durch Zeichen verständlich, daß keine Minute mehr zu verlieren sei, wollte ich rechtzeitig zur Ceremonie kommen. Der Mann hatte etwas so Gehaltenes und Würdevolles, daß ich ihn für den Director der Anstalt hielt und mich pflichtschuldig tief verbeugte. Bald erfuhr ich jedoch, daß er nur der Oberpolizeimeister sei, nichts mehr und nichts weniger als ein militärischer Büttel, der Schrecken und Wehrwolf für zwanzigtausend arme Kinder, in dessen Händen die in einer so weitläufigen Anstalt sehr wichtige und umfängliche Strafexecution ruht. Dennoch schien er mir ein gutmüthiger Herr zu sein; ich sah es an dem wohlwollenden Lächeln, mit dem er den Kindern zunickte, denen wir auf unserm Wege zur Kirche begegneten, und an der gelassenen Manier, mit welcher er die verschiedenen Anliegen einer Reihe von Ammen anhörte, von denen in einem einzigen Saale die nennenswerthe Kleinigkeit von Fünfhundert und einigen zusammen war. In der That, dies sei gleich hier erwähnt, habe ich in dem ganzen ungeheueren Etablissement auch nicht ein trauriges oder mürrisches Gesicht bemerkt, keines, das auf Kummer oder Unglück deutete, aus allen sprachen Zufriedenheit, unschuldiger Frieden und ruhiges Behagen, und dieser Umstand erzählte mir besser, wie die Anstalt organisirt und geleitet ist, als es Tausende von statistischen Notizen und sämmtliche Blau- oder Grünbücher der Welt hätten thun können.

Wer von meinen Lesern in beängstigendem Traume jemals eine ganze Nacht lang ohne Unterlaß Trepp auf Trepp ab gestiegen, durch endlose Galerien gewandert, in Zimmer auf Zimmer getreten und Hof auf Hof durchgangen ist, der hat einen ungefähren Begriff der Empfindung, mit welcher ich meinem freundlichen Polizeimeister durch das Labyrinth des Riesenbaus folgte. Endlich, nach einer halbstündigen Reise, verkündigten uns Weihrauchduft, Gesang wie von tausend zarten Engelstimmen und der tiefe Baß des Priesters, welcher die Gebete intonirte, daß wir die Vorhalle der Kirche erreicht hatten. Auf den Zehen wandelten wir an einem Heere von knieenden Weibern, Ammen, Aufseherinnen und Beschützerinnen der Kinder vorüber und standen im Dome.

Die Kirche war gedrängt voll, Kopf an Kopf saßen Tausende von Kindern jeden Alters, doch, zu meiner Verwunderung, fast ausschließlich Mädchen. Knaben nahm ich nur sehr einzeln wahr; ich erfuhr später den Grund dieser auffälligen Erscheinung. Die Kinder in hellgelben Kleidern auf den Emporkirchen wurden zu Hebammen erzogen, jene andern in Grün, welche die Seitenschiffe füllten, waren zu Dienstboten bestimmt, so berichtete mir mein Begleiter. Die ältern Classen saßen reihenweise nach dem Altare zu. Sie trugen dunkelblaue Kleider und verwandten in ihrer [123] Andacht kein Auge von dem in Roth und Gold erglänzenden Priester mit langherniederwallendem blonden Haar, der hinter der durchbrochenen Metallthür des Altarschreines in einer bläulichen Weihrauchwolke sichtbar war.

Aufmerksam ließ ich meine Blicke von Reihe zu Reihe der meist frischen, doch im Allgemeinen wenig schönen Gesichter streifen, und tiefes Mitleid erfaßte mich bei dem Gedanken, daß alle die Tausende von Kleinen heimathlos sind, die meisten nie Vater und Muter, niemals Elternliebe und Elternsorge gekannt haben und wenige sie jemals kennen lernen werden.

„Die armen Kinder!“ sagte ich zu dem Polizeimeister.

„Wohl arm,“ entgegnete er, „aber doch vornehm. Sehen Sie alle die Mädchen da auf den vordern Bänken, sechszehn-, siebenzehn- und achtzehnjährig, sind Waisen, indeß sämmtlich adeliger Abstammung. Bemerken Sie nicht einen gewissen Aplomb, einen gewissen Tact in ihrer Art und Haltung? Sie werden hier völlig standesgemäß, ganz so erzogen, wie es ihrem Range gebührt. Wir haben hier in unserm Hause mehr als fünfhundert Lehrer und Lehrerinnen für alle Fächer weiblicher Bildung und der Unterricht ist mindestens eben so gut, wie in den vornehmsten Erziehungspensionaten in St. Petersburg, wenn nicht besser.“

Auf einmal brauste es wie Waldesrauschen im Winde, erst in den Ecken der Kirche, dann bis zu uns nach der Mitte des Hauptschiffs herein; der Gottesdienst war beendet und die Kinder schickten sich zum Aufbruche an. In Divisionen, Regimentern, Bataillonen, Compagnien und Zügen marschirten sie Classe für Classe unter Anführung von Lehrern und Lehrerinnen an uns vorüber; zuerst die Gelben, dann die Grünen, darauf die Blauen, zuletzt die vordern Reihen der halb und ganz Erwachsenen. Stramm und mit der mechanischen Regelmäßigkeit gutgedrillter Soldaten schritten sie, die Augen rechts, in gleichmäßigem Tritte näher; kein Lachen, kein Necken, kein Drängen, nichts von Allotrien und Lustausbrüchen, wie man es, selbst bei dieser Gelegenheit, wohl an andern Kindern findet, nein alle mit einer merkwürdigen Ruhe und Gelassenheit.

Der Gouverneur eines Etablissements, wie es Wospitatelnoi-Dom mit seiner manche ansehnliche Mittelstadt hinter sich lassenden Bevölkerung ist, steht natürlich hochoben aus der Scala des vielsprossigen russischen Beamtenthums und rangirt mit den Generälen. Ich machte mich daher auf eine gewisse militärische Kürze und Barschheit gefaßt, war aber auf das Angenehmste überrascht, in dem reich uniformirten Herrn, dem ich mich vorzustellen hatte, um mir die Besichtigung der eigentlichen Anstalt zu erwirken, einen Mann von fast sanftem Wesen und gewinnendster Freundlichkeit zu finden. Mit der größten Artigkeit erhob er sich bei meinem Eintritt in sein Arbeitscabinet von dem Schreibtische, an dem er unter Papieren und Actenstößen gearbeitet hatte, ging mir entgegen und erbot sich, so wie er einen Blick in die ihm überreichten Empfehlungsbriefe geworfen, nun selbst meinen Geleiter durch das Etablissement machen zu wollen.

Zuerst führte er mich nach der Station der Säuglinge, einer langen Reihe von hellen freundlichen Zimmern. In jedem standen vierzig bis fünfzig Wiegen, die mit ihren schmucken Gazebehängen für Königskinder nicht zu schlecht gewesen wären. Achthundert bis tausend Säuglinge mit ebenso vielen Ammen ist die Durchschnittszahl, welche die Anstalt gleichzeitig enthält. An der Thür von jedem dieser Zimmer empfingen uns mit tiefen Knixen die Aufseherinnen derselben, lauter gutgekleidete, freundlich aussehende alte Frauen; die Ammen selbst stellten sich jede an der betreffenden Wiege auf und schulterten, um mich so auszudrücken, ihre Säuglinge – auch hier ging Alles in militärischer Art und Präcision vor sich.

Eine Ammenstelle in Wospitatelnoi-Dom gilt für ein Glück, das von den russischen Bauernmädchen eifrig angestrebt wird. Schönheiten freilich bemerkte ich unter den Hunderten von Ammen nicht, die sich uns präsentirten. Die Mehrzahl waren kurze, schlecht gewachsene Gestalten mit ausdruckslosen, breiten, gelben Gesichtern, alle aber nahmen sich in ihren rothen und gelben Kattunkleidern und dem nationalen bunten Kopftuche ganz respectabel und sauber aus. Bei einer Wiege blieb der Gouverneur stehen und beugte sich auf das darin liegende Kindchen nieder. Es war ein allerliebstes, dickes, frisches, schwarzhaariges Mädchen, voller Lust und Leben, welches den Gouverneur wohl zu kennen schien, denn es zappelte vor Vergnügen, als er sich näherte und die kleinen Händchen ergriff.

„Das da ist mein Pathchen. Etwa zweimalhundertausend Kinder,“ sagte er, als wir weiter schritten, „habe ich hier nach und nach aus der Taufe gehoben; davon ist freilich ein gut Theil nicht mehr am Leben, immer könnte ich jedoch mit meinen sämmtlichen Pathen eine Armee ins Feld führen, die manchen Mittelstaat in Schrecken jagen dürfte. Aber kommen Sie, der große Moment des Tages, unser Diner, naht; dabei darf ich nicht fehlen und Ihnen ist’s gewiß ein interessanter Anblick, jedenfalls kein alltäglicher, sich einmal eine Table d’hôte mit anzusehen, an welcher die Gedecke nicht nach Hunderten, sondern nach Tausenden zählen und vom sechsten bis zum sechszigsten Jahre alle Lebensalter vertreten sind.“

Wiederum Galerie auf Galerie, Corridor nach Corridor, ehe wir zur Thür des Speisesaals gelangten. Eben verkündete eine sonore Glocke den Beginn des Mittagsmahles und mit dem letzten ihrer Schläge quoll aus allen den zahllosen Zimmern und Zellen rechts und links ein Menschengewimmel hervor, als setze sich eine Völkerwanderung in Bewegung. Aber welche Ordnung in dem Gewühl! Paarweise traten die Zöglinge heraus, formirten sich, ohne daß nur eine Minute lang Hemmung und Wirrwarr entstand, in langen Colonnen und marschirten ebenso gesetzt und ruhig, wie sie aus der Kirche gezogen waren, dem für die Meisten jedenfalls wichtigsten Abschnitte ihrer Tagesordnung entgegen. Wohl las man auf den jungen Gesichtern die Aufregung der Erwartung, doch nirgends kam die Freude zu lautem Ausdruck.

Länger als eine Viertelstunde hatten wir zu warten, ehe es uns gelang, zwischen einer Section Kinder uns zum Speisesaal hindurch zu arbeiten, und noch endlos strömte es hinter uns ein. Speisesaal – was sage ich? Speisedom, so groß wie die allergrößte Kirche, leider aber so niedrig, daß mir’s anfangs wie ein Alp die Brust beklemmte. Unabsehbar dehnten sich hier Tisch an Tisch; der Raum zwischen den einzelnen Tafelreihen war nicht breiter, als es die unumgängliche Nothwendigkeit erfordert, dennoch ging auch hier Alles am Schnürchen. Von Gedränge und Unordnung war keine Spur, die Disciplin vollkommen; in wenigen Minuten hatten Alle an ihren speciellen Tischen Platz gefunden.

In der Mitte des Tafeloceans erhob sich eine Estrade, von welcher aus man den weiten Saal mit seiner Kinderwelt überschauen konnte. Dahin führte mich der Gouverneur.

„Hier ist mein Platz,“ sagte er, nachdem er mir von einer der vielen emsig hin und hereilenden Aufseherinnen einen Stuhl hatte herbeischaffen lassen. „Ich speise alle Tage inmitten meiner Kinder und nichts Anderes, als was ihnen gereicht wird. Darf ich Sie einladen, unsere Küche zu probiren?“

Das Essen ließ nichts zu wünschen übrig; es war natürlich einfach, doch kräftig und vortrefflich zubereitet, dabei mit solcher Sauberkeit, ja Gefälligkeit angerichtet und aufgetragen, daß schon das Zusehen Appetit machte. Nur daß die ganze Mahlzeit unter einem Grabesschweigen abgethan wurde, hatte etwas Unheimliches. Das schien mir der Disciplin denn doch allzuviel zu sein. Arme, arme Kleinen! mußte ich wieder denken. Wo bleibt euere wahre Kinderlust? Wo euer freies Tummeln und Bewegen, ohne die Fesseln von Zucht und Dressur?

„Wo ist der Speisesaal Ihrer Knaben?“ frug ich den Gouverneur, als er mich darauf von Tisch zu Tisch geleitete und mich dabei auf seine tüchtigsten Zöglinge aufmerksam machte. „Auch in der Kirche habe ich ja fast nur Mädchen bemerkt.“

„Der größte Theil unserer Knaben,“ ward mir zur Erwiderung, „ist augenblicklich nicht in unserer hiesigen Anstalt. Sie müssen nämlich wissen, daß wir auf dem Lande noch verschiedene recht ansehnliche Zweiginstitute und Meiereien besitzen; dort hausen jetzt die Jungen, die älteren zum Theil mit landwirthschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Außerdem haben wir rund um Moskau und tiefer in’s Land hinein in allen Dörfern noch Ammen und Ziehmütter für unsere Kleinsten, von denen mehr als fünftausend auf diese Weise versorgt sind. Selbstverständlich vertrauen wir die Kinder nur ganz zuverlässigen Personen an und überwachen diese beständig. Auch dürfen Sie nicht denken, daß dies hier unsere einzige Table d’hôte im Hause ist; wir haben noch ein halb Dutzend Speisesäle, keinen freilich so groß wie den, wo ich präsidire.“

Von Neuem hatte ich Gelegenheit, die außerordentliche Freundlichkeit [124] zu bewundern, mit welcher der Gouverneur mit den Kindern verkehrte, und die große Liebe, mit der diese sammt und sonders an ihm zu hängen schienen. Wie strahlten die Augen der Kinder, wenn er ihnen mit väterlichem Blicke zunickte, da und dort einen besondern Lobspruch spendete und eines und das[WS 1] andere Mädchen zärtlich auf die Wangen klopfte! Mich selbst interessirten die älteren Pfleglinge, die jungen Damen der ersten Classe, am meisten; ihre elegante Haltung und die Selbstachtung, die aus ihrem Thun und Reden sprach, waren wirklich überraschend. Keine erröthete oder zeigte sonst Verlegenheit, wenn man das Wort an sie richtete. Natürlich und anmuthig, mit vollkommener Unbefangenheit und Ruhe antworteten sie auf alle Fragen, die ich ihnen stellte, von Affectation und falscher Scham ließ sich keine Spur wahrnehmen. Die Damen aus den ersten Kreisen von London und Paris, von Berlin und Wien hätten sich der feinen gesellschaftlichen Tournüre und der vornehmen Natürlichkeit dieser russischen Waisenmädchen nicht zu schämen gebraucht.

„Wir Russen,“ bemerkte der Gouverneur, indem wir unsere Promenade durch den Saal fortsetzten, „haben ein eigenthümliches Talent zum Erlernen fremder Sprachen. Auch unter meinen Kindern hier habe ich wackere Linguisten; sehr viele sprechen und schreiben neben ihrem Mutteridiom geläufig Deutsch und Französisch. Ebenso treiben die meisten Musik und Zeichnen, und viele als wahre Künstlerinnen. Wir lassen ihnen in diesen höheren Studien ganz freie Wahl, je nach Anlage und Neigung.“

Mittlerweile hatten die Kinder die Schüsseln geleert, ein frommes Lied schloß das Mahl, wie es dasselbe eröffnet hatte, und mit derselben Ordnung, wie sie gekommen, defilirten sie an uns vorüber den Thüren zu; keines aber ging hinaus, ohne [125] mit einem gefälligen Knix dem Gouverneur sein „Guten Tag, Papa,“ zu sagen.

„Alle unsere lieben Kinder,“ hob mein Begleiter wieder an, während auch wir den Saal verließen, „fühlen sich hier sehr glücklich. Wer einmal bei uns in Wospitatelnoi gewesen, wer jemals unter dem großen Steinpelikane über dem Portale die Schwelle des Hauses überschritten, hat das Recht, jederzeit wieder bei uns einzusprechen, wenn ihn Armuth oder Krankheit, Kummer und Sorgen unsere Hülfe suchen lassen.“

„Aus was für Fonds ist Ihre Anstalt gegründet und aus welchen Mitteln wird sie unterhalten?“ frug ich. „Das Petersburger Findelhaus bezieht, so viel ich weiß, seine Einkünfte aus dem auf die Spielkarten gelegten Stempel und aus den Erträgnissen des Lombard-Leihamtes.“

„Die Kaiserin Maria Feodorowna, Gemahlin Paul’s, ist die Stifterin unseres Findelhauses,“ antwortete der Gouverneur. „Außerdem fließen auch uns die Einkünfte der Moskauer Lombard-Anstalt zu. Ferner hat uns die reiche Familie Demidoff beträchtliche Güter und Capitalien vermacht, und endlich müssen alle öffentlichen Lustbarkeiten, Theater, Bälle, Concerte etc. zehn Procent ihrer Einnahmen an uns abgeben; das wirft bei dem im Allgemeinen sehr vergnügungssüchtigen Russen ein gut Stück Geld ab. Aber,“ setzte er hinzu, an eines der Fenster des Corridors tretend, den wir eben durchschritten, „da haben Sie unsern Garten.“

Ich sah hinaus und was ich bemerkte, war ein ungeheuerer grüner Rasenplatz und darauf ein Leben wie auf einer Messe. Die Kinder genossen ihre Sonntagsfreiheit und wandelten, spielten, ergötzten sich im Freien, allerdings auch nur unter der Obhut einer Schaar von Aufsehern und Aufseherinnen. Der Platz entbehrte jedes eigentlichen Gartenschmuckes, hatte nur wenig Buschwerk und Blumen, doch einen Umfang, daß [126] ein Armeecorps darauf hätte manövriren können. Auffällig waren mir die Hunderte kleiner hölzerner Sommerhäuschen, die sich, eines dicht am andern, rings um die unendliche Rasenfläche zogen.

„In diese Häuschen,“ sagte der Gouverneur, der die Frage in meinem Blick gelesen haben mochte, „pflegen wir in der schönen Jahreszeit diejenigen unserer kleinen Zöglinge zu quartiren, für welche ein möglichst ungehinderter Genuß der frischen Luft gerathen scheint. Es sind Luftbuden im Kleinen, und die Kinder lieben dieses Zelt- und Bivouacleben so sehr, daß sich immer eine Menge Candidatinnen dafür melden, die freilich nur zum kleineren Theile erhört werden können. In die Schulzimmer,“ fuhr er fort, „führe ich Sie nicht, sie sind heute zum Festtag sämmtlich leer und öd. Und so wie das hier,“ bemerkte er weiter, indem er eine Thür der Galerie öffnete, „sehen sie alle aus. Dahinein aber werfen Sie einen Blick.“ Er that eine andere Thür auf, die uns ein großes viereckiges Gemach erschloß, dessen vier Wände hohe Glasschränke garnirten, welche von oben bis unten mit Puppen aller Art und Größe gefüllt waren. Eine Puppenversammlung, zahlreicher als die der größten Nürnberger Spielwaarenhandlung.

„In diesem Saale,“ erklärte mir der Gouverneur, „verwahren wir das Spielzeug für die kleineren unserer fünfundzwanzigtausend Kinder, und hier,“ er zog ein Schubfach in einem der Schränke auf, „finden Sie Modelle der verschiedenartigsten Geräthe und Werkzeuge. Auf der Tafel dort haben Sie unsere bekanntesten Säugethiere, Vögel, Fische in genauen plastischen Nachbildungen; unsere Kinder lernen daraus besser, als aus Büchern, und jubeln immer, wenn sie classenweise in den Saal geführt werden und jedes sich sein Lieblingsspielzeug selbst aussuchen darf. – Doch es ist Zeit, daß Sie ein Glas Thee mit mir trinken, auf russische Manier, wissen Sie, mit Citrone. Auch müssen Sie unsere Hausmutter, die Mutter unserer gesammten Kinderwelt, die erste Matrone, wie wir sie officiell tituliren, kennen lernen. Kommen Sie mit zu ihr; dort können wir noch ein Stündchen ungestört plaudern und Sie sich über unsere Anstalt Alles aufzeichnen, was Ihnen bemerkenswerth erscheint. Fragen Sie nach Herzenslust; wir freuen uns nur zu sehr, wenn wir von unserm Wospitatelnoi-Dom erzählen können.“

Gern folgte ich der freundlichen Einladung. Das Zimmer der Hausmutter war ein höchst elegant meublirter Salon und die Hausmutter selbst eine stattliche alte Dame von vollendeter Weltbildung, die mit der liebenswürdigsten Grazie die Honneurs machte.

„Streng genommen,“ begann sie, nachdem ich mich ihr gegenüber in einem bequemen Fauteuil niedergelassen hatte, während ein reichgalonnirter Lakai den Thee präsentirte, „können wir unser Wospitatelnoi-Dom kein Findelhaus nennen; denn wir nehmen, ohne weiter nach dem Woher zu forschen, alle Kinder auf, die uns gebracht werden, vorausgesetzt, daß sie ein bestimmtes Alter noch nicht überschritten haben. Sommer und Winter, Tag und Nacht steht die Pforte der kleinen Loge unten in der Halle offen, wo wir die Kinder empfangen. Im Durchschnitt kommen auf jeden Tag dreißig Kinder, für die man bei uns Herberge und Pflege sucht. Niemand ist gezwungen, uns den Namen der Mutter oder der Eltern zu sagen; ebenso braucht Niemand auch nur eine Kopeke für Unterhalt und Erziehung der uns übergebenen Kinder zu bezahlen. Wer aber jährlich dreißig Rubel entrichtet, kann verlangen, daß sein Kind nicht aus dem Hause zu einer unserer Landammen gegeben, sondern lediglich in der Anstalt selbst verpflegt wird. Wer von den Knaben die Summe von zweihundert und fünfzig Rubeln mitbringt, wird zum Officier, Ingenieur u. dergl. ausgebildet; die ganz mittellosen werden später fast ohne Ausnahme gemeine Soldaten. Unsere befähigtsten Schüler bereiten wir auf eine spätere Universitätsbildung vor; mehrere der ausgezeichnetsten Aerzte Moskaus z. B. sind aus unserer Anstalt hervorgegangen. Zunächst wird jedes Kind numerirt, registrirt und getauft – was immer alsbald nach der Aufnahme geschieht – darauf ihm eine Marke mit Namen und Nummer um den Hals gehangen, ein Duplicat dieses Zeichens aber der Person eingehändigt, welche es uns gebracht hat, damit es eventuell reclamirt werden kann, wenn es einmal einundzwanzig Jahre alt geworden ist. Aus den entlegensten Theilen Sibiriens, aus Bessarabien, aus dem Kaukasus und aus der Krim haben wir Kinder im Hause. Leider stirbt uns ein Viertel davon in den ersten sechs Wochen, und mehr als die Hälfte überhaupt in den ersten sechs Jahren. In Petersburg, dessen von Katharina der Zweiten 1770 gegründetes Findelhaus dem unserigen nur wenig nachgiebt, ist das Verhältniß noch ungünstiger, denn dort fehlt es unter der meist sehr dürftigen Landbevölkerung an kräftigen, gesunden Ammen, an denen wir im Allgemeinen keinen Mangel haben.“

Es war inzwischen spät geworden und, obschon ich der Anstalt und ihren Einrichtungen nur eine sehr flüchtige Besichtigung hatte widmen können, über dieser doch eine Zeit von fünf Stunden verflossen. Ich durfte meinen freundlichen Cicerone nicht länger bemühen; überdies decretirte mein unerbittlicher deutscher Lohndiener noch einen Besuch im großen Simonoffkloster, das ebenfalls viel Interessantes bieten sollte. Mit herzlichem Dank schied ich denn von Gouverneur und Hausmutter, zugleich mit der aufrichtigen Versicherung, daß mir Wospitatelnoi-Dom nicht blos als ein staunenswerther Koloß, sondern als eines der bestorganisirten und verwalteten philanthropischen Institute erschienen, die ich je gesehen hatte, als ein Institut, das seine Aufgabe nach allen Seiten bin vortrefflich erfüllt, womit freilich die Bedenken, die sich aus Gründen der Moral und der Volkswirthschaft gegen das ganze System der Findelhäuser erheben lassen, nicht beseitigt werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: dsa