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Ein protestantischer Großinquisitor

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Textdaten
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Autor: Otto Henne am Rhyn
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Titel: Ein protestantischer Großinquisitor
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 26–28
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein protestantischer Großinquisitor.


Im ruhigen Thale pläschert der Dampfer, dichte Rauchsäulen mit mächtigem Zischen ausstoßend, durch die tiefblauen, von der Sonne vergoldeten Wogen des herrlichen Lemansees. Links zeigt sich das düstere, von tiefen Buchten zerrissene und im Hintergrunde zu zackigen Felsspitzen, den Vormauern der eisigen Alpen, aufstrebende Gestade Savoyens; rechts lachen die grünen Weingelände der Waadt, hinter denen sich die eintönige Höhe des Jura hinstreckt. Es ist eine prächtige Fahrt; der See wird enger und enger; endlich hat er nur noch die Breite eines mächtigen Stroms, und vor uns erheben sich am Ufer weite weiße Reihen imposanter Paläste, breite elegante Quais, lange kolossale Brücken und über Allem die erhabene Cité mit dem stolz thronenden, aber architektonisch verunglückten St. Petersdome. Wir sind in Genf; früher hieß es das protestantische Rom – jetzt das kleine Paris –, noch immer aber nennt man es mit Vorliebe „die Stadt Calvin’s“.

Man ist durch den Einfluß früherer tendenziöser Geschichtschreibung noch jetzt gewohnt, den Theologen Johann Calvin als den Reformator der französischen Schweiz, als den Wohlthäter der kleinen Republik Genf und als einen Mann des Lichtes zu betrachten. Eine solche Auffassung ist dreifach falsch, wie die neuesten Erhebungen aus den Archiven von Genf, namentlich durch die Verdienste des fleißigen Forschers Galiffe, bewiesen haben. Diese Entdeckungen sind aber in weiteren Kreisen so unbekannt geblieben, daß ihre Mittheilung in einem weitverbreiteten deutschen Blatte gerechtfertigt erscheint.

Die Wirksamkeit Calvin’s galt einmal nicht der Schweiz, sondern Frankreich; er benutzte blos einen freien Boden, um von demselben aus seine Minen zu legen. Dabei ist er ferner nicht der Wohlthäter, sondern der unerträgliche Tyrann Genfs geworden. Endlich war weder Licht noch Freiheit, sondern die Vertauschung der römischen Geistesknechtung mit einer calvinistischen sein Ziel. Wir wollen dies nachweisen.

Vor Allem müssen wir die Thatsache hervorheben, daß in Frankreich niemals eine religiöse Bewegung aus dem Volke hervorgegangen ist, wie in Deutschland durch Luther, in der deutschen Schweiz durch Zwingli. Die Nation hatte dort niemals religiöse Ueberzeugungen, sondern ließ sich die Religion als polizeiliche Staatsanstalt immer von oben herab octroyiren. Schon in den ältesten Zeiten waren die Druiden zugleich Priester und Regenten der Gallier. Nach der Eroberung des Landes durch die Römer wurden ohne Widerstand die römischen Götter verehrt. Nach Einführung des Christenthums galt der damals unter allen germanischen Völkern und im oströmischen Reiche herrschende Arianismus als Staatsreligion; Chlodowig verdrängte ihn durch den römischen Katholicismus. Als im Mittelalter die päpstliche Herrschsucht dem französischen Königthum unbequem wurde, entstand die gallikanische Kirche, welche mit Umgehung des Papstes im Namen der französischen Krone das katholische Dogma beschützte. Und wie das druidische, römische, päpstliche und gallikanische Frankreich dies von Staatswegen war, so wurden auch in späterer Zeit der jacobinische Cultus der Vernunft und Robespierre’s „höchstes Wesen“ Staatsgesetz – und ebenso wäre dies im sechszehnten Jahrhundert der Protestantismus mit gleicher Zwangsanwendung geworden, wenn er – gesiegt hätte. Dieser Sieg war aber das Ziel Calvin’s, welcher nur deshalb aus Genf ein protestantisches Frankreich im Kleinen machte, um einen Musterstaat für sein wahres Vaterland aufzustellen, um im letzteren seine theologischen Ansichten zur Herrschaft zu bringen.

Die düstere alte Cité am Ausflusse der Rhone aus dem Lemansee, damals noch nicht mit modernen Quais, Brücken und Hôtels geschmückt, sondern durch Mauern und enge Wasserthore vom prachtvollen Seespiegel abgeschnitten, war bereits, ehe sich Calvin dort blicken ließ, zum Glauben der Reformation bekehrt. Der Begründer dieses Werkes, Anton Fromment, hatte unter der Maske von Lese- und Schreibstunden gegen die Mißbräuche in der Kirche zu eifern begonnen und stand endlich neben seinen Freunden Farel und Viret an der Spitze einer mächtigen Partei dem katholischen Sorbonne-Doctor Guy Furbity gegenüber, welcher sich vernehmen ließ: die römischen Priester ständen über der Mutter Gottes; denn diese habe Christum nur einmal geboren, während jene ihn alle Tage „machen“. Mit Hülfe des mächtigen Bern gelangten die Reformirten dazu, die Bilder zu zerstören und Mönche und Nonnen zu vertreiben (1534), und die Hülfe der Eidgenossen, wie sich nach ihnen auch die fortschrittlich gesinnten Genfer nannten, gab den Anhängern der Reformation im französischen Sprachgebiet von da an den noch vielen Leuten räthselhaften Namen der Hugenotten, was nichts ist, als eine Corruption aus „Eidgenossen“ (französirt Euguenots).

Erst zwei Jahre später langte in Genf der Franzose Jean Cauvin oder Calvin an. In seinem Vaterlande verfolgt, obschon dessen König aus politischen Gründen mit auswärtigen Protestanten und sogar mit den Türken verbündet war, – wählte er Genf zum Schauplatze seiner Wirksamkeit für das von ihm als Grundlage der Religion erklärte Dogma der Gnadenwahl, nach welchem nur Wenige von Gott zur Seligkeit auserwählt, der Rest aber trotz aller Verdienste verdammt sein sollte. Diesen furchtbaren Wahn wollte er in allen französisch sprechenden Ländern zur Herrschaft bringen, erst in Genf und dann, woran ihm noch weit mehr lag, in Frankreich.

Dem echten lebenslustigen Genfer mußte die düstere Weltansicht Calvin’s, diese Entwürdigung des höchsten Wesens zu einem leidenschaftlichen, verdammungssüchtigen Menschenfeind, ein Gräuel sein. Vor Allem war es daher Calvin darum zu thun, diese lebenslustigen Genfer zu unterdrücken, und das hoffte er zu erreichen, indem er aus seinem Vaterlande alle um des Glaubens willen Verfolgte nach Genf kommen ließ, wo sie dem Landsmanne und Beschützer blind ergeben waren. Erst in kleineren, dann in größeren Mengen erschienen die Flüchtlinge, erwarben Niederlassung und Bürgerrecht und übertrafen nach einigen Jahren bereits die eingeborenen Genfer an Zahl, unter denen indessen Calvin ebenfalls Anhänger zu gewinnen wußte. So standen sich zwei Parteien gegenüber: die alten Genfer schweizerisch gesinnt, Anhänger Zwingli’s und Freunde des Lebens und einer anständigen Fröhlichkeit, auf der einen, die eingewanderten Franzosen und ihre Gönner, den Schweizern abgeneigt, Anhänger Calvin’s und einer düstern, freudelosen, dogmatischen Weltanschauung ergeben, auf der andern Seite. Um die Ersteren gründlich zu verderben, scheuten die Letzteren das Mittel nicht, sie als leichtfertige, sittenlose Lebemenschen zu verleumden und ihnen den Schimpfnamen der Libertiner anzuhängen, welcher ihnen bei den Bewunderern Calvin’s bis auf den heutigen Tag geblieben ist.

Noch einmal ermannten sich die Freunde der Freiheit, welchen es gelang, Calvin und einige seiner Anhänger zu verbannen; aber dieser Erfolg war leider nicht von Dauer. Die Calvinisten wußten es dahin zu bringen, daß einer ihrer bedeutendsten Gegner, der Syndicus Jean Philippe, unter falscher Anklage hingerichtet wurde, und sofort fand sich auch eine Mehrheit, welche den Verbannten zurückrief.

Von da an scheute Calvin kein Mittel mehr, sich in der Herrschaft über die Geister zu befestigen. Er erhielt eine reiche Besoldung[1] und den Auftrag, „Gesetze zur Beherrschung des Volkes zu verfassen.“ Sofort organisirte er ein förmliches Spionirsystem, mittels dessen er, wie Galiffe erzählt, „nicht nur die Thaten, Mienen und Worte, sondern selbst die Gedanken und Ansichten jedes Bewohners von Genf, ja sogar der Abwesenden täglich erfuhr.“ Wer ihn beleidigte, wurde als „Beleidiger Gottes“ angeklagt und mußte öffentlich auf drei Plätzen der Stadt, im bloßen Hemde und eine Fackel in der Hand, knieend um Gnade bitten und sein Unrecht bekennen. Dies widerfuhr u. A. dem Zeughausverwalter Pierre Ameaux und dem Buchdrucker Dubois.

Den Rath von Genf veranlaßte Calvin, ein Gesetz zu erlassen, daß alle in vergangener Zeit begangenen Fehler gegen die Keuschheit nachträglich bestraft werden sollten. Es ist nachgewiesen, daß dieses Gesetz gegen Anhänger Calvin’s keine Anwendung fand. Sein erstes Opfer war ein einflußreicher Gegner des „Reformators“, der Syndicus Franz Fèvre, dessen bezüglicher Fehltritt, über den aber die Richter nichts Bestimmtes wußten,

[27] sechszehn Jahre rückwärts datirte. Er mußte im Gefängnisse schmachten, und so auch seine Tochter, welche die Richter getadelt hatte, und der Gatte derselben, der sich durch ihre Behandlung zur Drohung mit Rache hatte hinreißen lassen. Sechs Familienväter, die nichts Anderes gethan, als daß sie den bewaffneten französischen Calvinisten, welche die Wahlen in ihres Herrn Interesse „leiten“ mußten, Widerstand geleistet, wurden enthauptet und zwei davon überdies geviertheilt, worauf noch weitere Hinrichtungen und zahllose Verbannungen der Gegner Calvin’s folgten.

In den fünf Jahren von 1541 bis 1546, da die ganze Regierung Genfs unter Calvin’s Einflusse stand, wurden sechsundsiebenzig Menschen verbannt, acht- bis neunhundert eingekerkert und achtundfünfzig hingerichtet. Bei achtunddreißig der letzteren mußte damals die beliebte „Hexerei“ den Vorwand abgeben. Achtundzwanzig der Hingerichteten waren Frauen, unter ihnen auch die eigene Mutter des Scharfrichters, welcher gezwungen wurde, ihr die Hand abzuhauen und dann den Leib zu verbrennen, der ihn geboren. Eine der Unglücklichen erhängte sich aus Verzweiflung im Kerker; eine Andere stürzte sich aus dem Fenster; lebend aufgehoben, wurde sie doch noch verbrannt. In das Privatleben mischte man sich auf jede Weise. Bei der Taufe durften die Kinder keine anderen Namen erhalten als solche, welche in der Bibel standen; Musik und Tanz wurden verpönte Genüsse, und während Calvin’s Lebenszeit durfte nie mehr Theater gespielt werden. Man versuchte sogar, die Wirthshäuser zu unterdrücken, erzweckte aber damit keine Erfolge. Die Unsittlichkeit wuchs von Jahr zu Jahr, und zwar namentlich in Folge des Benehmens der französischen Einwanderer, vor deren Angriffen nicht einmal die Frauen in der Kirche sicher waren. Dabei ist nachgewiesen, daß von den Sittengesetzen zu Gunsten der dem herrschenden Systeme ergebenen Personen zahlreiche Ausnahmen gemacht wurden. Ja Solchen, die ihre Frauen in Frankreich zurückgelassen, wurde sogar erlaubt, in Genf zu neuer Ehe zu schreiten.

Calvin selbst bediente sich in seinen Predigten der unanständigsten Ausdrücke; er nannte Diejenigen, welche ihn nicht anhörten, Thiere, Hunde, Wölfe; er predigte, man müsse zwei Galgen errichten und daran sieben- bis achthundert junge Genfer aufhängen; ja er benahm sich so, daß selbst der ihm ergebene Rath ihn ermahnen mußte, „auf der Kanzel nicht so zu schreien.“

Seine Anhänger ahmten ihn getreulich nach. Der Pfarrer Chauvet, ein Gascogner, rief in der Predigt seinen andächtigen Zuhörern zu: „Pest, Krieg und Hunger sollen über Euch kommen.“ Der Prediger Treppereaux redete seine Pfarrkinder an: „Ihr seid Alle Teufel! Glaubt Ihr, dies Land gehöre Euch? Nein, es gehört mir und meinen Genossen, und Ihr sollt durch uns Fremde beherrscht werden, und würdet Ihr auch mit den Zähnen knirschen.“ Wie bescheiden Calvin war, zeigt seine Aeußerung auf der Kanzel: was er predige, das komme nicht von ihm, sondern von Gott etc.

Weit schrecklicher indessen, als in der erwähnten kleinlichen und verkehrten Moral, war Calvin’s Regiment in Glaubenssachen. Die Zahl der bekannten Männer, welche zur Zeit desselben um ihres Glaubens willen bestraft wurden, beträgt dreiunddreißig. Jacques Gruet, welcher nur verdächtig war, ein Pamphlet gegen die französischen Prediger in Genf verfaßt zu haben, wurde enthauptet, Jerome Bolsec wegen abweichender Ansichten von denen Calvin’s lebenslänglich verbannt. Das meiste Aufsehen aber erregte der Justizmord an dem spanischen Arzte Michael Servet, welcher die Dreieinigkeit in seinen Schriften anders aufzufassen sich erlaubte, als die Theologen seiner Zeit.

Als Servet auf seinen Reisen zu Vienne in Frankreich sich aufhielt, trat er mit Calvin in Correspondenz, indem er sich einbildete, den starren Reformator für seine Ansichten gewinnen zu können. Calvin brach aber den Verkehr mit ihm ab und schrieb an Farel nach Neuenburg: „Wenn Servet nach Genf käme, würde ich nicht dulden, daß er am Leben bliebe.“ Als dann Servet ein neues Werk herausgab, in welchem er die katholische und protestantische Orthodoxie zugleich angriff, schrieb ein französischer Flüchtling in Genf an seinen Verwandten in Lyon, es sei sehr unpassend, in Frankreich die Protestanten so sehr zu verfolgen, während man in Vienne einen Ketzer dulde, der verbrannt zu werden verdiente. Der Verwandte klagte nun Servet bei der Inquisition in Vienne an. Die Beweise schienen derselben aber noch nicht genügend, und sie ließ sich von dem erwähnten Flüchtling Briefe Servet’s senden, welche derselbe von Niemandem sonst erhalten hatte als von Calvin, der ja mit dem Unglücklichen correspondirt hatte. So wurde Letzterer überführt, konnte jedoch dem Kerker entfliehen, worauf sein Bild und seine Werke auf Befehl der Inquisition verbrannt wurden.

Der arglose Ketzer aber hatte sich aus der päpstlichen Charybdis nur gerettet, um in den Schlund der calvinistischen Scylla zu fallen. Unglücklicher Weise führte das Geschick das Opfer zweier Inquisitionen nach Genf. In dem vermeintlichen Asyle verfolgter Glaubensmärtyrer sollte das ungeheuerliche Schauspiel einer protestantischen Ketzerverbrennung aufgeführt werden! – – –

Der Großinquisitor von Genf war damals eben in heftigem Kampfe mit den verhaßten „Libertinern“ begriffen und schien nahe daran, ihnen zu unterliegen. Da galt es denn für den wankenden Glaubensdictator, sich durch eine entschiedene That zu retten, welche seine Gegner erschrecken und einschüchtern würde. Vollbrachte er in diesem Augenblicke nichts Außerordentliches, Niederschmetterndes, so stand seine zweite Verbannung vor der Thür und alle seine hochfliegenden Plane wurden zu Wasser. –

In dieser kritischen Lage hielt Calvin einst eine Predigt. Da erblickte er in einer Ecke der Kirche einen in einen Mantel gehüllten Fremden, unter dessen buschigen Brauen zwei blitzende Augen auf ihn gerichtet waren und jedes Wort, das von seinen Lippen kam, gierig aufzufangen schienen. Das Blut stockte ihm beinahe – vor freudiger Ueberraschung. Er ließ nichts merken und predigte mit kalter Ruhe zu Ende. Als er aber den Tempel verließ, sandte er sogleich seine Ergebenen aus und ließ den Flüchtling von sicherer Hand ergreifen. Da indessen die damaligen Gesetze die Verhaftung des Anklägers gleich dem Angeklagten forderten, um gegen eine falsche Anklage Bürgschaft zu besitzen, der Reformator aber nicht gern sitzen mochte, mußte sein Schreiber statt seiner die Anklage einreichen und das Gefängniß beziehen. Das inquisitorische Machwerk beschuldigte den Angeklagten, die Dreieinigkeit, die Gottheit Christi, die Unsterblichkeit und die Kindertaufe geleugnet zu haben. Da es Calvin so wollte, wurde die Anklage bald begründet gefunden, der scheinbare Ankläger entlassen, und der Inquisitor nahm seine Maske ab. Die nun von ihm selbst verfaßte Anklageschrift befaßte sich nicht mit Dogmatik, sondern warf sich darauf, daß Servet ein für Staat und Kirche gemeingefährlicher Mensch, ein Rebell und Friedensstörer sei. Die Person des Angeklagten mußte moralisch vernichtet und sein Gegner durch diesen geistigen Mord erhoben werden. Ja, Servet erhielt nicht einmal einen Vertheidiger, und seine Rechtfertigungen wurden nicht berücksichtigt. Dagegen benutzte Calvin seine Stellung, um von der Kanzel herab gegen den Feind zu donnern und ihn als Gotteslästerer zu kennzeichnen. Der Proceß erregte Aufsehen; die katholische Inquisition zu Vienne verlangte von Genf ihren Flüchtling heraus; aber er wurde ihr verweigert: die protestantische Inquisition wollte ihn selbst morden!

Die beiden theologischen Streiter bekämpften sich nun heftig in gegenseitigen Schriften, welches Recht die „Libertiner“ dem Angeklagten erwirkt hatten. Servet nannte Calvin einen elenden Magier und seine Anklage ein Hundegebell. Letzterer beschuldigte dagegen Ersteren der Absicht, „das Licht auszulöschen, das wir im Worte Gottes haben, um alle Religion abzuschaffen“ (die nämliche Sprache, welche noch heute die Fanatiker des „Glaubens“ führen). Da sich aber gegen den beabsichtigten Ketzermord immer noch viele Opposition erhob, schlug Calvin dieselbe durch Gutachten, welche er bei auswärtigen Theologen einholte und welche ihm beistimmten, vollends nieder, und am 26. October 1553 verurtheilten fünfzehn gegen fünf Stimmen (fünf Gegner Calvin’s waren abwesend) den Unglücklichen zu dem Tode, welchem in seinem Vaterlande Spanien damals alle Genfer ohne Ausnahme preisgegeben worden wären! Calvin hatte gesiegt und die Reformation war mit einem unauslöschlichen Brandmale befleckt.

Um sich den Schein des Mitleidens mit seinem Opfer zu geben, beantragte der Dictator die Vertauschung des Feuertodes mit – der Enthauptung. Servet, dem noch ein vergeblicher Hoffnungsstrahl auf Freisprechung geleuchtet hatte, soll sich bei Ankündigung des Urtheils verzagt benommen und um Gnade [28] geschrieen haben. Einen Widerruf lehnte er jedoch beharrlich ab. Am Tage nach dem Urtheil prasselten auf der Anhöhe Charpel bei Genf die Flammen, welche einen alleinstehenden Forscher verzehrten, um, wie die Menschenverbrenner wähnten, der Welt zu beweisen, daß Drei gleich Eins und Eins gleich Drei sei. –

Calvin hatte durch seine inquisitorische Unthat wenigstens das erreicht, in Genf ungestört bis an sein Lebensende herrschen zu können und in seiner Eigenschaft als Papst der an die Gnadenwahl Glaubenden keinen Widerspruch zu erfahren. Er erlebte den Triumph, daß die Nachfolger Luther’s und Zwingli’s, Melanchthon und Bullinger, ihm zur Beseitigung des Ketzers Glück wünschten. Dagegen verurtheilten dessen Verbrennung mit scharfen Worten die unabhängigen Theologen Castellio, Socinus, Celsus und de Thou. Der Erstgenannte war selbst um seinem Grundsätze willen von Calvin als Rector des Collegiums zu Genf vertrieben worden.

Ueber ganz Europa spannte Calvin seine Netze, um Seelen für sein Dogma zu gewinnen. Der Reformator Schottlands, John Knox, wurde sein Schüler und verpflanzte seine Grundsätze nach dem Norden Britanniens, wo die presbyterianische Kirche eine Tochter der calvinischen wurde. Daher die auffallende Aehnlichkeit in dem fanatischen Treiben der englischen Rundköpfe mit demjenigen der Anhänger Calvin’s in Genf. Zu Frankfurt am Main vermittelte Letzterer persönlich zwischen den wegen ihrer Liturgie uneinigen englischen und französischen Flüchtlingen. Dänemark und Schweden suchte er, jedoch umsonst, von Luther’s Seite auf die seinige herüberzuziehen. Er trat auch in Verbindung mit den protestantisch Gesinnten Polens, deren Bestrebungen aber nach seinem Tode vollständig scheiterten. Das Meiste indessen that er in Bezug auf Frankreich. Er war der Leiter und Berather der Hugenotten und legte den Grund zu allen ihren Erfolgen; aber sein eigentlicher Plan, in Frankreich mit seiner Lehre den Katholicismus zu schlagen, mißglückte. Seine Wirksamkeit – und das ist die eigentliche Nemesis seines Treibens – führte zu nichts, als zu einem dreißigjährigen Bürgerkrieg, und nachdem er, der Schuldige, ruhig in seinem Bette gestorben, wurden, acht Jahre später, seine unschuldigen Anhänger zu Paris in der Bartholomäusnacht von den Jesuitenknechten niedergemacht.

Heute kann sein ganzes Wirken als völlig erfolglos betrachtet werden. Schwerlich glaubt mehr Jemand im Ernste an seinen Wahn der Gnadenwahl; in seinem Genf haben die verschiedensten Ansichten, vom äußersten Radicalismus und Nihilismus bis zum infallibeln Ultramontanismus eines Mermillod, ihre Anhänger, und die von ihm zum Zwecke der Pflege seiner Dogmatik gestiftete Akademie ist eine gefeierte Schule der Wissenschaft und eine Stätte der freiesten Forschung geworden. Nur Eines fehlte bisher noch: die allgemeine Anerkennung, daß Calvin mit einem Torquemada, Ximenes und den übrigen spanischen Großinquisitoren auf eine Stufe gesetzt werden muß, und das verdient sein fanatischer Glaubenseifer sowohl, als seine Rücksichtslosigkeit in der Wahl der Mittel zum Zwecke – während sowohl seinem Charakter, als demjenigen der genannten Spanier die Gerechtigkeit schuldig ist zuzugeben, daß er, abgesehen von Glaubenssachen, ein reiner und nach Wahrheit strebender, aber auf falsche Bahnen gerathener war.
Dr. O. Henne-Am Rhyn.


  1. Die fünfhundert Genfergulden, welche er jährlich bezog, machen nach heutigem Gelde sechstausend Franken aus; dazu kam freie Wohnung nebst Mobiliar, freies Holz und vielerlei Lebensmittel, sowie Geschenke an Kleidungsstücken.