Ein praktisches Justizverfahren
[380] Ein praktisches Justizverfahren. Sir John Malcolm, einer der letzten Gouverneure von Bengalen, erzählt folgendes Beispiel indischer Justiz:
„Ich war auf dem Marsche von Compoulty nach Panwell, gegen Bombay zu, als ich einige Meilen von der Stadt eine kleine Schaar Bewaffneter einholte, die einen jungen Menschen mit gebundenen Händen in ihrer Mitte führten. Die Wächter gehörten dem Peischwah der Maharatten in Punah. Ich frug, wer der Gefangene sei und wohin sie ihn führten. Der Anführer sagte, daß sie ungefähr noch eine Meile bis zu einer gewissen Stelle gehen wollten, wo kürzlich ein Raubmord stattgefunden hatte; „und dort,“ fügte er hinzu, „werde ich dem Burschen da den Kopf abschlagen.“ – „Ist er der Mörder?“ frug ich ihn. „Nein,“ erwiderte der Anführer, „ich glaube gar nicht, daß er etwas von der Geschichte weiß. Er ist aber aus dem Lande der Siddih“ – dabei zeigte er nach einer nahegelegenen Gegend, die noch im Besitze der Nachkommen der früheren Admirale des Großmoguls war – „von woher, wie wir genau wissen, die Mörder kamen, und wir haben einmal für immer den Befehl, bei jedem derartigen Vorkommniß sogleich in ihr Land zu fallen und den ersten erwachsenen Mann, der uns in den Weg kommt, zu packen und hinzurichten. Auf diese Weise ist auch der junge Kerl da gestern gefangen worden und muß heute sterben.“ Als ich mein Staunen und Entsetzen über dies Verfahren kund gab, welches den Unschuldigen für den Schuldigen büßen läßt, meinte er, daß ihn das gar nichts angehe, er thue einfach nur, wie ihm befohlen sei. „Doch glaube ich wirklich, daß es ein sehr guter Plan sein muß,“ fuhr er fort, „denn erstens rührt er von Nanah Furnavese her, der ein überaus weiser Mann war; und dann bin ich alt genug, mich der Zeit zu erinnern, wo kein Jahr verging ohne zwanzig bis dreißig Räubereien und Mordthaten auf diesem Wege, und zwar sämmtlich durch Banden aus dem Siddihlande. Jetzt hingegen ist dergleichen eine große Seltenheit und wird nicht über vier oder fünf Mal vorgekommen sein in den zwölf bis fünfzehn Jahren, seit diese Methode eingeführt wurde.“ Wir hatten bald den zur Hinrichtung bestimmten Ort erreicht. Die Wächter machten Halt und zündeten ihre „Hubbelbubbels“ oder Pfeifen an. Dem Gefangenen wurden die Hände aufgebunden und auch er rauchte mit großer Gemüthsruhe seine Pfeife, wie er denn durchweg die gleichgültigste Ergebung in sein Schicksal zu erkennen gab. Als sie ihre Pfeifen ausgeraucht hatten, banden sie ihm die Hände wieder auf den Rücken, führten ihn einige Schritte abseits der Straße und hießen ihn niederknieen. Der Anführer, welcher neben ihm stand, packte mit beiden Händen ein gerades zweischneidiges Schwert und rief ihm zu: „Bück’ einmal den Kopf!“ Der junge Mensch that, wie verlangt; blitzend fuhr das Schwert herab und im Augenblick rollte der Kopf im Sande, während der Leib hoch aufsprang und zurückfiel. Nachdem sie hierauf den Leichnam zur Warnung für Andere mit den Füßen an einen Baum gehangen hatten, setzten sie sich wieder hin und schmauchten in tiefster Gewissensruhe ihre zweite Hubbelbubbel, worauf sie wieder nach der Stadt zurücktrabten.