Ein oberschlesischer Roman
[36] Ein oberschlesischer Roman. So kann man wohl den neuen Roman von Moritz von Reichenbach (bekanntlich das Pseudonym für Gräfin Bethusy-Huc) „Die Lazinski“ (Berlin, Otto Janke) bezeichnen; denn das ganze Lokalkolorit und die geistige Atmosphäre des Romans versetzt uns nach Oberschlesien. Ist doch der alte Lazinsky selbst, der Vater der beiden Töchter, welche die Heldinnen des Romans sind, ein verkommener Edelmann und Beamter der industriellen Etablissements, eine echt oberschlesische Figur; er hat sich zuletzt dem Trunk ergeben und geht daran zu Grunde, wie hundert Andere in jenen verräucherten Industrieorten. Es schwebt über dem Ganzen ein ähnlicher Kohlendunst wie über Zola’s Roman „Germinal“, der, unter der Erde spielend, voll abschreckender, häßlicher Scenen, aber vielleicht nicht ganz so verwerflich ist wie der neueste auf der Erde spielende „La Terre“, der als ein Gräuel von Geschmacklosigkeit und widerwärtigster Rohheit bezeichnet werden muß. Moritz von Reichenbach ist kein solcher Virtuose der Detailmalerei wie der mit jeder Art von Schmutzfarben malende Zola; aber sie weiß lebendig zu schildern und stimmungsvolle Bilder zu entwerfen.
Es handelt sich in dem Roman um die Arbeiterfrage, und auch die Geschicke der beiden Fräulein Lazinsky sind mit derselben eng verwebt. Die älteste, Sophie, bewegt sich auf Irrwegen; von einem Officier verführt, später Mitglied der Operettengesellschaft, wird sie durch ihren Bruder, einen Anhänger der extremen Richtungen, der Anarchisten und Nihilisten, in die Bahnen derselben gelenkt, arbeitet zuletzt in „Dynamit“, soll die Explosion eines neuerrichteten Etablissements ins Werk setzen und dabei die Chefs, ihre nächsten Verwandten, dem Tode weihen, zieht es aber vor, sich selbst zu opfern, indem sie vor der festgesetzten Stunde der festlichen Eröffnung zwar das neue Maschinenhaus in die Luft sprengt, während aber nur sie allein darin verweilt.
Die Schwester, Anna, heirathet einen Direktor der Gruben und Hüttenwerke und nimmt sich der armen Arbeiter in humaner und vernünftiger Weise an; sie gründet Volksküchen, Häuser, wo die Kinder der Arbeiter unter verständiger Leitung außer der Schule beschäftigt und beköstigt werden. Bei einem Sommeraufenthalte an der Riviera fliegt ein Schatten über ihr häusliches Glück: sie sieht dort eine Jugendliebe, den Grafen Max Blessen, wieder; doch sie erkennt den höhern Werth ihres Gatten und lebt dann, heimgekehrt, in befestigtem Glück: durch ihren Einfluß wendet sich auch Graf Blessen ernster Thätigkeit zu; denn wie ihr Gatte sagte: „Der Max Blessen, der keine andere Aufgabe hatte, als die, sich zu amüsiren, war eine antiquirte Nippesfigur und gehörte in die Glasservante der Vorzeit.“ – Aus der Kohlenatmosphäre Oberschlesiens führt uns der Roman bisweilen in die Reichshauptstadt und an die italienische Küste: doch die Hauptbegebenheiten spielen sich in jener Scenerie ab, welche der Verfasserin durch eigene Anschauung wohlbekannt ist.