Ein neues Bollwerk gegen die kirchliche Reaction der Gegenwart
[184] Ein neues Bollwerk gegen die kirchliche Reaction der Gegenwart verspricht das soeben in’s Leben getretene „Correspondenzblatt für kirchliche Reform“ zu werden, welches als Organ des schon früher (vergl. Jahrgang 1879, Nr. 35) von uns auszeichnend hervorgehobenen „Protestantischen Reformvereins“ zu Berlin sich die nicht genug anzuerkennende Aufgabe stellt, den Sinn für eine freiheitliche Entwickelung der christlichen Kirche zu wecken und zu pflegen und ein Band der Gemeinschaft für die freisinnigen kirchlichen Reformbestrebungen zu schaffen. Das Blatt wird, wie die Ankündigung sagt, die principiellen Fragen des religiösen und kirchlichen Lebens vom protestantischen Standpunkte aus in allgemein verständlicher Weise erörtern, .die wichtigsten Tagesereignisse, so weit sie auf die religiöse Frage Bezug haben, besprechen, über bedeutsamere Vorfälle aus dem Leben der protestantischen und anderer Kirchen berichten und Nachrichten aus der Reformpartei und den übrigen kirchlichen Richtungen bringen.
Ist das Erscheinen eines auf so echt freiheitlicher und gesunder Basis beruhenden Kampfblattes in unseren Tagen sich täglich steigernder hierarchischer Vergewaltigungen schon an und für sich ein hoffnungerweckendes Zeichen der Zeit, so tritt es in eine noch viel verheißungsvollere Bedeutung durch den Umstand, daß die Redaction des Blattes in keiner geringeren Hand liegt, als in derjenigen des durch sein wiederholtes mannhaftes Eintreten für die Sache der kirchlichen Freiheit bekannten Predigers Dr. Kalthoff in Steglitz bei Berlin. (Vergleiche unsern Artikel: „Die religiöse Ueberzeugung vor dem Kirchengericht“, (Jahrgang 1878, Nr. 19.)
Wir begleiten die Entwickelung des „Correspondenzblattes“ und des durch dasselbe vertretenen protestantischen Reformvereins mit den lebhaftesten Wünschen kräftigsten Gedeihens und beschränken uns zur Unterstützung der Idee, welcher das Blatt dient, für heute darauf, im Folgenden das daselbst abgedruckte Programm der kirchlichen Reformpartei (angenommen vom protestantischen Reformverein am Reformationsfeste 1880) hier wiederzugeben. Es lautet:
Die protestantische Reformpartei erstrebt den Ausbau der evangelischen Landeskirche im Geiste des protestantischen Christenthums. Sie leitet ihr Programm aus folgenden, innerhalb des freisinnigen Protestantismus allgemein anerkannten Grundsätzen ab:
I. Die protestantisch-unirte Kirche hat ihre höchste Norm an dem in den biblischen Schriften enthaltenen Evangelium Jesu und hat dasselbe zu immer reinerer und vollkommenerer Darstellung zu bringen. Da dieses Evangelium die Stellung des Menschen zu Gott lediglich von der Gesinnung abhängig macht, so steht jeder Versuch, äußere Cultushandlungen zum Gegenstände gesetzlicher Zwangsmaßregeln zu machen, mit dem Wesen des Evangeliums in Widerspruch.
II. Die protestantisch-unirte Kirche ist in ihrer Lehre weder an die Beschlüsse der katholischen Concilien, noch an einseitig-confessionelle Darstellungen der christlichen Religion als an unveränderliche Normen gebunden. Jeder Versuch, die Glaubenssätze früherer Jahrhunderte als unveränderliche Normen für alle Zeiten festzuhalten, lenkt deshalb unvermeidlicher Weise entweder in’s Lager des Katholicismus zurück oder muß zur Sprengung der Union und zur Sectenbildung führen.
III. In der protestantischen Kirche sind alle mündigen Glieder gleichberechtigt, unbeschadet der amtlichen Stellung, die sie in derselben einnehmen. Eine Kirchenverfassung, welche dem geistlichen Stande eine bevorrechtete Stellung in den kirchlichen Körperschaften gesetzlich zuerkennt, unter den Geistlichen selber hierarchische Rangunterschiede macht, oder welche eine Bevormundung der Gemeinden in ihren inneren religiösen Angelegenheiten durch Synoden und Behörden zuläßt, beruht deshalb auf unprotestantischer Grundlage. –
Hieraus ergeben sich unter den gegenwärtigen Zuständen der preußischen Landeskirche für unser Reformprogramm zunächst folgende Hauptforderungen:
1) Aufhebung des durch die Beschlüsse der Generalsynode vom Jahre 1879 eingeführten Tauf- und Trauzwanges.
2) Aufhebung des Bekenntnißzwanges für die Geistlichen und Verpflichtung derselben zur Verkündigung der christlichen Religion nach der Norm des Evangeliums Jesu und im Geiste der evangelisch-unirten Kirche.
3) Einführung von Parallelformularen für die Cultusacte, insbesondere solcher Formulare, welche aus der Liturgie die Anklänge an den katholischen Meßcanon entfernen und ermöglichen, daß bei der Liturgie und der Taufe die Verlesung des sogenannten apostolischen Glaubensbekenntnisses weggelassen, sowie daß der Abendmahlsfeier die historische Auffassung zu Grunde gelegt und die Beichthandlung freigegeben werden kann.
4) Unabhängigkeit der theologischen Facultäten von dem Einflüsse des Kirchenregiments.
5) Gleichstellung der evangelischen Landeskirche und der übrigen Religionsgemeinschaften den Landesgesetzen gegenüber.
6) Kräftigung der Einzelgemeinden gegenüber den centralisirenden Tendenzen kirchlicher Synoden und Behörden, insbesondere:
a. Verleihung des freien Pfarrwahlrechts an die Gemeinden,
b. Directe Wahlen der Gemeinden zu allen Synoden, unter Gleichstellung der Laien und der Geistlichen in Bezug auf die Wählbarkeit,
c. Gewährung des Rechts der freien Präsidentenwahl an die kirchlichen Organe und Synoden.
7) Befestigung des geistigen Bandes, welches die Einzelgemeinden auf der Grundlage der freien Selbstbestimmung zur christlichen Kirchengemeinschaft und zur gemeinsamen Förderung der sittlich-religiösen Aufgaben des Christenthums verbindet.
8) Aufhebung des kirchlichen Pfründewesens und Besoldung der Prediger nach einem für alle gleichmäßig festzusetzenden Maßstabe.