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Ein neuer Wunderdoktor

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Titel: Ein neuer Wunderdoktor
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 770
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[770] Ein neuer Wunderdoctor. Das in Thüringen gelegene, sehr bekannte und besuchte Oertchen R.[WS 1] hat schon einmal durch einen Wunderdoctor, der in seinen Mauern erstand, großen Zulauf und großen Ruhm gehabt; heute schreibt man der Gartenlaube von einem neuen – Beutelschneider, der dort sein Wesen treibt, und setzt uns zugleich in die erfreuliche Lage, das wunderthätige Recept mitzutheilen, welches der offenbar mehr im Gesangbuch als in der Heilkunst unterrichtete fromme Mann verschreibt. Der Brief, den die Gartenlaube d. d. M., 31. Octbr. 1869 erhalten, lautet mit Weglassung der einleitenden Worte folgendermaßen:

„… Der elfjährige Sohn meines Bruders litt im letzten Sommer und leidet noch jetzt an einer Halswirbelverrenkung. Da man das Leiden jedoch anfangs nicht erkannte und keine dasselbe veranlassende Ursache zu ergründen vermochte, so kam man auf die Vermuthung, das Uebel sei gichtischer Natur, und wurde in diesem Glauben bestärkt, als sich Symptome zeigten, welche darauf hinzuweisen schienen, und selbst ein Arzt sich jener Anschauung zuneigte. In dem Wahne nun, daß auch der gelehrteste und geschickteste Arzt nichts gegen die Gicht vermöge, sah sich die Familie meines Bruders nach einem ‚Wunderdoctor‘ um.

Dieser fand sich bald in dem nahegelegenen R. in der Person des dortigen Schultheißen. An ihn wurde trotz meines Protestirens ein Bote gesendet, der bald genug mit dem Recept, welches ich Ihnen hier beilege, zurückkam. In diesem selbst aber befanden sich drei zusammengeknitterte und wohl durchnähte Papierchen, jedes mit einem langen Zwirnsfaden versehen, um es der im Recept enthaltenen Vorschrift gemäß zu brauchen. Das Mittelchen kostete fünfzehn baare Silbergroschen, ohne den Botenlohn, und half natürlich – Nichts. Mündlich war noch dem Boten die Weisung mitgegeben worden, daß, wenn der Patient die im Recept vorgeschriebenen Worte und Gebete nicht selbst sprechen könne, sein Pathe zugegen sein und dies für ihn thun solle. Der Patient hat es glücklicherweise selbst fertig gebracht und, wie mir scheint, ist das dem elfjährigen Knaben zu verzeihen. Was soll man aber zu den Anderen, zu den Erwachsenen sagen, die einen solchen Firlefanz veranlaßten und glaubten? Deren Treiben sieht doch genau aus wie eine reine Verirrung des Verstandes und wie eine wahre Gotteslästerung F. W.“     

Das Recept, von welchem in dem Briefe die Rede ist, lautet wörtlich:

Auf den Freitag früh sieben Uhr nimmt der Patient einen Zettel in die Hände und verrichtet folgende Gebete:

1) die drei Artikel des christlichen Glaubens (Was ist das? nicht);

2) das Vaterunser, nicht Amen;

3) die drei Artikel, nicht Amen;

4) das Vaterunser, nicht Amen;

5) die drei Artikel, nicht Amen;

6) das Vaterunser; bei diesem wird Amen gesagt; aber bei den fünf ersten Gebeten wird nicht Amen gesagt.

Wenn das so geschehen ist, wird der Zettel um den Hals gehangen, auf den bloßen Leib und so, daß der Zettel auf die linke Seite zu liegen kommt. Der erste bleibt liegen bis auf den Dienstag früh halb acht Uhr. Da wird der herunter genommen, und der Faden darum hergewickelt, aber das Ende vom Faden nicht untergesteckt, und hinverscharrt, wo Rasen ist. Sogleich wenn das geschehen ist, wird der zweite genommen, und die Gebete wieder so verrichtet. Wenn Amen gesagt ist, wird der auch so angehangen. Dieser bleibt liegen bis auf den Freitag früh acht Uhr. Da wird der herunter genommen, und so verscharrt. Und der letzte genommen, und die Gebete nochmals so verrichtet. Wenn Amen gesagt ist, wird der auch so angehangen. Dieser bleibt liegen bis auf den Dienstag früh halb neun Uhr. Da wird der herunter genommen und auch so verscharrt. Aber jeder Zettel in ein ander Loch. Auch muß der Patient 2 Sgr. einem Armen vor Anfang der Cur geben.

      R., den 8ten Juli 1869.

Ihr ergebenster G. C. G–e,     
Schultheiß. 



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Sehr wahrscheinlich ist Ruhla gemeint, siehe der Artikel: Ein thüringischer Wunderdoctor des vorigen Jahrhunderts.