Ein neuer Cotta’scher Musen-Almanach
[835] Ein neuer Cotta’scher Musen-Almanach. Wer würde nicht freudig einen solchen Urenkel jenes Schillerschen Musen-Almanachs begrüßen, der einst in demselben Verlage das Licht der Welt erblickt hat? Und da liegt er vor uns, der Cotta’sche Musen-Almanach für das Jahr 1891, herausgegeben von Otto Braun (Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger), in elegantem Einband, mit sechs Kunstbeilagen, und fast alle namhaften Dichter Deutschlands haben dazu beigesteuert, und die wenigen, die hier fehlen, werden gewiß in den nächsten Jahrgängen nicht vermißt werden. In einem geschmackvolleren, mit schöneren Ahnenbildern geschmückten Salon konnten sich unsere neueren Poeten kein Stelldichein geben: die Erinnerung an Schillers Genius, an die großen Sänger unseres klassischen Zeitalters schwebt ja mit einer gewissen Verklärung über dem netten Unternehmen.
Die Sammlung beginnt mit Prosadichtungen: Georg Ebers erzählt uns in seinem „Probierstein“ diesmal nichts aus dem alten Pyramidenland, sondern eine kleine schalkhafte Geschichte aus unseren neuesten Salons. Einen schlichten Herzensroman schildert P. K. Rosegger in seiner frisch zugreifenden Weise. „Lieb’ läßt sich nicht lumpen“ heißt der Titel der kleinen Erzählung. „Wassertropfen“ von Richard Weitbrecht, lyrische Natur- und Stimmungsbilder in Prosa, schließen sich an.
Dann sehen wir in der Blumenausstellung dieser Gedichtsammlung verschiedene Gruppen, alle viel des Schönfarbigen und Duftigen enthaltend; wir können hier nur einzelne Blüthen aus dieser Blumenfülle herausgreifen. Unter den „poetischen Erzählungen und Balladen“ tritt uns eine Art schwankartiger Legende von Otto Roquette, „Ein Teufel auf Urlaub“, entgegen; sie schildert uns, wie ein Teufelchen auf der Erde lernen will, was Liebe ist, und dazu Urlaub erhält, und welche Abenteuer es, als Student verkleidet, auf seiner Erdenfahrt erlebt. Im Gegensatz zu diesem mehr leichtgeschürzten Gedicht steht das Idyll „Der verlorene Sohn“ von Ernst Ziel. Eine knapp gehaltene Ballade aus der Hohenstaufenzeit ist „Konradins Knappe“ von Conrad Ferdinand Meyer; ebenfalls in frischem Balladenton ist „Der Kaisersohn“ von Martin Greif gehalten. „Kaiser Max“ von Albert Möser hat leidenschaftlichen Pulsschlag.
Der Abschnitt „Gedichte verschiedenen Inhalts“ beginnt mit einem größeren Gedichte von Felix Dahn, „Friede und Kampf“, welches in einer Reihe von Bildern den in der Natur herrschenden Kampf vorführt: Thiere und Pflanzen, selbst Felsen und Gesteine und auch die Sterne am Himmel sind im Kampf begriffen, nirgends ist Friede. Da ruft der Dichter am Schluß:
„Wohlan denn! Kämpf’ auch du bis an das Ende.
Du bist ein Mann, so sei ein Held und lerne:
Das, was du suchtest, ist dem Weltall fremd;
Der Friede ist des Menschen Traum und Wahn,
Das Wesen und Gesetz der Welt ist Kampf:
Ob feig, ob tapfer, kämpfen mußt du doch!
So kämpfe – sonder Klage – bis du stirbst.
Und dann: stirb stumm und stolz auf deinem Schild!“
„Ein steinerner Gast“ ist ein Zwiegespräch mit einem Buddhabild, wie es Wilhelm Jensens phantastische Muse uns vorplaudert. Schön und schwunghaft ist das Gedicht von Isolde Kurz „In Bagamoyo“; Karl Woermann singt uns ein Lied vom römischen Kolosseum; sehr stimmungsvoll ist die Weihnachtsidylle von Heinrich Vierordt, sinnig der Gegensatz zwischen dem Kaiser und seinen Sklaven in dem Gedicht „Hadrian in Tivoli“ von Adolf Stern, schwunghaft das Sturmbild aus Sicilien „Scirocco-Vision“ von Ferdinand Avenarius, trostreich das Zukunftsbild „Alle“ von Conrad Ferdinand Meyer.
Unter dem Strauße der lyrischen Gedichte finden sich anmuthige Blüthen: „Gedichte vom Bodensee“ von Hermann Lingg, „Am Brunnen“ von Ernst Eckstein, das schwerwuchtige „Nachtlied“ von Wilhelm Jordan, „Frühlingsfahrt“ von Adolf Wilbrandt, in welchem Gedicht Natur- und Genrebild verschmelzen, Gedichte von Wilhelm Hertz, Julius Rodenberg, Max Kalbeck, der formenschöne Sonette beigesteuert hat, sinnvolle, etwas herbe und spröde Nordlandslyrik von Georg von Oertzen. Außerdem sind Heinrich Bulthaupt mit einem kleinen, in verschiedenen kunstvoll beherrschten Strophenformen sich abspielenden Gedichtcyklus, „Orpheus“, Arthur Fitger mit einem odenartigen Gedicht, „An die Hoffnung“, Albert Möser mit einem ähnlichen, „An das Alter“, Hans Hoffmann, Carl Hecker, Ludwig Schneegans u. a. mit stimmungsvollen Liedern vertreten. Dann folgen noch Fabeln, Sprüche und Sinngedichte; in dieser Gruppe befinden sich Friedrich Bodenstedt, Adolf Pichler, Wilhelm Hertz, Ludwig Fulda, Georg Scherer.
Viel bringt der neue Musen-Almanach und wohl allen etwas. Künstler, wie W. Kray, Chr. Kröner, G. von Hößlin, F. A. von Kaulbach, R. Geiger und H. Lossow haben ihn mit trefflichen Bildern aus der alten und neuen Welt und aus dem stets unwandelbaren Leben der Natur ausgeschmückt, und so wird er für den Weihnachtstisch die willkommenste Gabe sein. †