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Ein gefährliches Abenteuer

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Ein gefährliches Abenteuer
Untertitel:
aus: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft/Woche 8, S.4–6
Herausgeber:
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Georg E. Nagel in Berlin-Schöneberg
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Erscheinungsort: Lienz
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Die Erzählung erschien in einer anderen Abfassung als Novelle bereits 1910 unter dem Titel Im Kugelregen in: Reclams Universum. Moderne Illustrierte Wochenschrift, 26. Jahrgang 1910, S. 1185–1189 und für die Jugend überarbeitet 1914 unter dem Titel Ein Strandspaziergang mit Lebensgefahr in: Die Burg. Illustrierte Zeitschrift für die studierende Jugend, 2. Jahrgang, S. 449–452.
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Ein gefährliches Abenteuer.
Ein Erlebnis von Walther Kabel.

Jahre sind es her. Und doch lebt jener Sommervormittag noch mit erschreckender Deutlichkeit in meiner Erinnerung. Oft schon habe ich unsere damaligen Erlebnisse zu Papier bringen wollen, aber immer vergaß ich es über wichtigeren Arbeiten. Da fiel mir heute mein Tagebuch aus dem vorigen Frühjahr in die Hände, das ich während meiner ersten Offiziersübung auf dem Schießplatz X. geführt habe. In diesem Heftchen steht unter dem 5. Mai vermerkt: „Heute nachmittag fanden Artilleristen, die nach einem Scharfschießen nach nicht krepierten Geschossen suchten, in einer Schonung die Leichen zweier Frauen, von mehreren Infanteriegeschossen durchbohrt. Die Frauen haben trotz des strengen Verbots auf dem Gelände des Schießplatzes Holz gesammelt und sind dabei in die Feuerlinie eine scharfschießenden Infanteriekompagnie geraten.“ – Diese kurze Nachricht rief mir mein eigenes, ähnliches Erlebnis ins Gedächtnis zurück. –

An einem der ersten Julitage des Jahres 1902 war ich mit meinem Couleurbruder Erich Kiesel gegen 8 Uhr morgens von Danzig aufgebrochen, um zunächst nach dem kleinen, an der Danziger Bucht gelegenen Badeorte Brösen zu wandern und dann weiter am Strande entlang nach Zoppot, wo wir einen Bekannten besuchen wollten. In Brösen angekommen, bogen wir sofort links ab, umgingen das kleine Fischerdorf und verfolgten dann weiter unsern Weg in lebhaftestem Gespräch.

Es war ein völlig windstiller Tag. Die See lag wie ein Spiegel da, und nur hin und wieder rauschte eine Brandungswelle gegen das sandige Ufer. Die drückende Hitze, die sich über dem leuchtenden Strande noch fühlbarer machte, konnte uns jedoch die gute Laune nicht verderben. Wir freuten uns über das anziehende, abwechslungsreiche Panorama, das die Danziger Bucht mit ihren hellen Dünen und dem dunklen Hintergrunde der Olivaer und Zoppoter Wälder bietet, über die aus dem Grün und Weiß hervortauchenden Häuser von Glettkau und Zoppot, die wie ein Kinderspielzeug in die Landschaft eingestreut waren. Einige hundert Meter vor uns ging eine größere Gesellschaft Herren und Damen, die wohl ebenfalls Zoppot als Ziel zustrebte. Sonst war weit und breit kein lebendes Wesen zu sehen. Nur einige Krähen flatterten am Strande hin und her und suchten nach toten Fischen, die das Meer ausgeworfen hatte.

Wir mochten ungefähr zehn Minuten gewandert sein, als mein Freund mich plötzlich auf einen Husaren aufmerksam machte, der aus einem sich am Strande entlang ziehenden Gehölz heraussprengte, dann bei den Spaziergängern vor uns Halt machte und unter lebhaftem Schwenken seiner Lanze auf sie einredete, wobei er öfters auf eine große rote Flagge wies, die in den Dünen an einer hohen Stange wehte.

Doch unbekümmert setzten wir unsern Weg fort, winkten auch dem Husaren, der uns einige Worte zurief und landeinwärts deutete, übermütig mit unseren Hüten zu und fanden ebensowenig etwas auffälliges daran, daß die Gesellschaft vor uns plötzlich den Strand verließ und in dem Gehölz verschwand, begleitet von dem [5] Reitersmann, der sich nochmals auf seinem Grauschimmel umdrehte und mit der Hand in der Luft herumfuchtelte. Was er eigentlich von uns wollte, ahnten wir beiden nicht. Und daß die Spaziergänger so plötzlich vom Ufer abgebogen waren, erklärten wir uns einfach damit, daß ihnen der Marsch durch den lockeren Seesand bei der drückenden Hitze zu beschwerlich geworden war. Der roten Flagge schenkten wir überhaupt keine Beachtung.

Wie schwer sich unsere Gedankenlosigkeit rächen sollte, mußten wir sehr bald einsehen.

Vor uns dehnte sich jetzt ein langer, flacher Uferstreifen aus, der uns einen Ausblick bis auf die gelblichen Sandhügel des großen, bei Saspe gelegenen Exerzierplatzes der Danziger Garnison gestattete. Keine Düne, kein Hügel verdeckte hier die Aussicht in das Binnenland. Während wir behaglich dahinschlenderten, hörten wir mit einem Male über uns in der Luft seltsame, singende Töne, die wir zuerst für Mövenschreie hielten. Aber nirgends war ein Vogel zu erblicken, nirgends ein lebendes Wesen. Selbst die unbeholfen umherhüpfenden Krähen waren verschwunden. …

Und jetzt immer häufiger über uns dieser singende, scharfe laut, immer häufiger. Ratlos sehen wir uns noch um … Und dann zeigt mein Freund, dem plötzlich jede Spur von Farbe aus dem Gesicht gewichen ist, auf das Ufer, auf die See hinaus. Seine Hand zittert, er will etwas sagen, stottert aber nur, schaut halb irren Blickes um sich … Jetzt erst bemerke ich, daß um uns herum der weiße Seesand in Kaskaden aufspritzt, hier ein Wölkchen, dort – überall. Und ebenso sprüht’s im Wasser dicht am Ufer in hohen Tropfenfontänen mit zischendem Geräusch, als ob man glühende Eisen hineinstößt. Über uns wird das unheimliche Pfeifen immer lebendiger … Mir rinnt es eisig kalt über den Rücken. Ich habe begriffen, weiß, warum Erich Kiesel sich jetzt hinwirft und vorsichtig in dem geringen Schutz des ein wenig unterspülten Ufers vorwärtszukriechen[1] beginnt. Ich folge seinem Beispiel … Und während unsere Kleider im Wasser schleppen, während der kalte Angstschweiß uns auf die Stirn tritt und um uns her das singende Pfeifen und das Aufzischen des Wassers die Luft erfüllt, schieben wir uns vorwärts, Schritt für Schritt … im Kugelregen.

Denn jetzt habe ich alles verstanden, alles! Der Husar, die rote Fahne …, – wie konnten wir als alte Danziger uns nur nicht daran erinnern! Stand’s doch so und so oft im Jahre in den Zeitungen, daß an dem und dem Tage vom Exerzierplatze aus Scharfschießen nach der See abgehalten und das gefährdete Gelände durch rote Fahnen kenntlich gemacht und durch Posten abgesperrt würde …! Und fraglos hatte der Husar unser Winken mit dem Hute dahin gedeutet, daß wir seine Warnung verstanden hätten. – Sicherlich war er nur deswegen, ohne sich weiter um uns zu kümmern, mit den andern Spaziergängern in das Gehölz eingebogen …! –

Stumm kriechen wir vorwärts … die Minuten werden zu Stunden. Und die Gedanken eilen; wie ersinnen alles Mögliche, nur um uns über das Gefährliche [6] unserer Lage hinwegzutäuschen. Woran ich damals gedacht habe? Ob an sterben …? Ich weiß es nicht, weiß nur noch, daß ich mir ganz stumpfsinnig immer denselben Satz wiederholte: „Du darfst hier nicht erschossen werden, das wäre zu jammervoll, von den eigenen Landsleuten niedergeknallt zu werden …“ – Und dann irrten die Augen wieder Rettung suchend im Kreise umher. Ja, da vor uns lag eine Düne … Wenn wir nur erst dort wären …! Aber noch 300 Meter sind bis dahin. Und im Sande, im Wasser auf der noch zurückzulegenden Strecke überall die verhängnisvollen Wölkchen – aufspritzender Sand, sprühende Wassertropfen … Weiter, nur weiter … Und keuchend, halb in die auslaufenden kleinen Wellen hineingeduckt, mit jagendem Herzen, alle Sinne bis zum äußersten gespannt, schieben wir uns wie die Schlangen vor. Einmal hat mein Freund laut aufgeschrieen. Schon glaubte ich ihn getroffen; aber ein dicht vor ihm einschlagendes Geschoß hatte ihm nur den feuchten Sand ins Gesicht geschleudert …

Endlich, endlich sind wir auf einer Höhe mit der Düne. Nun gilt’s nur noch den Sandstreifen glücklich zu passieren, dann sind wir gerettet. Und auch das gelingt uns. Atemlos, wortlos ins Weite starrend, liegen wir dann hinter dem schützenden Wall. Aus unseren Kleidern rinnt das Wasser in kleinen Bächen heraus, unsere Wäsche ist völlig durchweicht … Was kümmert es uns! Wir sind ja gerettet – gerettet! Und mit diesem Bewußtsein kommt auch wieder die Ruhe über uns und eine erschlaffende Müdigkeit, gegen die wir vergeblich ankämpfen. Nach der furchtbaren Nervenanspannung verlangt der Körper nach Ergänzung der verschwendeten Kräfte, nach Schlaf. Und wir haben auch geschlafen – fest, traumlos, wohl drei Stunden lang.

Als wir erwachten, war das erste was wir sahen, ein Fischer, der in hohen Wasserstiefeln am Ufer entlang watete und mit dem Schiebenetz Krabben fing … Also war die Gefahr vorüber, das Schießen wohl längst eingestellt.

In Zoppot angekommen, haben wir dann eine Mahlzeit eingenommen, die uns besonders gut mundete. Aber von unserem Abenteuer erzählten wir niemand etwas. Erst nach Jahren gab ich es einmal am Stammtisch zum besten. Und da sagte der alte Major a. D. v. Kr…… hinterher kopfnickend: „Ja, ja, meine Herren – immer hübsch die Augen offen halten, und nicht so in der Welt herumdösen! Dann kann einem so was nicht passieren …!“

Das „Herumdösen“ aber ging auf Freund Kiesel und mich. Ich quittierte höflich mit einem kräftigen Zutrunk. Dann erzählte der Major eine ähnliche Geschichte. Die schmeckte aber sehr nach Jägerlatein, während mein Erlebnis tatsächlich Wort für Wort der Wahrheit entspricht.


Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: vorwärtszukriegen