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Ein flüchtiger Sonnenstrahl

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Titel: Ein flüchtiger Sonnenstrahl
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 440–443
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[440]
Aus der Mappe der Tante Doris.
1. Ein flüchtiger Sonnenstrahl.


Meine Vaterstadt ist eine Seestadt; sie liegt nicht unmittelbar am Meere, sondern etwa eine Stunde davon, aber ein Flüßchen verbindet sie mit der Rhede, und kleinere Schiffe kommen bis an die Stadt. Das Land umher ist eine gesegnete Scholle, die von tüchtigen Landwirthen kunstgerecht bestellt wird. Von größeren Städten liegt sie ziemlich fernab, und erst spät in neuerer Zeit ist sie durch eine Eisenbahn mit der großen Welt von der Landseite in Verbindung getreten. So trug sie den gemischten Charakter einer See- und Landstadt. Landwirthe, Schiffer und Kaufleute bildeten den Stamm der Bevölkerung, und jeder dieser Stände hatte seinen Stempel in irgend einer Weise der Stadt aufgedrückt. Am schärfsten und [441] am meisten in die Augen fallend war aber der Kaufmannsstand, wenigstens in der Physiognomie der Baulichkeiten, ausgeprägt. Fast in jeder Straße gab es ein großes Kaufmannshaus, mit dem Giebel nach der Straße, im Stile der alten Hansestädte.

Ein solches Haus stand auch in der Knopfstraße; es war das einzige dieser Art darin und darum desto auffälliger. Schon als kleines Mädchen betrachtete ich das alte düstere Haus mit Scheu und Interesse. Die schmale Giebelfront zeigte vier Fenster und eine eichene Hausthür mit messingenen Klopfern in Form eines Rosses. Zwei alte Linden, welche alljährlich scharf beschnitten wurden, um die Zimmer nicht ganz zu verdunkeln, beschatteten die Fenster und die steinernen Ruhesitze, welche von der Hausthür bis zu den Lindenstämmen hinliefen. Ein langer Seitenflügel mit sechs bis acht hochgelegenen Fenstern nach der Fährstraße zu wurde von der Morgensonne beschienen. Wie schön blüheten an den beiden ersten dieser Fenster, welche nach der Ecke zu lagen, zu jeder Jahreszeit die herrlichsten Rosen, während hinter den anderen erblindeten Fenstern nur hohe Repositorien, mit Büchern angefüllt, sichtbar waren!

Das Haus gehörte dem Buchhändler Ritius, einem alten hageren Manne von stets tadelloser Toilette, mit glattrasirtem Kinn, weißer Halsbinde und kurzgeschorenem gepudertem Haar, welcher alten Mode er und einige andere hochbejahrte Herren der Stadt noch treu geblieben waren. Selten, vielleicht ein Mal im Jahre, sah man ihn ausgehen. Ein Garten, hinter dem Hause gelegen, diente zu seinen Spaziergängen, die er früh Morgens und spät Abends unternahm. Sonst saß er den ganzen Tag in dem einen Zimmer nach der Hauptstraße an einem Schreibtische, über welchen hinweg er durch ein kleines Fenster nach dem Hausflur jeden in den Buchladen Eintretenden bemerken konnte. Der Buchladen wurde von einem ebenso alten Herrn versehen, der schon seit der Gründung des Geschäfts die Kunden bediente. Nur wenige von diesen hatten den Vorzug, von Herrn Ritius selber nach ihrem Begehr gefragt zu werden, noch seltener kam er hinter seinem Schreibtische hervor.

Von meinem elften Jahre an ging ich täglich an dem Ritius’schen Hause vorbei, bald die eine, bald die andere Straße durchkreuzend, zu der nicht weit davon gelegenen Schule. Alle Schulbücher, welche ich brauchte, besorgte ich mir aus dem Buchladen des Herrn Ritius, und oft bekam ich von meinem Vater Bestellungen für Bücher, welche derselbe für seinen ausgebreiteten Wirkungskreis bedurfte. An heißen Sommertagen ruhte ich gern auf den kühlen Steinsitzen unter den schattigen Linden aus; wenn dieselben blühten und ihren wundervollen feinen Duft ausströmten, wünschte ich oft, dort sitzen bleiben zu können, und empfand nachher den Dunst der Bücherstube um so unangenehmer. Fast jedesmal, wenn ich den dunkeln Hausflur betrat, öffnete Herr Ritius das Fenster, um zu fragen, was ich begehre, und kam dann meistens aus seinem Zimmer, mir das Gewünschte selber zu geben oder auszusuchen, und bald war ich sein Liebling, mit dem er gern ein Viertelstündchen plauderte. Er ging auch wohl auf meine Bitte mit mir vor die Thür in den Schatten der Linden. Wie hübsch wußte der alte Mann auf das harmlose Geplauder des kleinen schwarzlockigen Mädchens einzugehen, das neugierig nach Allem fragte, was ihm hier sonderbar und abweichend erschien! Gewiß habe ich in dem Herzen des alten Mannes oft schmerzliche Saiten berührt, die vielleicht lange nachklangen, doch hinderte ihn dies nicht, mich jedesmal freundlich zu begrüßen, wenn ich wiederkam.

„Warum hast Du keine Frau, Onkel Ritius?“ fragte ich ihn einmal, „und keine Kinder? Dein Haus ist ja groß genug, viel zu groß für Dich und Herrn Schröder. Du kannst glauben, Deine Frau würde Alles hübsch hell und sauber machen, die Fensterscheiben von der alten Trine putzen lassen und weiße Gardinen vor die Fenster hängen – aber was ist Dir, Onkel Ritius? Ich glaube, Du weinst. O, sei mir nicht böse! Sie sind Dir wohl gestorben?“ fragte ich mit richtigem Verständnisse für die Ursache seiner Trauer.

„Jawohl, mein Kind, sie sind mir gestorben. Alles, was ich liebte, ist todt, in wenigen Wochen von schwerer Krankheit dahingerafft.“

„O, nun verstehe ich, warum Dein Haus so öde, so traurig aussieht; nicht einmal zu Pfingsten schmückst Du es mit Maien.“

„Zu Pfingsten schmücke ich stets die Gräber meiner Lieben, und dies ist mein einziger Ausgang im ganzen langen Jahre,“ sagte mit tiefem Seufzer mein alter Freund, „und jedesmal lege ich dann die Rosen, welche Du im Eckzimmer hast blühen sehen, so viel deren da sind, auf die stillen Hügel. Meine Frau liebte sie so sehr, die Rosen, besonders die weißen Theerosen.“

„O, ich liebe sie auch, alle Rosen, alle Blumen.“

„Mögest Du immer nur Freude daran haben und nicht wie ich mit Wehmuth jede neue Knospe sich erschließen sehen! Gott erhalte Dir den fröhlichen Sinn, mein liebes Kind! Du wirst gewiß manche Rose brechen, um Dich zu heitern Festen damit zu schmücken, und wenn Dir einmal solche im frischen Kranze fehlen sollten, so weißt Du, Onkel Ritius hat für seinen Liebling immer einige übrig – wenn es nur nicht zu Pfingsten ist.“

Der alte Herr war immer mild, auch in seiner Trauer noch wohlwollend gegen mich gestimmt. So waren allmählich drei Jahre dahin gegangen, für mich weniger bemerkbar, da ich nach beinahe zurückgelegtem vierzehnten Jahre, noch zart und behende am Körperbaue, dasselbe bald wilde, bald sinnige Kind geblieben war. Die Schularbeiten häuften sich; dazu kamen Musikstunden, und zu meinem Bedauern konnte ich meinen mir so lieb gewordenen Verkehr mit Herrn Ritius nur selten pflegen. Da, einmal nach Pfingsten, sah ich, daß zwei Fenster der Seitenfront geöffnet waren, blank geputzt und Vorhänge davor, die dem Hause sofort einen wohnlichen Charakter aufprägten. Die Repositorien waren entfernt. Die Ballen Bücher hatten ein Zimmer weiter Platz gefunden.

Was war nur das? Das mußte ich wissen. Ich hatte ja einige Musikstücke umzutauschen, und da am Sonnabend Nachmittag keine Schule und mein Musiklehrer erkrankt war, konnte ich ja ein Stündchen meinem alten Freunde zu Liebe verplaudern. Ich glaube gar, ich war neugierig. Kaum hatte die Glocke der Hausthür beim Oeffnen derselben ihren Ton erschallen lassen, da stand Herr Ritius schon von seinem Schreibtische auf; er hatte mich erkannt, und mit einem wirklich sonnigen Gesichte begrüßte er mich, indem er mir die schwere Notenmappe aus der Hand nahm.

Noch ehe ich mich zu einer Frage entschloß und wir Beide den Buchladen betraten, kam auf des alten Herrn Ruf „Arnold!“ ein Jüngling aus dem Nebenzimmer. Der von spärlichem Tageslichte beleuchtete Raum, der durch die alten Linden noch mehr verfinstert wurde und zu seinem steten Bewohner, dem alten Schröder, so gut paßte, schien sich plötzlich zu erhellen. Dieses frische Gesicht mit einem Paar lebendiger Augen, umwallt von blondem Lockenhaare, war mir ganz fremd; das hatte ich noch nicht in meiner Vaterstadt gesehen, wo sich doch sonst alle Leute kannten.

„Komm her, mein Junge, begrüße meine kleine Freundin, die mich oft bedauert, daß ich so allein in der Welt stehe! Ja, ja, mein Töchterchen, das ist eine Ueberraschung! Und auch Du bist gewiß davon überrascht – das sehe ich, denn Du kleines Plappermäulchen hast ja gar keinen Willkomm für meinen Neffen Arnold, den ich als Sohn in mein Haus genommen, und der mir wieder den Anfang einer Familie bilden soll.“

„Sie haben mir ja gar nichts davon gesagt, Herr Ritius; ich war zwar lange nicht hier, aber heute sah ich –“

„Was sahst Du?“ fragte er, indem er mein Kinn in die Höhe hob, und ich fühlte, vor Verlegenheit wie mit Blut übergossen, daß ich meine Neugierde verrathen hatte.

„Daß zwei Fenster nach der Fährstraße so hübsch von außen aussehen.“

„Ja, ja, das hat sie gleich mit ihren Mädchenaugen erspäht. Nun, siehst Du, da wieder ein Sonnenstrahl in mein altes Haus eingekehrt ist, der hoffentlich auch mein altes Herz wieder erwärmen und jung machen wird, da muß Alles in schöner Harmonie sein, wie in der Musik, die Du so sehr liebst. Und nun laß’ es Dir angelegen sein, Arnold, dem kleinen Fräulein immer recht hübsche passende Musikstücke auszusuchen! Du verstehst es besser als ich und Schröder.“

Und der junge Lehrling suchte mir Noten aus, und wir plauderten dabei. Aber es schien mir, als ob er zum Aussuchen viel mehr Zeit gebrauchte, als Herr Ritius und Herr [442] Schröder es thaten, und ich schob es auf die Unbekanntschaft mit dem vorhandenen Vorrath in den Repositorien.

Dann ging ich langsam nach Hause. „Also das,“ sagte ich unterwegs sinnend zu mir selbst, „also das ist ein Sonnenstrahl.“




Der junge Arnold war bald der Liebling Aller, welche den Buchladen des Herrn Ritius besuchten. Man sah nicht mehr die düstere Lage des Zimmers, nicht die altmodische Kleidung des alten Buchhalters. Jedermanns Auge ruhte mit Wohlgefallen auf dem freundlichen jungen Manne in altdeutscher, kleidsamer Tracht, im schwarzen, mit Schnüren besetzten Sammetrocke; schien er doch durch sein goldiges Haar und sein liebenswürdiges Wesen den ganzen Raum zu erleuchten. So ist es mir in späteren Jahren erschienen und vor die Seele getreten; damals empfand ich nur den Zauber des wohlklingenden Organs und den Blick des freundlichen sprechenden Auges. Das mußten auch wohl die meisten meiner Schulgefährtinnen finden; wenn sie sonst nicht gern dort verkehrt hatten, weil Herr Schröder so wortkarg war, so war bald keine einzige, welche den Herrn Arnold nicht gekannt und sein Loblied nicht gesungen hätte.

Nun war er schon drei Viertel Jahr in unseren Mauern. Ein harter Winter, wie wir deren an der nordischen Seeküste kennen, brachte die Freuden der Schlittenbahn über Land und auf dem Eise. Wir wohnten ganz nahe am Flusse, welcher sich eine halbe Meile von der Stadt bis zum Ausflusse in’s Meer erstreckt und die schönste Eisbahn bietet.

An einem klaren schönen Wintertage – es war Sonntag, und meine Eltern waren zur Kirche gegangen – kam der junge Arnold zu uns, um dem Vater eine Bestellung von Herrn Ritius zu überbringen und gleichzeitig an mich die Bitte zu richten, mit ihm auf’s Eis zu gehen, um entweder mit ihm Schlittschuh zu laufen, oder mich von ihm im Schlitten über die Eisfläche schieben zu lassen. Ein Paar nagelneuer Schlittschuhe hingen an seinem Arme, ein Geschenk des Onkels, wie er mir erzählte.

„Wie gern würde ich mit Ihnen Schlittschuh laufen! Es ist heute so wunderschönes Wetter, und gewiß so lustig auf dem Eise, doch geht es leider nicht an. In Abwesenheit der Eltern muß ich das Haus, die kleineren Geschwister und die Dienstboten überwachen, auch nach dem Mittagsessen sehen,“ sagte ich mit Selbstbewußtsein, „und dieses Schwesterchen hier geht nicht von meiner Seite, so lange Mama fort ist. Ja, es ist recht schade – es ist so herrliche Eisbahn.“

Arnold ließ betrübt den Kopf hängen und sagte, daß der Onkel ihn dazu besonders ermuthigt habe.

Eine Rolle, welche er in der Hand hielt, überreichte er mir mit dem Bemerken, es seien die gewünschten Variationen über das Thema „Die letzte Rose“. Freudig ergriff ich die Rolle; indem ich sie auseinander faltete, entfiel ihr eine herrliche weiße Theerose, welche Arnold aufhob und sie mir mit dem Bemerken übergab, daß der Onkel ihm gesagt, ich hätte diese Rosen so gern, und ihm erlaubt habe, dieselbe für mich abzuschneiden.

„O, ich danke Ihnen für diese Aufmerksamkeit. Wie wunderschön ist diese Rose mitten im Winter erblüht!“

„Ich sehe, Sie haben auch schon eine halb erblühte dort am Fenster, so frisch und roth. Es ist wohl eine Monatsrose?“ bemerkte er, sie betrachtend.

„Jawohl,“ erwiderte ich, „ich habe fast das ganze Jahr hindurch frische Rosen. Diese da wird in höchstens einer Stunde ganz aufgeblüht sein; sie ist nicht so gefüllt, wie die herrliche Theerose hier.“

„Da ist noch eine Knospe,“ sagte er, „wenn es helles, freundliches Wetter bleibt, ist auch sie in wenigen Tagen aufgeblüht. Es macht viel Freude, so eine Blume nach der andern kommen zu sehen, nicht wahr?“

Ich nickte bejahend mit dem Kopfe. Die gestörte Eispartie machte mich schweigsam.

„Da werde ich also heute allein auf’s Eis gehen müssen, komme aber hernach noch einmal heran, um die Bestellung von meinem Onkel an Ihren Herrn Vater selber auszurichten und seine Aufträge entgegen zu nehmen.“

Dabei stand er noch immer vor meinem Rosenstocke mit der halb erblühten Rose, richtete sie in die Höhe, roch daran und sah bittend zu mir herüber. Ich glaubte die stumme Bitte zu verstehen, nahm eine Scheere, schnitt die Rose ab und reichte sie ihm.

Er befestigte sie im Knopfloche, und noch heute sehe ich, wie schön sie sich auf dem neuen schwarzen Sammtrocke ausnahm, aus dem, umrahmt vom blendend weißen Umschlagkragen, der jugendlich schöne Kopf so froh und dankbar blickte.

„Aber nun müssen Sie sich beeilen, auf’s Eis zu kommen; wenn Sie zurückkehren, wird die Rose im Knopfloche wohl erfroren sein,“ sagte ich lachend.

„O, die Sonne scheint warm und hell, und im Laufen gegen den Wind werde ich sie mit der Hand schützen.“ Damit ging er. Ich begleitete ihn bis zur Hausthür und sah ihm so lange nach, bis er hinter dem Thorbogen verschwunden war, wo es abwärts auf den Fluß ging.

Ich setzte mich dann eine kurze Zeit in des Vaters Lehnstuhl und drückte die Hand vor die Augen; ein seltsames Gefühl kam über mich. War der Sonnenstrahl nicht allein in das alte Haus, war er auch in mein junges Herz eingezogen?




Die Glocken läuten wiederum; die Kirche ist aus. Einzelne heimkehrende Kirchgängen kommen vorbei und grüßen mich durch das Fenster. Heller scheint die Sonne; sie steht fast im Mittag. Von den niedrigen Dächern, die mit langen Eiszapfen geziert sind, tropft es hörbar. Ich war schon einige Male hinausgegangen, nach rechts zu schauen, ob die Eltern noch nicht aus der Kirche kämen, doch auch nach links; von dort mußte Arnold kommen. „Die Eltern machen wohl noch einen Besuch, und er ist gewiß bis nach Wyk gelaufen und hat Bekannte gefunden.“

Ich kehre in’s Zimmer zurück, öffne das Piano und versuche, die eben erhaltenen Variationen zu spielen. Nur das einfache Thema gelingt mir; zum Weiterspielen hatte ich heute nicht Zeit, nicht Ruhe; die Eltern mußten ja auch bald nach Hause kommen.

Wie die Knaben laufen, nach dem Eise zu kommen, hinunter an’s Bollwerk! Das muß ich sehen. Hinaus vor die Thür! Viele Menschen stehen da am Thore – jetzt theilt sich der Knäuel. Die Menge weicht zurück, um einen freien Durchgang zu gestatten. Zwei starke Männer, der Kleidung nach Fischer, kommen mit einer Tragbahre. Näher rückt der Zug. Die wachsende Menge folgt. „Es ist Jemand ertrunken,“ hört man jetzt rufen. Alles sieht hinaus, kommt heraus; ich war ja schon da. Jetzt sehe ich bei einem frei gewordenen Durchblicke zuerst an den Füßen des auf der Bahre Liegenden blanke Schlittschuhe, welche hell und stechend in der Sonne glänzen. Mir stockt das Blut – ich fliege heran; die Augen treten mir fast aus dem Kopfe. Der Körper des Ertrunkenen ist mit einem Fischerrocke zugedeckt.

„Wen habt Ihr da? Wer ist ertrunken, Vater Rüterbusch?“ Es ist ja unser Nachbar, der alte Fischer, der voran die Tragbahre trägt. Sie setzen sie nieder, um auszuruhen.

„Ja, schade um das schöne, junge Blut!“

„Mein Gott! es ist doch nicht – –?“ und die Menge durchbrechend, entferne ich mit hastiger Hand die deckende Hülle – kalt und starr liegt das noch soeben blühende Leben vor mir; die blonden Locken hängen in langen Strähnen herab. Dem alten gutmüthigen Fischer rinnen die Thränen über die rauhen Backen.

„O, mein liebes Fräulein Dortchen! Ich sah ihn noch eben, wie er so stolz daher segelte; er schwenkte sich rechts; er schwenkte sich links in großen Bogen. Die Sonne schien so hell auf ihn herab, und so recht stolz und selig stürmte er vorwärts. Aber die Sonne war für ihn zu hell; sie blendete ihn. Da unten bei der Schlemmkreidefabrik sind Wacken in’s Eis gehauen, und obgleich Pfähle mit Strohbündeln als Warnungszeichen daneben stehen – er hat nichts gesehen und mit voller Fahrt ging’s hinein, schneller als man’s denken kann. Hier, mit dem Bootshaken haben wir ihn nach langem Suchen gefaßt.“

Eine welke, halb entblätterte Rose steckte noch in seinem Knopfloche. Der alte Fischer wollte sie entfernen. „O, laßt sie ihm!“ rief ich, „rührt sie nicht an!“ Und heiß fiel aus meinem Auge eine Thräne auf die Blumenleiche.




In dem hellen sonnigen Zimmer nach der Fährstraße stand der Sarg aufgebahrt. In demselben Anzuge, worin er seinen Tod gefunden, lag der liebe Jüngling da – die entblätterte [443] Rose noch an derselben Stelle; man hatte sie ihm gelassen. Wie traurig sah sie aus!

Die letzte Rose an meinem Rosenstock war erblüht. Mit thränenden Augen schnitt ich sie ab und brachte sie ihm, dessen herziger Blick noch vor wenigen Tagen darauf geruht und ihr Erschließen vorausgesagt. In dem Todtenzimmer war es von Theilnehmenden voll; alle jungen Mädchen der Stadt gingen in das Trauerhaus, ihn noch einmal zu sehen, Kränze und Blumen auf sein Todtenkissen zu legen und noch einen Blick, den letzten, auf das stille unveränderte Antlitz zu werfen. Ich konnte nicht mit den Anderen fortgehen. Zu ihm, dem verlassenen Greise, meinem alten Freunde, zog es mich.

Nebenan, im dunklen Zimmer, saß er einsam und still, nicht wie sonst hinausschauend durch das kleine Fenster, auf dem alten Lehnstuhl am Ofen zusammengesunken, die Hände über das Knie gefaltet und laut stöhnend, die trockenen brennenden Augen auf einen Punkt geheftet.

Ich kniete zu ihm hin: „Onkel Ritius!“ rief ich, legte meinen Kopf auf seine Hände, und laut aufweinend benetzte ich sie mit meinen Thränen.

Das alte Haus ward finsterer als vorher, das sonnige Zimmer durch düstere Läden dicht verschlossen; Staub und Spinnengewebe verdunkelten die auf so kurze Zeit hell gewordenen Fenster. Die Linden, die sonst beschnitten wurden, wuchsen wie sie wollten, streckten ihre Zweige gen Himmel und drängten sich in die Giebelluken hinein; die Blumen im Eckzimmer vertrockneten. Arnold hatte die letzte frische Rose für mich von ihren Zweigen gepflückt.

Wo war der Sonnenstrahl geblieben? Fort aus dem alten Hause, fort aus dem jungen Herzen.