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Ein deutscher Volksschauspieler (Die Gartenlaube, 1892)

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Textdaten
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Autor: Anton Bettelheim
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Titel: Ein deutscher Volksschauspieler. Ludwig Martinelli.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Wurzelsepp im „Pfarrer von Kirchfeld“      Rappelkopf im       Martin im „Vierten Gebot“
Der „Meineidbauer“ Mathias Ferner       „Alpenkönig und Menschenfeind“       Steinklopferhanns in den „Kreuzelschreibern“
Ludwig Martinelli.

[80]

Ein deutscher Volksschauspieler.

Ludwig Martinelli.
Mit Abbildungen Seite 69. Nach Photographien aus dem Atelier Krziwanek in Wien.

Der Jahrhunderte alte Ruhm des volksthümlichen Theaters in Wien ist dem glücklichen Zusammenwirken empfänglicher Zuschauer, berufener Dichter und geistesverwandter Darsteller zu danken. Der erste, weitberühmte Wiener „Hanswurst“, Stranitzky, legte sich selbst die Possenrollen zurecht, in welchen er seine Zeitgenossen entzückte. Und zwei Beherrscher der Wiener Volksbühne in unserem Jahrhundert, Raimund und Nestroy, verstanden es, gleichzeitig als Autoren und Darsteller die Herzen ihrer Landsleute zu gewinnen. Der geniale Volksdramatiker Neu-Oesterreichs, Ludwig Anzengruber, hätte ebenfalls seine Gestalten am liebsten selbst auf der Bühne vergegenwärtigt. Von seinem 20. bis 25. Lebensjahre versuchte er sich als Schauspieler unter Widerwärtigkeiten, die er in der Plauderei „Eine Erholungsreise“ wehmüthig und erschütternd geschildert hat. Blieb es ihm aber auch versagt, als Musterdarsteller seines Wurzelsepp, Meineidbauer, Steinklopferhanns so siegreich hervorzutreten, wie das Ferdinand Raimund als Valentin, Wurzel und Rappelkopf gelang, so war ihm dafür das Glück beschieden, in Ludwig Martinelli einen Mann ganz nach seinem Herzen zu finden, der seine Charaktere so schlicht, wahrhaftig und künstlerisch vollendet spielte, daß der Poet wiederholt erklärte, glaubhafter und überzeugender hätte er selbst seine Gestalten nicht veranschaulichen können.

Martinelli, geb. 9. August 1833 zu Linz, ist der Sohn eines tüchtigen Dekorationsmalers und einer begabten Schauspielerin. Der Geist des Vaters äußerte sich schon in Zeichenversuchen des fünfjährigen Sohnes; kein Wunder, daß die Eltern den Jungen für einen geborenen Maler hielten! Sie schickten den Knaben nach Wien an die Malerschule Waldmüllers; indessen nach dem vorzeitigen Tode des Vaters mußten diese Studien abgebrochen werden. Als Neunzehnjähriger kam Martinelli zum Innsbrucker Direktor Lippert als Dekorationsmaler. Und hier „gefiel sich der Zufall, bekanntlich der beste Polizist, in der Rolle des Notarius, die ihm mit einmal die Erbschaft des mütterlichen Talentes aushändigte und ihn zum Schauspieler machte.“ Mit anderen Musensöhnen kneipte Martinelli allabendlich in einem Künstlerkränzchen; als sich nun eines Abends in der Weinstube ein friedlicher Streit um den Vorrang der Künste erhob, bekämpfte der junge Dekorationsmaler die Meinung der Schauspieler, daß ihr Beruf der schwerste sei; ja er blieb nicht dabei stehen, sondern wettete zehn Flaschen Tiroler Rothen, innerhalb einer Woche den Beweis dafür erbringen zu wollen, daß die Schauspielerei die am leichtesten zu bewältigende aller Künste sei. Der Handel galt. Nach acht Tagen spielte Martinelli auf der Innsbrucker Bühne den Tratschmirl im „Tritsch-Tratsch“, einer damals beliebten Posse von Nestroy, und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Tags darauf lud er die Kameraden, die gegen ihn gewettet hatten, in sein Atelier. Da lag der halbausgeführte Prospekt einer Gartendekoration, Farbentöpfe, Pinsel, Palette waren zur Stelle. „So, jetzt malt!“ Keine Frage: Martinelli hatte seine Wette gewonnen und mit ihr – seinen eigentlichen Lebensberuf. Es trieb ihn unwiderstehlich zur Kunst der Mutter; das Erbe des Vaters aber, seine malerische Begabung, stellte er fortan in den Dienst seiner außerordentlichen Fähigkeit, Trachten, Charakterköpfe und Bühnenbilder mit seinem Geschmack zu vergegenwärtigen.

Wie ein fahrender Schüler, in weiten Pumphosen, großem Kalabreserhut, Joppe ohne Weste, den Stock in der Hand, den Rucksack aus dem Rücken, wanderte er zunächst nach München, wohin der Innsbrucker Souffleur ihn empfohlen hatte. Als er sich in seinem etwas absonderlichen Aufzug dem Direktor des Vorstadttheaters in der Au vorstellte, hielt ihn dieser eher für einen Gymnastiker, Hundedresseur oder Feuerfresser als für einen Mimen; indessen als vorsichtiger Geschäftsmann, der gelegentlich wohl auch einen „Artisten“ brauchen kann, fragte er Martinelli: „Alsdann, was arbeiten Sie eigentlich?“ Nun erwies unser junger Freund die Eigenart seiner Arbeitskraft in den Jahren 1857-60 in München so nachdrücklich, daß er für die nächsten vier Jahre als Charakterkomiker, Regisseur und Geschäftsleiter an das Große Theater nach Amsterdam geladen wurde. In seinen Mußestunden malte er dort gute Aquarelle, Architektur- und Grachten-Veduten; sein Entwurf zur inneren Dekoration des „Palais voor Volksflit“ wurde mit dem ersten Preis gekrönt. So schien seine Laufbahn in schönstem Ansteigen begriffen, als er schwer krank, stimmkrank wurde; sein Organ nahm argen Schaden, und erst nach Monaten konnte er wieder eine Anstellung bei Direktor Kreidig in Graz antreten. Neun Jahre lang blieb er in der Murstadt, nicht nur als erklärter Liebling aller Zuschauer, sondern auch als Freund und Führer aller Genossen; er erwarb sich einen solch hochgeachteten Namen, daß Laube ihn an das Burgtheater berief. Freilich konnte er, durch ältere Verpflichtungen gebunden, dieser Ladung damals nicht sofort entsprechen, und nach Laubes Sturz kam die Sache nicht weiter zur Sprache.

Die Verehrer des Volksschauspiels werden diese Wendung der Dinge nicht beklagen. Als Charakterdarsteller im hochdeutschen Schauspiel hätte Martinelli viele neben, manche über sich gehabt. Im mundartlichen Volksschauspiel war und ist er schlechtweg einzig und unvergleichlich. Seiner italienischen Abstammung dankt er, wie Girardi, die angeborene Beweglichkeit und Geschmeidigkeit, seinen Lehrjahren als Maler eine Technik der Maske, die er, von der Natur mit einem Charakterkopf von seltener Ausdrucksfähigkeit beschenkt, unablässig geübt und vervollkommnet hat. Ueber seiner jahrzehntelangen Thätigkeit als Komiker der größten Theater Deutschösterreichs hat er den steten, lebendigen Verkehr mit dem Volke niemals vernachlässigt. Martinelli kennt das Leben der Aelpler, der Köhler und Wegmacher, der Jäger und Pascher aus eigener scharfer Beobachtung so gut wie Rosegger. Und zu all diesen Gaben, Beobachtungen und Studien der Natur gesellt sich eine große Gewissenhaftigkeit, die nur der Wahrhaftigkeit nachstrebt und jede unbewußte Selbstgefälligkeit, geschweige ein bewußtes Buhlen um Beifall, stolz, fast trotzig abweist. Martinelli stimmt z. B. die Liedeln des Steinklopferhanns genau so an wie ein alter Mann im Wirthshaus das thun würde: er singt mehr in sich hinein als zur Zuschauermenge heraus, immer nur auf des Dichters Absicht, nie auf das Klatschen der Leute im Publikum bedacht.

Solche Anlage und solche Auffassung mußten ihm vor allem als Anzengruber-Darsteller zugute kommen. So unübertroffen Martinelli in Nestroys satirischen und Raimunds gemüthlichen Wiener Charakteren, so trefflich er als lustiger Patron, als Schwätzer und Spötter, als Biedermann und Ränkeschmied in den älteren Lokalstücken sich bewährte: sein Eigenstes und Bestes brachte er doch als Meineidbauer, als Steinklopferhanns, als Grillhofer (im „G'wissenswurm“), als Hubmayr (im „Fleck auf der Ehr’“). Wenn [82] man jeden echten Schauspieler mit Recht den „beeideten Dolmetsch des Dichters“ genannt hat, dann darf Martinelli in Wahrheit diesen Ehrennamen als Anzengruber-Darsteller in Anspruch nehmen. Jeder Feinheit des Textes, den verborgensten Charakterzügen der Helden dieses Poeten ist er gerecht geworden; schöpferisch hat er die Charaktere Anzengrubers nachgelebt und für die Beichte des gleisnerischen Bauern-Tartuffe ebenso überzeugende Töne gefunden wie für die verwegene Gaunersophistik des Gewohnheitsdiebes Hubmayr; seine Verkündigung der „extraigen Offenbarung“ des Steinklopferhanns ist so getreu wiedergegeben wie die Meistergestalt des alten Brenninger in den „Kreuzelschreibern“.

Je bedeutender Martinelli sich aber als Anzengruber-Darsteller hervorthat, desto weniger Lust hatten die Wiener Operettengewaltigen der siebziger und achtziger Jahre, den trefflichen Volksschauspieler, so siegreich er sich auch beim Publikum eingeführt hatte, in ihren Theatern zu beschäftigen. Von 1876 ab wirkte Martinelli über ein Jahrzehnt in Prag, sehr verdienstlich auch im klassischen Schauspiel; die letzten Zeiten vor Eröffnung des Deutschen Volkstheaters zu Wien mußte er, da er mit der Neugestaltung der Dinge im Theaterwesen an der Moldau unzufrieden war, mit Gastspielen sich durchschlagen. Das Unrecht, das Martinelli solcherart widerfuhr, ist durch die überragende Stellung, welche er gegenwärtig im Wiener Theaterleben als ausübender und leitender Künstler einnimmt, theilweise gesühnt. Er ist heute unbestritten der erste Charakter-Darsteller unter den Wiener Volksschauspielern. Dem Kenner hat die zeitweilige, unbillige Verdunkelung von Martinellis äußeren Geschicken den Blick für seine Originalität eher geschärft als umschleiert. „Das auch für den lässigsten Theaterbesucher Auffälligste an diesem Künstler ist,“ nach Anzengrubers Wort, „dessen Vielseitigkeit. Und mit seiner Vielseitigkeit hält sein Talent und seine Kraft immer so weit Schritt, daß selbst noch seine schwächsten Leistungen jene der sogenannten ‚verwendbaren‘ Schauspieler, die nie etwas verderben, hoch überragen. Diese überlegene Vielseitigkeit zeigt, daß wir es mit einem denkenden Schauspieler zu thun haben; das allein würde schon einen Erfolg in bescheidener Sphäre erklären, aber einen großen, nachhaltigen Erfolg erklärt es nicht; dieser liegt in der eigenartigen Begabung Martinellis. Er hat ein sogenanntes schneidiges Talent, er faßt stramm und ehrlich zu; auch wo er fehlgreift, ist der Griff ein ehrlicher, und was er erfaßt, damit befaßt er sich auch, er weiß, daß das Durchdringen, das Bewältigen der Aufgabe der Gestaltung derselben voraufgehen muß. Er vergißt es nie und nimmer, daß der Schauspieler Künstler zu sein hat. Er kann den Weg, den er von seinem Ausgangspunkt bis auf den heutigen Tag zurücklegte, mit Genugthuung überblicken, er verfolgt mit ernstem Wollen und redlichem Streben die offene gerade Straße, die zur verdienten Anerkennung führt; möge es ihm noch lange vergönnt sein, auf derselben rüstig auszuschreiten!“

Seitdem Anzengruber diese Worte und Wünsche niedergeschrieben, hat Martinelli den nie verwundenen Schmerz erlitten, daß ihm sein Lebensfreund und Lieblingsdichter vorzeitig durch den Tod entrückt wurde. Mit womöglich noch erhöhtem Eifer setzte er nun aber neuerdings seine ganze reiche Kraft daran, das Vermächtniß des großen Volksdramatikers der Gesammtheit unverkürzt zu überantworten. Als Schauspieler und Regisseur gab er rastlos sein Bestes für Anzengruber. Seine Inscenierung des „Vierten Gebot“ hat das Ihrige beigetragen zu den Ehren, welche – allerdings erst nach dem Tode des Dichters – diesem mächtigsten Wiener Volksstück im Deutschen Volkstheater bereitet wurden. Martinellis Bühnenbilder in Anzengrubers Bauern- und Wiener Komödien werden von jedem folgenden Dramaturgen so sorgsam festgehalten werden müssen, wie seine schauspielerischen Leistungen jedem kommenden Anzengruber-Darsteller als Muster voranleuchten sollten. Und so lange man nach dem Wiener Volksschauspiel unseres Jahrhunderts, so lange man nach Anzengruber fragen wird, wird man darum auch Ludwig Martinellis in Ehren gedenken.
Anton Bettelheim.