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Ein Vorkämpfer protestantischer Glaubensfreiheit

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Titel: Ein Vorkämpfer protestantischer Glaubensfreiheit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 716–719
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Vorkämpfer protestantischer Glaubensfreiheit.

Ueber die Seele kann und will Gott niemand lassen
gebieten denn sie selbst allein.
                                                            Luther.

Seit dem Jahre 1837, wo König Ernst August von Hannover bei seinem Regierungsantritt durch ein Patent das Staatsgrundgesetz des Landes aufhob, ist die Bevölkerung desselben nicht in eine so allgemeine Aufregung versetzt worden, als durch den in jüngsten Tagen dort ausgebrochenen Kampf auf kirchlichem Gebiete um die sogen. „Katechismusfrage“. Und da es sich bei diesem Streite eben um nichts Geringeres als die Sicherung der bisherigen protestantischen Glaubens- und Lehrfreiheit handelt, welche durch mächtige Gegner nicht nur theoretisch in Frage gestellt, sondern factisch geschmälert werden sollte, so ist es wohl erklärlich, daß diese zuerst anscheinend nur speciell hannover’sche Sache bald eine von allgemein deutschem Interesse geworden ist, soweit es nämlich deutsche protestantische Gemeinden giebt, welche an dem Fundamentalsatze der Reformation „freie wissenschaftliche Forschung in der Bibel und den Schriften der Reformatoren selbst, zur Anwendung der dadurch gewonnenen Erkenntniß für die Lehre in Kirche und Schule“ – festhalten und entschlossen sind, diese als das mit dem Blute des dreißigjährigen Krieges, mit dem Opfertode Gustav Adolf’s und unzähligen anderen Opfern theuer erkaufte Palladium der höchsten Freiheit, wenn wieder gefährdet, auf’s Neue jeder Zeit und jeden Ortes mit Wort und That zu vertheidigen.

Kaum dürfte es gegenwärtig eine deutsche Landeskirche geben, in welcher die kirchliche Restaurationspartei thatendurstiger wäre, als im Königreich Hannover. Schlag auf Schlag folgen sich hier die „kirchlichen Thaten“. Candidaten der Theologie werden aus den Listen des Kirchendienstes gestrichen, Glaubensgerichte werden gegen nicht fügsame Pfarrer eingesetzt, in Kirchenblättern wird gegen die freiere Richtung gepoltert, auf Conferenzen gelärmt, Kniebänke werden eingerichtet, der Beichtzwang wird wieder hergestellt, die Schullehrer werden bedroht und gemaßregelt, die theologische Facultät in Göttingen wird geleitet und beeinflußt. Die thatendurstige Partei baut Kirchen (wenn die Stände das Geld dazu bewilligen, was nicht immer der Fall ist) und organisirt Landesconsistorien, sie seufzt nach den verlassenen Fleischtöpfen Aegyptens, den schönen Ceremonien des katholischen Cultus, und wetteifert mit dem Pater Roh in Stylproben, welche lebhaft an die Bildungsstufe der deutschen Geistlichkeit nach dem dreißigjährigen Kriege erinnern. Aber alle diese Bemühungen wären umsonst, wenn es ihr nicht gelänge, das Denken und Glauben der Nation aus dieselbe Bildungsstufe zurückzuführen.

Es bedurfte daher einer letzten That, welche den bisherigen, welche allen vorangegangenen reactionären Bestrebungen der herrschenden kirchlichen Partei in Hannover die Krone aufsetzt. Sie war angekündigt, und sie ließ nicht lange auf sich warten. Am 14. April dieses Jahres wurde der mehr als siebzig Jahre in Gebrauch stehende „Katechismus der christlichen Lehre“ der evangelischen Kirchen und Schulen des Königreichs Hannover vom 10. August 1790 abgeschafft und – auf den Betrieb der thatendurstigen Partei – „Luther’s kleiner Katechismus mit Erklärung für die evangelisch-lutherischen Kirchen des Königreichs Hannover“ eingeführt.

Das „Ausschreiben“ des hannoverischen Consistoriums vom 22. April d. I. fordert nun aber „conservative Fortbildung“, d. h. Rückbildung der Zustände und Einrichtungen des hannoverschen Landeskirche um zweihundert Jahre, bis in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Der lutherische Katechismus sollte in Hannover im Jahre 1862 noch eben so erklärt werden, wie er im Jahre 1662 erklärt worden ist; das war und ist der Kern dieser neuen kirchlich-conservativen Fortbildungstheorie. – Was hat doch eine zweihundertjährige Entwickelung, welche alle Wissenschaften umgestaltet, das gesammte öffentliche Leben erneuert hat, einem solchen Standpunkte gegenüber zu bedeuten? Diese ist für die hannoversche Landeskirche nicht vorhanden; die „vermeinte Wissenschaftlichkeit der Universitäten“ muß ja abgethan, der lebendige Strom, der von dem Lebensbrunnen des öffentlichen Geistes ausgeht, muß abgegraben werden. Ein weiland Generalsuperintendent zu Celle, Namens Walther, ein heftiger Gegner des freier denkenden Helmstädter Professor G. Calixt, ein lutherischer Streittheologe des siebzehnten Jahrhunderts, ist als derjenige erkannt worden, zu dessen „Erklärung des lutherischen Katechismus“ die hannover’sche Landeskirche „conservativ fortgebildet“ werden muß. Also nicht mit einem neuen, sondern mit einem zweihundert Jahre alten, aus der orthodoxen Streittheologie des 17. Jahrhunderts herausgewachsenen Katechismus hat das Kirchenregiment die evangelischen Gemeinden Hannovers beglückt! –

Auf den Inhalt dieses sogenannten „neuen Katechismus“ einzugehen, all die veralteten, theils über-, theils abergläubischen Lehrsätze desselben zu citiren und zu beleuchten, verbietet uns hier der Raum. Führen wir des Beispiels halber nur an, was darin über den „Teufel“ gesagt wird. Daß nämlich der Teufel stets mit Vorliebe im neuen Katechismus erwähnt wird, daß sogar ein eigener Lehrsatz über ihn vorkommt (S. 80, Fr. 21.), der sich auf die zweifelhafte Stelle Jud. 6 gründet, darf uns natürlich nicht in Erstaunen setzen. Daß die Versuchung zur Sünde vorzugsweise dem Teufel zugeschrieben wurde, und deshalb die citirte Schriftstelle Jac. 1, 13. f. verstümmelt angeführt wird, weil sie mit dem Katechismus sonst nicht stimmte: das könnte vielleicht überraschen. –

[717]

Pastor Baurschmidt.
Nach einer Photographie von Focke und Ahlfeld in Hannover.

Der Katechismus stellt sich ferner auch vor, daß der Teufel uns durch „äußerliches Blendwerk“ zur Sünde locke und dränge; er fordert somit den Glauben an sichtbare Teufels-Erscheinungen (S. 132, Fr. 56.). Ja, er setzt sogar die wirkliche Thatsache übernatürlicher Zauberei und Hexerei voraus; denn er sagt mit ausdrücklichen Worten, daß Wahrsager, Zeichendeuter, Geistesbanner, Zauberer etc. „wissentlich oder unwissentlich mit dem Teufel in Verbindung treten“ (S. 49, Fr. 47.)!

Der Katechismus nimmt also nicht nur die Möglichkeit, sondern die Strafbarkeit realer Bündnisse mit dem Teufel an. Von einer solchen Annahme aus fehlt zu der Wiederkehr von Zauberer- und Hexenprocessen nur noch ein kleiner Schritt. Ein Mensch, der sich wissentlich mit dem Teufel, diesem ebenso mächtigen als tückischen Potentaten der Finsterniß, zu bösen Streichen verbindet, ist – die Realität des Teufels vorausgesetzt – in der That auch einer der schändlichsten Verbrecher; und warum sollte einen solchen das Schwert der öffentlichen Gerechtigkeit nicht auf’s Empfindlichste treffen?

In gleich ungeheuerlich altorthodoxer Weise spricht sich die vom Consistorium dem ursprünglichen Texte desselben beigegebene „Erklärung des kleinen lutherischen Katechismus“ aus über die „Erbsünde“, die „Taufe“, die „Privatbeichte“ und den „Beichtzwang“, die „Macht der Sündenvergebung durch den Beichtvater“, die „Auferstehung des Fleisches“, die „Erlösungslehre“ etc. etc.

Es klingt etwas unglaublich, aber es ist wahr: die Urheber des neuen hannoverischen Katechismus sind der Meinung: seit 200 Jahren habe die gesammte theologische und kirchliche Entwickelung innerhalb des Protestantismus nichts Neues als Abfall und Sünde producirt; man müsse daher eiligst den Schwamm ergreifen und diese sündhaften Hervorbringungen von der Gedächtnißtafel der Geschichte gründlich hinwegwischen. Davon, daß der Rationalismus, die Theologie der Aufklärung, die durch das Läuterungsfeuer der philosophischen Freiheit und Speculation hindurchgegangene moderne theologische Wissenschaft nothwendige Entwicklungsmomente in der Geschichte des Protestantismus sind, haben die „conservativ“ fortbildenden Kirchenhäupter in Hannover keine Ahnung. Ihrem umflorten Blicke verbirgt sich namentlich auch ein hochwichtiges Phänomen. Die Orthodoxie des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts war besonders in einem Punkte eine große Verirrung. Sie verwechselte die Theologie mit der Religion, die correcte Lehre mit dem evangelisch-christlichen Leben. Sie erhob die Dogmatik, und zwar eine unvolksthümliche, noch immer in dem Vorstellungskreise der mittelalterlichen Scholastik festgebannte Dogmatik, zum Mittelpunkte ihres Wollens und Schaffens. Die orthodoxe Lehrformel wurde der protestantische Papst. Wir kennen die Folgen dieses papierenen Papstthums. Die deutsch-protestantische Kirche wurde auf diesem Wege an den Rand des Verderbens geführt. Aergerliche Lehrstreitigkeiten füllen von jetzt an die Blätter ihrer Geschichte. Der lächerlichste und schmählichste Teufels- und Hexenglaube wird von den protestantischen Theologen und Juristen, diesen Trägern der Orthodoxie, am meisten gehegt und gepflegt! – Jesuiten und Pietisten erheben sich endlich gegen die scheußlichen Hexenverbrennungen, während die protestantischen Orthodoxen sich daran erlaben. – Der alte Generalsuperintendent Walther hätte in den Blutströmen des dreißigjährigen Krieges die Früchte des Systems, dem er sich selbst mit Leib und Seele ergeben, erkennen können. Die confessionelle Intoleranz führt, wenn ihr nicht bei Zeiten Einhalt gethan wird, zuletzt immer in den Jammer [718] des Bürgerkriegs und der nationalen Zerfleischung. Die innere geistige und sittliche Zerrüttung geht eine Zeitlang der äußeren Verwilderung voran, und leider stellt uns bereits die Gegenwart in den meisten deutschen protestantischen Landeskirchen das Bild der Verwirrung vor Augen. Mit Ekel und Verachtung wenden die Gebildeten von dem widerwärtigen Schauspiel der orthodoxen Restauration sich ab; die Massen verhalten sich gleichgültig oder sind innerlich verstimmt; die Führer der Restauration liegen sich aber bereits selbst in den Haaren, und Einer erhebt Mund und Hand zu Flüchen und Schlägen wider den Andern.

Der hannoversche neue Katechismus aber ist – seinem gesammten Inhalte nach – ein Product des orthodoxen, ausschließlich confessionalistisch gesinnten, lutherischen Dogmatismus. Den Kindern die altorthodoxe Dogmatik – gehe es, wie es gehe – wieder beizubringen, mit allen ihren Härten und Unbegreiflichkeiten, in ihrer abstoßenden Schulsprache und ihrer gemüthlosen Trockenheit: das ist die Aufgabe, an deren Lösung alle evangelischen Lehrer und Geistlichen Hannovers von jetzt an mit Hülfe des neuen Katechismus arbeiten sollten.

Auf diesen größtentheils, Gottlob! längst überwundenen, fast mittelalterlichen Standpunkt sollte und mußte – nach dem Willen und der Meinung der hochkirchlichen Leiter Hannovers – die christliche Lehre in Schule und Kirche ihres Landes gewaltsam, durch einen absoluten Act, zurückgeschraubt werden. Solches war der schlimme Zustand, welcher dem Lande Hannover allgemein nahe bevorstand und der in vielen Gemeinden auch schon thatsächlich durch blinden passiven Gehorsam der Schullehrer und Geistlichen angebahnt wurde; denn bereits waren gegen 200,000 Exemplare des „Neuen Katechismus“ gedruckt, und täglich wurden davon Ballen in die Gemeinden geschickt. Das auch im Lande Hannover theuer erkaufte und verbriefte staatsbürgerliche Recht der „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ erschien damit auf’s Aeußerste bedroht, und der trübe, geistesverschlammende Strom religiöser Verdummung schien damit unaufhaltsam und unvermeidlich sich über das ganze Land ergießen zu sollen. Zwar hatte die liberale hannoversche Presse schon seit länger gegen dies aufsteigende theologische Ungewitter geeifert und gewarnt; allein ihre Zeitungsartikel wurden einerseits durch sophistische Entgegnungen und Verdrehungen der conservativen Blätter neutralisirt und waren anderntheils, wie Zeitungsartikel überhaupt in solchen Umständen, nicht mächtig genug, einen Sturm der öffentlichen Meinung hervorzurufen, dessen Donnerstimme bis an das Ohr des einzigen Sterblichen, von dem Abhülfe möglich, des Monarchen, dringen konnte, um aus dessen höchster, über dem Parteilärm und Parteiinteresse stehender Einsicht ein rettendes Veto in dieser höchsten Noth des Gewissens und Glaubens seines Volkes hervorzurufen.

Zu solchem Rufen und Anrufen bedurfte es eines Mannes, eines im Leben und Wandel unbescholtenen, dabei im vollen Verständniß der Sache stehenden Mannes, bedurfte es einer gleich sehr mit Erkenntniß wie Willenskraft ausgerüsteten Persönlichkeit. Und dieser Mann erstand der bedrohten hannoverschen Glaubensfreiheit in der Person des Pastor Baurschmidt im hannoverschen Städtchen Lüchow an der Unterelbe. Mit einer von ihm verfaßten Broschüre, betitelt „Prüfet Alles. Ein Wort über den neuen Katechismus etc.“, nahm dieser bislang über seinen Kirchensprengel nicht hinaus bekannte und wirksam gewesene Landprediger entschlossen den Fehdehandschuh gegen das hannoversche Consistorium und dessen gemeingefährliches Verfahren auf. In allgemein faßlicher eindringlicher Rede wies er selbst für den Laien, Bürger und Bauer verständlich die Vernunftwidrigkeiten des Inhalts dieser aufoctroyirten neu-alten Katechismuserklärungen zusammt der verfassungswidrigen Einführung desselben nach. Wie ein Blitz schlug dies Baurschmidt’sche öffentliche Wort in alle für das heilige Gut der Glaubensfreiheit noch nicht indifferenten Gemüther und rief sie wach. Den ersten Impuls aber erhielt seine Sache, die gute Sache der Gesammtheit des Volkes dadurch, daß die Kunde sich verbreitete: „Pastor Baurschmidt sei vor das hannoversche Consistorium citirt worden, zu einem Verhör und eventueller Verurtheilung wegen seiner angeblich aufrührerischen Broschüre!“

Und so war es wirklich. Pastor Baurschmidt war wegen seiner genannten Schrift auf den 8. August zur Vernehmung vor das Consistorium in Hannover geladen worden, und Alles in Stadt und Land sah mit höchster Spannung diesem Tage entgegen. Unterdessen nun fing die Opposition gegen den „Neuen Katechismus“ an, sich zu gemeinsamen Schritten zu organisiren. Am 1. August wurde in Hannover selbst durch eine Anzahl namhafter Bürger eine „allgemeine Bürgerversammlung im Saale des Thalia-Vereins“ zur Berathung und Entwerfung einer Petition an Se. Maj. den König um Abhülfe in dieser Katechismusangelegenheit berufen. Die Adresse, mit Tausenden von Unterschriften bedeckt, kam unverzüglich zu Stande und ging zu ihrer Bestimmung ab. Diesem Beispiele der Residenz folgten alsbald die Städte Hameln, Hildesheim, Celle, Lüneburg, welchen in steigender Bewegung gleicherweise die meisten anderen Städte des Landes und die größeren Landgemeinden nach und nach sich angeschlossen haben.

Unterdessen rückte der für die Annalen der Residenzstadt denkwürdig werden sollende Tag heran, wo der Pastor Baurschmidt vor dem hannoverschen Consistorium sich stellen sollte. Es war in der Stadt bekannt geworden, daß er daselbst am 6. August Nachmittags mit dem Eisenbahnzuge von Celle eintreffen werde.

Schon in Celle war Baurschmidt mit großem Enthusiasmus begrüßt worden. Sein Empfang von Seiten der Bürgerschaft Hannovers aber überstieg Alles, was diese Stadt je Aehnliches erlebt hat. Viele Tausende, darunter alle angesehensten Bürger, Kaufleute, Handwerker etc., hatten in der Halle und auf dem Bahnhofsplatze sich versammelt. Nichtendender Jubel begrüßte den mit den Seinigen, mit Frau und Tochter, Aussteigenden. Er sprach einige Worte des Dankes. Vor dem Bahnhofe erwartete ihn der Wagen seines Gastfreundes und engeren Landsmannes (aus Lüchow gebürtig), des Weinhändlers Schultz. Neuer Jubel und Hochrufe beim Besteigen des Wagens, die er erwidert mit den schlichten Worten: „Es ermuthigt mich, daß meine Sache die so Vieler und hoffentlich auch die Dessen dort oben ist.“ Langsamen Schrittes fährt der Wagen durch die Tausende, welche nur eine Fahrgasse lassen, den viertelstündigen Weg bis zu Schultz’s Wohnung. Abermalige endlose Rufe hier, welchen Baurschmidt mit den Worten antwortet: „Ich wünsche, daß Gott mir Kraft verleihe, morgen nur halb die Worte zu finden zu dem, wovon ich heute durchdrungen bin.“ – Nachdem die „dem Verfechter von Wahrheit, Recht und Licht“ gebrachten abermaligen Hochs verklungen waren, stimmte die ganze Menge, stimmten die Tausende, welche alle anstoßenden Straßen dichtgedrängt ausfüllten, feierlich und erhebend an Luther’s Lied: „Eine feste Burg ist unser Gott!“ Ernste Andacht, erhebende Begeisterung erfüllte alle Gemüther, und zahllosen Augen entquollen die Thränen. Als Baurschmidt am folgenden Morgen sich von seiner Wohnung aus nach dem Consistorium begab, begrüßten ihn wiederum die Zurufe der zu Tausenden versammelten Volksmenge; angesehene Bürger bildeten Spalier längs des Wegs, und junge Mädchen bestreuten den Weg mit Blumen. Die Vernehmung vor dem Consistorium erledigte sich dahin, daß Baurschmidt jede sofortige Einlassung seinerseits ablehnte, sich dagegen zu einer schriftlichen Rechtfertigung auf die ihm zuzumittelnden Beschwerdepunkte bereit erklärte. Abends wiederholten sich vor Baurschmidt’s Wohnung dieselben Scenen wie am Tage seiner Ankunft; die verschiedenen Liedertafeln brachten ihm Ständchen, wobei das „Harre meine Seele“, „Der Tag des Herrn“ und „Eine feste Burg ist unser Gott“ gesungen wurden. Bei seiner Abreise von Hannover begleitete eine zahllose Menschenmenge in langsamem, feierlichem Zuge den Wagen, der den allverehrten Mann trug, bis zum Bahnhofe. Auf dem Markte wurden Wagen und Pferde mit Blumen geschmückt, ebenso war die Locomotive, welche ihn davon führte, mit Blumen bekränzt. Herzlich war der Abschied. Stets wiederholte Lebehochs bezeugten dem Gefeierten und bis zu Thränen Gerührten die Theilnahme der Bevölkerung. Auf seiner Weiterreise über Einbeck, Nordheim und Göttingen nach Osterode wurden Baurschmidt gleiche Ovationen dargebracht; in großartigster Weise geschah dies namentlich in Osterode, Baurschmidt’s Geburtsorte, wo man nicht mit Unrecht seine Aufnahme mit derjenigen verglich, welche Luther bei seinem Erscheinen vor dem Reichstage in Worms einst zu Theil geworden.

Unterdeß nun nahm die Aufregung gegen den „Neuen Katechismus“ und die Auflehnung gegen dessen Einführung immer größere Dimensionen an. Der Adressen- und Petitionensturm aus den Stadt- und Landgemeinden wurde allgemein und so groß, daß der König endlich eine andere Ueberzeugung in dieser Angelegenheit gewinnen mußte, als ihm wohl früher die Herren vom Consistorium beigebracht hatten. Und die Hoffnung des Volkes auf die höhere Einsicht ihres Landesvaters und Abhülfe durch ihn – [719] nachdem ihm nur erst die ganze unverfälschte Wahrheit der Sachlage zur Kenntniß gekommen – sollte nicht zu Schanden werden. Am 19. August erschien eine königliche Verordnung, durch welche „das Gebot der allgemeinen Einführung des neuen Landeskatechismus aufgehoben wurde, so daß der Gebrauch desselben nur da stattfinden sollte, wo er mit Bereitwilligkeit aufgenommen werde.“ – Damit war denn der hauptsächlichste Sieg erfochten. Es war dieser freilich nicht so groß, als wenn die königliche Verordnung den neuen Katechismus durch ein Machtwort ganz und gar wieder abgeschafft und annullirt hätte; allein es war nun doch den Gemeinden (und damit allen Eltern) die Freiheit zurückgegeben, aus eigener Wahl und Entschließung, ob für, ob gegen das neue Religionsbuch und dessen Gebrauch für ihre Kinder sich zu entscheiden. Sie haben denn, Gott sei Dank! bis jetzt auch recht wacker von diesem ihnen neu zuerkannten Rechte Gebrauch gemacht. In den meisten Schulen, wo das Buch schon eingeführt worden, hat es, oftmals nicht ohne einigen Kampf gegen die renitenten Pastoren, wieder abgeschafft werden müssen, und wo dies bis jetzt noch nicht geschah, steht es doch zuversichtlich zu erwarten. Aber damit ist noch nicht Alles gethan zur Sicherung der Glaubensfreiheit im hannoverschen Lande und zur Verhinderung der Wiederkehr ähnlicher Vorkommnisse, wie dieser Katechismusstreit. Erst wenn der §. 23 der Landesverfassung, wonach dem Lande die Einführung einer Landessynode versprochen ist, zur Wahrheit geworden, darf auch in Hannover die Glaubensfreiheit und die vernünftige Fortentwickelung auf kirchlichem Gebiete als gesichert betrachtet werden. Dieses wohl erwägend und entschlossen, sein Werk nicht halb gethan zu verlassen, hatte Baurschmidt auf den 7. October nach Celle eine Versammlung aller ihm gleichgesinnten Geistlichen des Landes zusammenberufen. Dieselbe hat denn auch unter lebhafter Betheiligung des Publicums stattgefunden. Unter den von den versammelten 44 Geistlichen gefaßten Beschlüssen ist der dritte schließlich der wichtigste, welcher lautet: „Es ist ein dringendes Bedürfniß, daß die lutherische Kirchengemeinde zu einer festen und lebendigen Gemeindeordnung gelange mit genügendem Einfluß auf die Wahl der Prediger und Lehrer, und daß ein gemeinsames Band in einer Provinzial- und Landessynode gewonnen werde. Es soll zur Realisirung dieser Wünsche eine Versammlung von Geistlichen und Laien veranstaltet werden; ein zu wählender Ausschuß soll dieselbe vorbereiten und Ort und Zeit bestimmen.“ –

Wünschen wir denn, daß das so begonnene Werk fortan gedeihe und wachse, und insbesondere, daß auch ihm, dem ersten Werkführer desselben, dem braven Landprediger, unserm Baurschmidt, noch lange ungeschwächt die Kraft verbleibe, an diesem Werke weiter zu schaffen. Wer weiß, wohin es ohne ihn, der so kühn und unbekümmert um seine persönliche Existenz sich an die Spitze stellte, mit der Glaubensfreiheit und der religiösen Volksaufklärung des hannoverschen Landes gekommen wäre. Mit Recht betrachtet und ehrt das Volk ihn als seinen ersten Glaubenskämpfer in dieser Zeit.

Mögen dieser Ruhm und diese Bedeutung ihm ungeschmälert verbleiben!