Ein Verbrecher aus Bücherwuth
Ein Verbrecher aus Bücherwuth.
Im Jahre 1812, am 28. Januar wurden die Bewohner von Leipzig durch die Kunde von einem Mordanfall erschreckt, der dort am hellen Tage mit Erfolg ausgeführt worden war.
Zu dem in der Grimmaischen Gasse wohnhaften Kaufmann Schmidt, einem als wohlhabend bekannten alten Manne, trat an jenem Tage bald nach 10 Uhr morgens ein Fremder ins Zimmer, ein Mann etwa in den vierziger Jahren, der seinem Stande nach ein Gelehrter zu sein schien. Seinen Namen nannte er nicht. Er sagte, er komme aus Hamburg und wolle sich bei Schmidt, der ihm empfohlen sei, wegen der vortheilhaftesten Anlage eines Kapitals Raths erholen. Schmidt empfahl den Ankauf von Leipziger Stadtobligationen, und als der Fremde ein Papier dieser Art zu sehen wünschte, zeigte er ihm eins, worauf er es wieder in den Schreibtisch, aus dem er es genommen, zurücklegte. Wohl eine halbe Stunde wurde von geschäftlichen Dingen hin und her gesprochen. Plötzlich sank Schmidt bewußtlos nieder. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß sein Kopf stark blutete. Er glaubte nicht anders, als daß er von einer Ohnmacht befallen worden sei und sich im Hinsinken verletzt habe. „So helfen Sie mir doch auf!“ rief er, in der Meinung, daß der Fremde noch anwesend sei. Aber dieser war verschwunden. Schmidt erhob sich nun allein. Da sah er, daß mehrere von den Kästchen, die er im Schreibtisch verwahrt hatte und die einen Theil seiner Werthpapiere enthielten, leer umherstanden – elf Stadtobligationen im Gesammtwerth von 3000 Thalern fehlten. Er ließ sich nun den Kopf von seiner Haushälterin schnell verbinden und eilte dann auf das Rathhaus, um den Vorfall anzuzeigen und zugleich die Nummern der ihm abhanden gekommenen Obligationen bekannt zu geben. Ferner erließ er ein vor dem Ankauf warnendes Rundschreiben an sämmtliche Banken in Leipzig.
Die Maßregeln, welche Schmidt ergriffen hatte, um den Ankauf seiner Papiere zu hindern und gegebenen Falls die Verhaftung des Verkäufers herbeizuführen, kamen trotz der Eile, mit der er vorgegangen war, zu spät. Noch an demselben Morgen waren die ihm geraubten Obligationen im Fregeschen Bankgeschäft verkauft worden. Nach Aussage des Fregeschen Geschäftspersonals kam noch vor 11 Uhr und vor dem Bekanntwerden des Raubes ein Fremder in das Comptoir, erkundigte sich nach den Kursverhältnissen einiger Papiere und veräußerte für 3000 Thaler Stadtobligationen. Er nannte sich Siegel und gab an, in Elsterberg wohnhaft zu sein. Er war von mittlerer Größe, bartlos und von blasser Gesichtsfarbe, hatte eine ziemlich große Nase und trug langes schlichtes schwarzes Haar. Man schätzte sein Alter auf etwa vierzig Jahre. Seine Weste und seine Beinkleider waren schwarz; über einem schwarzen Frack trug er einen pekeschenartigen Ueberzieher. Seine Kopfbedeckung war ein vorn eingebogener sogenannter Schifferhut. Das Personal gab an, der Fremde habe das Aussehen eines modern gekleideten Geistlichen gehabt; man meinte ihm also den geistlichen Stand anzusehen, obwohl er die unter den Predigern jener Zeit noch sehr verbreitete Sondertracht dieses Standes, zu der ein langer Priesterrock, Kniehosen, Schnallenschuhe, gepudertes Haar und ein flacher Hut gehörten, nicht trug. Er blieb wohl eine halbe Stunde im Comptoir, schob zehn halbe Louisd’or, die sich unter der fast ganz aus Gold bestehenden Kaufsumme befanden, zurück, damit man sie gegen ganze Louisd’or umtausche, und kam, nachdem er sich verabschiedet, noch einmal wieder, um sich über den Verkauf der Papiere eine Bescheinigung geben zu lassen, die doch für ihn kaum Werth haben konnte.
Als der Raub bekannt wurde, bezeichnete der Kassierer des Fregeschen Geschäftes einen ihm mit Namen bekannten Einwohner von Leipzig als den Verkäufer der Obligationen. Aber die Angaben des übrigen Personals, des Kaufmanns Schmidt selbst und seiner Haushälterin, die den Fremden in Schmidts Zimmer geführt hatte, stellten außer Zweifel, daß der ihnen vorgeführte Beschuldigte nicht der Verkäufer und nicht der Thäter war und daß der Kassierer sich geirrt hatte.
Die Verwundung des Kaufmanns Schmidt war viel schwerer, als man bei seinem Verhalten in den ersten Stunden nach dem Verschwinden des Fremden annehmen durfte. Hatte er doch nicht nur den Behörden den Diebstahl persönlich anzeigen, sondern sich auch einer richterlichen Vernehmung unterziehen und seine Angaben eidlich erhärten können! Aber Verwundungen des Schädels und des Gehirnes lassen die durch sie verursachten Störungen der leiblichen und seelischen Verrichtungen öfter erst dann hervortreten, wenn eine gewisse Zeit vergangen ist. Schmidt wurde mehrere Stunden nach seiner Verwundung bewußtlos, und man konnte ihn nach Einzelheiten, die man in der ersten Vernehmung vergessen hatte, nicht mehr fragen. Ohne wieder zu sich gekommen zu sein, starb er am 6. April.
Die gerichtsärztliche Untersuchung der Leiche ergab, daß der Schädel an zwei Stellen Brüche hatte, welche den Tod herbeiführen mußten, daß ein Aufschlagen des Kopfes beim Niederfallen so schwere und an so verschiedenen Stellen liegende Verletzungen nicht verursacht haben konnte, daß diese also von fremder Hand mittels eines zum Schlagen geeigneten Werkzeuges und mit beträchtlicher Gewalt beigebracht worden sein mußten.
Der Kaufmann Schmidt soll außergerichtlich auch die Aeußerung gethan haben, daß der Fremde, der ihn verwundete und beraubte, ihm kurz vorher eine Prise angeboten habe, nach deren Genuß er besinnungslos geworden sei. Ein Vorgang dieser Art ist nach Lage der Sache nicht unwahrscheinlich. Wäre der Kaufmann Schmidt erst durch den Schlag betäubt worden, so hätte er vermuthlich doch noch die Empfindung gehabt, einen Schlag erhalten zu haben, und dann hätte er nicht den, der ihn geschlagen, noch um Beistand zum Aufstehen gebeten, wie er es thatsächlich in ungebrochener Erinnerung an das vorher geführte anscheinend freundschaftliche Gespräch gethan hat.
Die Nachforschungen nach dem Raubmörder, welche Gericht und Polizei anstellten, blieben völlig erfolglos. – –
Ein Jahr war vergangen, da wurde die Stadt wiederum durch eine Mordthat in Schrecken gesetzt, die mit der früheren einige Aehnlichkeit hatte.
Am Neumarkt wohnte im Hause eines Dr. Kunitz vier Treppen hoch eine Witwe Kunhardt. Sie stand in den siebziger Jahren und hatte niemand um sich als ihre Dienstmagd. Am 8. Februar des Jahres 1813, einem Montage, schickte sie diese Magd bald nach 8 Uhr morgens zu einer Besorgung aus dem Hause. Als die Magd von diesem Gange gegen 1/29 Uhr zurückkehrte, hörte sie auf der Treppe, daß ihre Herrin in ängstlicher Weise ihren Namen rief. Oben angekommen, sah sie, daß Frau Kunhardt mit blutendem Kopfe in ihrem Vorzimmer stand und sich an die Thüre lehnte; auf einen vor ihren Füßen liegenden, mit frischem Blute befleckten Brief weisend, sagte sie zu der Magd, ein fremder Mensch, der ihr den Brief gebracht, habe sie geschlagen. Auf das Geschrei der Magd eilten andere Bewohner des Hauses herbei und brachten die Verwundete in ihr Zimmer, Sie erklärte auf Befragen, daß sie den Fremden nicht kenne.
Der vom 24. Januar 1813 aus Hohendorf datierte und mit „Bruse“ unterzeichnete Brief enthielt das Gesuch um ein Darlehen von 1000 Thalern.
War es auf einen Raub abgesehen gewesen, was man unter den obwaltenden Umständen für wahrscheinlich halten mußte, so war diese Absicht nicht erreicht worden. Wir erfahren wenigstens nicht, daß Frau Kunhardt, über deren Vermögensverhältnisse übrigens nichts mitgetheilt wird, Geld und Geldeswert vermißt hätte.
Nachdem die Behörden von dem Geschehenen benachrichtigt worden waren, erschien noch an demselben Vormittag das Gericht in der Wohnung der Frau Kunhardt. Wiederum zeigte sich, daß die Verletzung des Kopfes ernster war, als es zunächst geschienen hatte. Frau Kunhardt war bereits bewußtlos und blieb es bis zu ihrem Tode, der in der Nacht zum 10. Februar eintrat.
Das ärztliche Gutachten lautete dahin, daß der Schädel der Verstorbenen von fremder Hand mit einem scharfen, abgerundeten und schlagenden Werkzeug, etwa mit der abgeschrägten Seite, welche die meisten Hämmer gegenüber der stumpfen Seite zu haben pflegen, zertrümmert worden sei, und daß die Verwundung nothwendig zum Tode habe führen müssen.
[77] Zur Entdeckung des Thäters bot sich diesmal ein Anhalt zunächst in den weiteren Wahrnehmungen und Aussagen der Kunhardtschen Dienstmagd. Als diese nämlich von jenem Gange, während dessen der Mordanfall geschehen sein mußte, gegen halb 9 Uhr zurückkam, begegnete ihr im Hausflur, kurz bevor sie das ängstliche Rufen der Frau Kunhardt hörte, von der Treppe herabkommend ein in einen blauen, am Schlitz mit Knöpfen versehenen Reitmantel gekleideter und mit dunkler Kopfbedeckung versehener bartloser Mann, der ihr von Ansehen bekannt war. Auf seinen Namen konnte sie sich nicht besinnen, aber sie hatte ihn wiederholt in dem H.schen Gasthofe in Leipzig gesehen, in dem sie früher gedient hatte. Sie erinnerte sich, daß er „Herr Magister“ angeredet worden war. Der Titel eines Magisters der freien Künste war mit dem Doktortitel etwa gleichwerthig, und es kam häufig vor, daß Theologen und Philologen ihn erwarben, wie sie heute den Doktortitel erwerben.
Dieser Mann nun mochte der Magd anmerken, daß sie ihn kannte, wie er seinerseits sie ebenfalls wiedererkannt hatte. „Ei, guten Morgen,“ sagte er beim Begegnen, „das ist ja die Köchin, die bei H. gedient hat. Kommen Sie oder gehen Sie erst, und wann kommen Sie wieder?“ Die Magd antwortete, daß sie zurückkomme und wieder nach oben gehe. Der Mann, der sehr aufgeregt zu sein schien, entfernte sich darauf in großer Eile.
Naturgemäß lenkte sich auf diesen Fremden der Verdacht, umsomehr, als die Magd sich entsann, ihn bereits zwei Tage früher, am Sonnabend den 6. Februar, unter auffälligen Umständen im Hause gesehen zu haben, eine Wahrnehmung, welche durch eine unten im Hause wohnende Kutscherfrau bestätigt wurde. Am Sonnabend Vormittag hatte nämlich der Mann im blauen Mantel die Kutscherfrau im Hausflur gefragt, ob hier Frau Kunhardt wohne, und sie hatte ihn nach oben gewiesen. Da sie eben auf dem Boden des Hauses zu thun hatte, folgte sie ihm, während er die Treppen hinaufging. Auf der vierten Treppe sagte sie zu ihm: „Hier wohnt die Madame, nach der Sie mich fragten.“ In diesem Augenblick öffnete die Kunhardtsche Magd die Thür der Kunhardtschen Wohnung in der Meinung, daß der Brotverkäufer gekommen sei. Anscheinend in Verlegenheit hatte der Mann darauf gesagt. „Nein, bei einer Frau Dr. Kunitz wollte ich einen Brief abgeben.“ Die beiden Zeuginnen hatten ihn darauf nach einem tiefer gelegenen Stockwerk gewiesen, wo der Hauswirth Dr. Kunitz wohnte; aber sie konnten bemerken, daß der Mann an der Kunitz’schen Wohnung vorüberging und das Haus verließ. Die Kutscherfrau hatte damals geäußert, daß er gewiß die Absicht gehabt habe, zu stehlen oder die Gelegenheit zu einem Diebstahl auszukundschaften.
Auf die Angaben der Kunhardtschen Magd hin forschte die Behörde bei dem Gastwirth H. nach den Namen der Magister, die früher und etwa zur Zeit des Mordes bei ihm abgestiegen waren. Es befand sich darunter auch der Magister Tinius, Pfarrer zu Poserna bei Weißenfels. Er hatte die Nacht vom 5. zum 6. und dann wieder die vom 7. zum 8. Februar im H.schen Gasthof zugebracht, war an dem verhängnißvollen Morgen von 8 bis 9 Uhr zur Erledigung von Besorgungen, wie er dem Wirthe erzählt hatte, abwesend gewesen und am Nachmittag wieder abgereist. Die Beschreibung, welche die Zeuginnen von dem Manne im blauen Mantel entwarfen, schien auf den Magister zu passen. Da aber den Behörden bisher nichts Nachtheiliges über ihn bekannt war, so wollten sie große Vorsicht anwenden und zunächst der erwähnten Magd Gelegenheit geben, den Magister Tinius möglichst unauffällig zu sprechen, damit sie sich überzeuge, ob er wirklich der Magister sei, den sie am 6. und 8. Februar im Kunitz’schen Hause gesehen hatte. Ein Gerichtsbeamter wurde mit ihr nach dem etwa 4 Meilen von Leipzig entfernten Poserna geschickt, und beide sollten sich unter einem Vorwand bei dem Pfarrer einführen. Als sie in das Pfarrhaus treten wollten, kam Tinius gerade aus der Hausthür. Sofort erkannte die Magd in ihm den verdächtigen Mann wieder, und auch er gerieth bei ihrem und ihres Begleiters Anblick sichtlich in Verlegenheit. „Woher sind Sie?“ fragte er mit einem Blick auf die Magd. Dann gab er sich selbst schnell die Antwort: „Ach, aus Weißenfels.“ Daß er sie jetzt nach Weißenfels versetzen wollte, während er sie im Dienst in Leipzig wußte, war auffällig. Wenn er im Kunitz’schen Hause sie als Bekannte begrüßt und das oben mitgetheilte kurze Gespräch mit ihr geführt hatte, so war das vielleicht deshalb geschehen, weil ihm das unerwartete Zusammentreffen die Geistesgegenwart geraubt hatte; denn ein schnelles und stummes Vorübereilen wäre wohl rathsamer gewesen als das Anknüpfen eines noch so kurzen Gespräches; vielleicht wollte er auch den Schein der Unbefangenheit wahren, da er sich von der Magd doch einmal erkannt sah. Jetzt, in Poserna, mochte er die Gefahr richtiger schätzen, die ihm aus jener Erkennungsscene auf dem Flur des Kunitz’schen Hauses erwachsen konnte.
Da Tinins Geistlicher war, so durfte seine Verhaftung, welche von der richterlichen Behörde nunmehr beschlossen wurde, nach damaligem Gesetz nur mit der Zustimmung des Konsistoriums vorgenommen werden. Nachdem diese eingeholt war, wurde er am 4. März 1813 nachts verhaftet und in das Untersuchungsgefängniß nach Leipzig gebracht. Aber erst im März 1814 erfolgte der gerichtliche Beschluß, den Kriminalprozeß gegen ihn zu eröffnen. Dieser Beschluß hatte zunächst die Folge, daß Tinius, wie es das Gesetz vorschrieb, seines geistlichen Amtes öffentlich und feierlich entkleidet wurde. Am 31. März fand dieser Akt in der Nicolaikirche in Leipzig statt, in Gegenwart geistlicher und weltlicher Behörden und zahlreicher Zuschauer. Der Superintendent Rosenmüller hielt eine ergreifende Rede, und dann wurden dem angeschuldigten Prediger von einem Kirchendiener Priesterrock und Halskragen abgenommen, worauf die Ueberweisung des vormaligen Geistlichen an die weltlichen Gerichte erfolgte. Tinius stand bei dieser furchtbaren Feierlichkeit aufrecht und unerschüttert.
Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses ging nun eben damals ein großer Theil des Königreichs Sachsen an die preußische Krone über, und auch Poserna wurde preußisch. Die Regierungen von Sachsen und Preußen kamen überein, daß die vor sächsischen Gerichten schwebenden Prozesse derjenigen Angeschuldigten, deren Wohnort an Preußen abgetreten war, vor preußischen Gerichten zu Ende geführt werden sollten, und so wurde der Magister Tinius an preußische Gerichtsbehörden ausgeliefert. Dieser Umstand erschwerte das Gerichtsverfahren erheblich, da das zur Untersuchung stehende Verbrechen in Leipzig, also einer nicht-preußischen Stadt, begangen war. Ein weiterer Anlaß zu Verzögerungen lag in dem damaligen Gerichtsverfahren und seinen langwierigen Förmlichkeiten. Eine eigentliche Hauptverhandlung fand gar nicht statt, wenn man nicht die Urtheilsfällung selbst so nennen will. Vielmehr zerfiel das ganze Verfahren in eine große Zahl von einzelnen, stets unter Ausschluß der Oeffentlichkeit [78] vorgenommenen Verhören, die zu umfangreichen Schreibereien Anlaß gaben und zwischen denen jedesmal viel Zeit verstrich. Ein Augenzeuge des an der Frau Kunhardt verübten Mordes war nicht vorhanden, der angeschuldigte Magister Tinius leugnete seine Thäterschaft mit Hartnäckigkeit und theilweise mit Geschick, und der Indizienbeweis, den man nun herzustellen suchte, war nur sehr mühsam zu führen. So hat es geschehen können, daß, wie wir hier vorweg nehmen, von der Verhaftung bis zu der entscheidenden Verurtheilung in der zweiten Instanz 10 Jahre vergingen: sie erfolgte erst im Jahre 1823.
Unzweifelhaft war die Verurtheilung des Magisters wegen des Kunhardtschen Mordes ebenso sorgsam erwogen, als sie gerecht war. Gleichwohl ist, zum Theil jedenfalls, weil eben die Verhandlungen auf die Gerichte eines anderen Staates übergingen, mancher Punkt unaufgeklärt geblieben, welchen aufzuklären die heutige Rechtspflege wohl ein Mittel finden würde. So ist z. B. das Vorleben des Magisters Tinius, namentlich im Hinblick auf die Frage, wie und wann er eigentlich zum Verbrecher wurde, nur lückenhaft und nicht in dem Maße aufgehellt worden, wie dies damals doch möglich gewesen sein muß.
Johann Georg Tinius wurde im Jahre 1764 in der Niederlausitz auf einer preußischen Domäne geboren, wo sein Vater Schäfer war. Im Religionsunterricht fiel er dem Prediger durch seine Begabung auf, und dieser verschaffte dem mittellosen Knaben die Möglichkeit, Gymnasium und Universität in Wittenberg, wenn auch unter manchen Entbehrungen, zu besuchen. Tinius war nach Beendigung seiner Studien erst Hauslehrer, erhielt dann eine Lehrerstelle am Gymnasium in Schleusingen, wurde im Jahre 1798 Pfarrer zu Heinrichs in Thüringen und 1809 Pfarrer in Poserna. Die ihm von der Schule und Universität ausgestellten Zeugnisse rühmten die Reinheit seiner Sitten und die Unbescholtenheit seines Wandels, und sein Wirken als Lehrer und Prediger wurde von seinen Vorgesetzten aufs anerkennendste beurtheilt. Sein in Weißenfels wohnhafter Superintendent bezeugte nach der Verhaftung, er habe es nie für möglich gehalten, daß Tinius das Verbrechen habe begehen können, dessen man ihn beschuldige; freilich sei der erste Eindruck, den er von Tinius empfangen, der eines „Adepten“ gewesen, also eines Menschen, der sich mit geheimen Künsten abgebe. Andere wollten eine unheimliche Miene, einen stechenden Blick an ihm wahrgenommen haben; doch kamen diese weniger günstigem Urtheile erst nach der Verhaftung zu Tage. Persönlichen Verkehr hatte Tinius fast nur mit einigen Bekannten gehabt, die in Leipzig wohnten; den Umgang mit seinen geistlichen Standesgenossen hatte er gemieden.
Tinius war zweimal verheirathet und hatte aus den beiden Ehen vier Kinder. Nach Eröffnung des Prozesses ließ die zweite Frau, mit der er nicht glücklich gelebt zu haben scheint, sich von ihm scheiden, und fast gleichzeitig wurde der Konkurs über sein Vermögen eröffnet. Tinius hatte eine große Liebhaberei für Bücher, und nach einer Aeußerung des Superintendenten Rosenmüller in jener Rede bei der Amtsentsetzung ist diese Liebhaberei der Grund dafür gewesen, daß Tinins sich zu Ausgaben hinreißen ließ, welche seine Einnahmen überstiegen und ihn endlich auf die Bahn des Verbrechens drängten. Er hatte eine Bibliothek von 30000, nach anderer Angabe von 80000 Bänden zusammengebracht. Sollte auch nur jene kleinere Zahl die richtige sein, so wäre sie für einen Landpfarrer doch immer noch eine fast ungeheuerliche. Mit Buchhändlern und Antiquaren in der Nähe und Ferne stand er in regem Verkehr. Allerdings behauptete er, daß die Zinsen des ihm von seinen beiden Frauen zugebrachten Vermögens, die reichen Einkünfte der Pfarre zu Poserna und sein sparsames Leben ihm seine Bücherankäufe ermöglicht hätten, aber die Untersuchung seines Vermögensstandes aus Anlaß des Konkurses widerlegte diese Behauptung, Einige kleine Kapitalien hatte er ausstehen, aber größere war er schuldig. Seine zweite Frau konnte von den 10000 Thalern, die sie ihm eingebracht hatte, nur einen kleinen Rest wiederbekommen, und ferner ergab es sich, daß er sich an den Kirchengeldern, welche ihm anvertraut waren, vergriffen hatte. Er wurde auch wegen dieser Unterschlagung zu zwei Jahren Zuchthaus verurtheilt. Bei eineln Magister St. in Leipzig, einem Duzfreund von ihm, wurden mehrere von ihm herrührende Briefe aufgefunden, worin er Geldverlegenheiten eingestand und um Hilfe bat. Am 9. Februar 1813, also am Tage nach dem Kunhardtschen Morde, der ihm keinen Raub eingebracht haben konnte, schrieb er an St.: „Schaffe Rath, laß mich nicht ins Unglück stürzen.“
Dieser Magister St. stand überhaupt bei dem Leipziger Gerichte in dem dringenden Verdacht, über die Heimlichkeiten seines Amtsbruders näher unterrichtet zu sein. Man hatte sich auch vorbehalten, ein Verfahren gegen ihn einzuleiten, wenn der Magister Tinius abgeurtheilt sein würde. Aber diese Absicht ist, nachdem Tinius den preußischen Gerichten übergeben worden war, offenbar nicht zur Ausführung gekommen.
Das Verhalten des Magisters Tinius dem Gericht gegenüber zeigt, wie dies übrigens bei Verbrechern häufig der Fall zu sein pflegt, einige Unbegreiflichkeiten. Am 17. Februar 1813, 9 Tage nach dem Morde, meldete ihm sein Freund St. in einem später zu Poserna aufgefundenen Briefe von dem Verdachte, den man in Leipzig gegen Tinius hegte. Dieser hätte also Gelegenheit gehabt, Dinge zu beseitigen, in deren Besitz betroffen zu werden für in mißlich war. Aber weder der Brief noch der oben erwähnte Besuch der Kunhardtschen Dienstmagd, der 8 Tage nach Eintreffen des Briefes stattfand und ihn wohl hätte stutzig machen können, veranlaßten ihn zu Vorsichtsmaßregeln. Das Einzige, was er zu seiner Sicherung that, war, daß er vom Schlitz des blauen Reitmantels die 10 Knöpfe abtrennte, die allerdings ein auffälliges Merkmal bildeten, deren Fortnahme aber die Wiedererkennung des Mantels durch die Zeugen auch nicht hindern konnte. Das Gericht fand diesen Mantel und sogar die 10 abgetrennten Knöpfe noch im Pfarrhause vor.
Das Gericht fand daselbst ferner zwei Hämmer; einer von diesen war am Stiel so gekürzt, daß er bequem in die innere Brusttasche des Mantels gesteckt werden konnte, und die abgeschrägte Seite des Eisens paßte, wie später festgestellt wurde, in die Verletzungen, welche der Schädel der Frau Kunhardt aufwies. Beim Scheidungsprozeß der Tinius’schen Eheleute kam außerdem folgendes zur Sprache: etwa 8 Wochen vor dem Morde ließ Tinius, der eben von einer Reise nach Leipzig zurückgekehrt war, den Mantel, nachdem er ihn ausgezogen hatte, zufällig im Hausflur auf dem Treppengeländer liegen, während er ihn für gewöhnlich selbst an einem bestimmten Nagel in seinem Zimmer aufzuhängen pflegte. Frau Tinius fand den Mantel und brachte ihn an seinen Platz. Dabei entdeckte sie, daß in der Brusttasche ein Hammer steckte. Als sie bald darauf zu häuslichem Gebrauch einen Hammer haben wollte, holte sie den anderen Hammer, den man im Hause hatte und der in der Bibliothek lag; sie äußerte dabei zu ihrem Manne, er könne ihr diesen Hammer lassen, denn er habe ja noch einen anderen in der Tasche des Mantels. Diese Aeußerung hätte den Magister unmöglich aufbringen können, wenn der Hammer in der Tasche nur zu harmlosen Zwecken gedient hätte. So aber wurde er sehr ärgerlich, schalt seine Frau, daß sie alles ausspioniere, und drohte, sie zu schlagen.
[88] Folgen wir nun dem weiteren Verlauf der gerichtlichen Untersuchung gegen Tinius nach seiner Ueberweisung an die preußischen Behörden. Daß Tinius um 5. und 6. Februar 1813 in Leipzig gewesen und am Nachmittag des 6. nach Poserna zurückgekehrt war, um am Sonntag den 7. dort zu predigen, daß er am 7. wieder in Leipzig eingetroffen war und auch einen Theil des 8. dort verbracht hatte, wurde von ihm nicht bestritten. Ueber das, was er an den in Leipzig verbrachten Tagen unternommen hatte, wurde folgendes festgestellt:
Neben dem Kunitz’schen Hause lag das Haus eines Fräuleins Junius, einer alten und anerkannt reichen Dame. Am Freitag den 5. Februar erschien nun im Junius’schen Hause vormittags ein Mann, der das Fräulein Junius zu sprechen wünschte. Der Hausverwalter ließ ihn in die Gesindestube treten und erklärte ihm, das Fräulein könne seinen Besuch nicht empfangen; er möge ihm sagen, was er zu bestellen habe. Der fremde Mann erwiderte, er sei ein Geistlicher aus der Gegend von Rippach, und er suche in Leipzig vorläufig ein Absteigequartier; zu Ostern wolle er ganz nach Leipzig übersiedeln; man habe ihm gesagt, daß hier im Hause eine Wohnung frei sei. Der Hausverwalter beschied ihn dahin, daß alle Räume vermiethet seien. Obwohl damit für den Fremden jeder Anlaß zu längerem Verweilen wegfiel, blieb er doch noch etwa eine halbe Stunde und unterhielt sich über gleichgültige Dinge mit den Dienstboten. Der Hausverwalter erkannte diesen Fremden in Tinius wieder. Tinius bestritt anfangs, dieser Fremde gewesen zu sein; später aber gab er es zu. Seine Angabe, daß er zu Ostern nach Leipzig habe ziehen wollen, war unwahr, und der Verdacht war nicht abzuweisen, daß er, der schon am Freitag in dringender Geldverlegenheit war, nur die Gelegenheit ausspüren wollte, das Fräulein Junius allein zu sprechen und dabei zu berauben.
Von dem Junius’schen Hause aus war Tinius, wie jetzt ferner festgestellt wurde, in das Kunitz’sche getreten. Er hatte also dieses Haus, in welchem die Frau Kunhardt wohnte, nicht erst am Sonnabend und Montag, sondern ebenfalls schon am Freitag aufgesucht. Beim Eintreten hatte er auf dem Hausflur einen Arbeiter getroffen und diesen nach Dr. Kunitz gefragt. Dr. Kunitz kam zufällig dazu, verneinte die Frage des ihm unbekannten Mannes, ob eine Wohnung frei sei, und fragte ihn, wie er heiße. Tinius antwortete darauf, er suche die Wohnung nur für einen Freund, und entfernte sich eilig, ohne seinen Namen zu nennen. Vor Gericht räumte er diesen auf den Freitag fallenden Besuch im Kunitz’schen Hause ein, bestritt aber um so nachdrücklicher, am Sonnabend und Montag dagewesen zu sein. Er sah sehr wohl, was hier für ihn auf dem Spiele stand. Seine erste Anwesenheit war durch das angebliche Aufsuchen einer Wohnung einigermaßen harmlos zu erklären, aber seine zweite Anwesenheit war es nicht; nach dem von Kunitz bereits erhaltenen Bescheide lag für sein Wiederkommen kein gestehbarer Grund vor.
Dafür aber, daß Tinius am Sonnabend und am Montag im Kunitz’schen Hause war, fanden sich noch mehr Zeugen, als die bereits oben erwähnten. Der Junius’sche Hausverwalter sah ihn an dem Montag, an welchem der Mord stattfand, gegen halb 9 Uhr aus jenem Nachbarhause kommen; Frau Dr. Kunitz trat zu derselben Zeit an ein Fenster ihrer Wohnung und machte dieselbe Wahrnehmung. Sie bemerkte, daß Tinius am Aermel und Rücken seines blauen Mantels einen auffälligen weißen, anscheinend vom Anstreifen an eine geweißte Wand herrührenden Fleck hatte, den er unterwegs eifrig abstäubte. Dasselbe sah zu derselben Zeit ein dem Kunitz’schen Hause gegenüber wohnender Chirurg. Zu den Wahrnehmungen, welche die in die Kunhardtsche Wohnung geschickte Gerichtsabordnung verzeichnete, gehörte die, daß die Wand im Vorzimmer von einer Person mit dunkler Kleidung im Vorbeigehen stark gestreift worden sein mußte. Die Angaben der Zeugen wichen zum Theil, wie dies leicht geschieht, um fünf, zehn, ja fünfzehn Minuten voneinander ab, und während die meisten von ihnen in Tinius den Mann mit dem blauen Mantel mit Bestimmtheit wiedererkannten, war z. B. der Chirurg im Wiedererkennen nicht ganz sicher. Ob der Mann einen schwarzen Filzhut oder eine runde schmarze Mütze mit Schirm getragen hatte, blieb unaufgeklärt; die Möglichkeit war nicht ausgeschlossen, daß Tinius an den verschiedenen Tagen verschiedene Kopfbedeckungen trug. Der Reitmantel mit dem vielknöpfigen Schlitz war allen aufgefallen.
Am Montag Morgen muß Tinius den Augenblick erspäht haben, wo die Magd, die er ja am Sonnabend die Wohnung der Frau Kunhardt hatte öffnen sehen, sich entfernte; in diesem Falle hätte ihn der Umstand nicht geschreckt, daß diese Magd ihn oberflächlich kannte. Daß er aufs Gerathewohl bei der Kunhardt klopfte, ist wohl minder wahrscheinlich, da er, wenn die Magd ihm öffnete, ihr noch einmal, wie schon am Sonnabend, einen Vorwand für sein Erscheinen hätte vorbringen müssen.
Vormittags nach 9 Uhr war Tinius in den H.schen Gasthof wo er sein Absteigequartier hatte, zurückgekehrt. Das dort aufwartende Dienstmädchen bezeugte, er sei sehr unruhig gewesen und habe gezittert; bei Tisch habe er zu scherzen gesucht, das sei ihm aber nicht recht gelungen.
Was den Brief betrifft, mit welchem sich der Mörder bei Frau Kunhardt einführte, so erklärten die Sachverständigen, daß die Handschrift trotz des Bemühens, sie zu verstellen, von Tinius herrühre. Tinius hatte sich am Montag im H.schen Gasthofe vor seinem Ausgehen von dem dreizehnjährigen Sohne des Wirthes Papier zum Schreiben geben lassen und in der Gaststube geschrieben; das Wasserzeichen im Papier des Briefes stimmte mit [90] dem Wasserzeichen in einem der Schreibhefte des Knaben überein. Das Siegel auf dem Briefe war nach dem Gutachten zweier Graveure der Abdruck des Petschafts, welches der Gastwirth H. besaß.
Der Magister Tinius beging die Unvorsichtigkeit, vom Untersuchungsgesängniß aus an seine Bekannten Briefe zu schreiben, worin er ihnen über das, was sie thun und aussagen sollten, Anweisungen gab. Er glaubte, einen zuverlässigen Weg gefunden zu haben, um diese Briefe unbemerkt an die Adressaten zu befördern, und die Gerichtsbehörde ließ ihn in diesem Glauben, nachdem sie geeignete Maßregeln ergriffen hatte, um alle seine Briefe in ihre Hand zu bekommen. So schrieb er, nachdem er die Verfasserschaft des bei der Frau Kunhardt vorgefundenen Briefes vor dem Richter abgeleugnet, an einen Bekannten, er möge doch ein Petschaft wie das des Gastwirts H., der übrigens mit Tinius befreundet war, nachstechen lassen und an das Untersuchungsgericht schicken, damit es zu der Ueberzeugung gebracht werde, daß Petschafte dieser Art mehrfach im Gebrauch seien.
Es ist begreiflich, daß es dem Angeschuldigten vor allen Dingen darauf ankam, für die zwischen 8 und 9 Uhr liegende Stunde an jenem Montag sein Alibi nachzuweisen. Er schrieb deshalb an einen Kantor H. in Leipzig: „Sie werden wissen, wie ich durch das boshafte Angeben einer Dirne, als hätte ich ihre Frau erschlagen, in Untersuchung gekommen bin. Ich sehe nun, daß alles auf Zeugen ankommt, bitte Sie also, auf Befragen auszusagen, daß ich am 8. früh gegen ein Viertel auf acht durch Ihre Thür in Ihre Stube gekommen und nach einem Lotterielose gefragt – daß ich mich eine Viertelstunde aufgehalten und sodann fortgegangen – daß ich mit einem modischen Frack bekleidet gewesen ohne Reitmantel. Mein Vorrath von Dank soll groß sein.“ Später änderte er diese Bestimmung etwas und schrieb an denselben Adressaten: „Ob Sie sagen sollen, mit oder ohne Reitmantel, hängt davon ab, was Herr Buchhändler L. ausgesagt hat.“ An diesen Buchhändler hatte er nämlich wegen der ihm wünschenswerthen Aussagen auch schon geschrieben. Den Kantor wies er ferner an, der Sicherheit wegen noch einen Freund aufzusuchen, der angeben könnte, den Kantor zwischen 8 und 9 Uhr besucht und bei dieser Gelegenheit ihn, den Prediger Tinius, dort angetroffen zu haben; er, Tinius, wolle dem Kantor sechs Louisd’or und noch mehr dafür zahlen lassen. „Ich müßte aber Nachricht haben, um in diesem Falle meine Aussage danach einrichten zu können.“ An seinen Freund, den Magister St., schrieb er, er möge nach Poserna reisen. „Nimm alles weg,“ hieß es in dem Briefe wörtlich, „was nicht unschuldig ist.“ Die letztere Aeußerung kommt beinahe einem Geständniß gleich.
Als dem Magister Tinius schließlich alle seine Briefe vorgelegt wurden, versuchte er die Ausrede, die Anschuldigung des Mordes habe seine Gedanken verwirrt. Sein Verteidiger brachte auch diesen Gesichtspunkt mit großem Nachdruck zur Geltung, ohne aber bei den Richtern damit durchzudringen. Es liegt auf der Hand, daß ein verwirrter Mensch diese wohlüberlegten, zu Meineid auffordernden Briefe ebensowenig geschrieben hätte wie ein mit Unrecht verdächtigter.
Der oben zuerst erzählte, an dem Kaufmann Schmidt verübte Raubmord schien von den Richtern ganz vergessen zu sein, obwohl es eigentlich nahe gelegen hätte, ihn mit Tinius in Verbindung zu bringen. Da wurde die Sache, als Tinius einige Zeit in Haft gewesen war, von einer Seite angeregt, von der man es am wenigsten hätte erwarten sollen, nämlich – von Tinius selbst. Ehe er wissen konnte, daß seine Briefe aufgefangen wurden, schrieb er nämlich an seinen Freund St.: „Sollte etwa die Schmidtsche Geschichte mit hineingezogen werden – welches man aber jetzt gar nicht äußern darf und mag – sollte der Gastwirth H. darüber befragt werden, so soll er sagen, wie ich ihm im eingeschlossenen Zettelchen geschrieben habe, denn so war es, wie ich mich erinnere, und so müssen wir konform bleiben.“ Dieser Zettel und andere schriftliche Anweisungen bezogen sich auf den Nachweis eines Alibi für die Stunde zwischen 10 und 11 Uhr am 28. Januar 1812, dem Tage der Ermordung Schmidts, und auf das Beiseiteschaffen einer Pekesche und eines Schifferhutes, die im Pfarrhause lagen, solcher Kleidungsstücke also, wie sie der Verkäufer der dem Kaufmann Schmidt geraubten Obligationen beim Betreten des Fregeschen Comptoirs getragen hatte.
Die Untersuchung wegen des Schmidtschen Mordes wurde daraufhin wieder aufgenommen. Es wurde ermittelt, daß Tinius Mitte Januar des Jahres 1812 in dringender Geldverlegenheit gewesen war, daß er dann aber am 10. Februar den Preis für eine Bibliothek, die er aus dem Nachlaß eines Professors in Halle angekauft hatte, mit 300 Louisd’or baar erlegt und daß er um dieselbe Zeit noch andere Schuldsummen von etwa gleich hohem Gesammtbetrage in Gold heimgezahlt hatte.
Die drei Angestellten des Fregeschen Bankgeschäftes, welche den Verkäufer jener Obligationen gesehen oder abgefertigt hatten, wurden dem Magister Tinius gegenübergestellt. Näher zu thun gehabt hatte mit ihm nur der Kassierer, und dessen Zeugniß konnte in keinem Falle schwer wiegen, da er, wie oben erzählt ist, unmittelbar nach dem Verkauf einen Unbeteiligten irrigerweise als Verkäufer angegeben hatte. Ein zweiter Angestellter war mit dem Fremden im Comptoir zusammengewesen, hatte aber nicht sonderlich auf ihn geachtet, und der dritte Angestellte hatte ihn nur durch die geöffnete Thür des Nebenzimmers flüchtig gesehen. Alle drei Zeugen stimmten in der Aussage überein, daß Tinius in Alter, Aussehen und Haltung mit dem Verkäufer Aehnlichkeit habe; die Identität beider aber konnten sie nicht sicher behaupten.
Von fast entscheidender Wichtigkeit würde das Zeugniß der Schmidtschen Haushälterin gewesen sein, welche den Fremden zu ihrem Herrn ins Zimmer geleitet hatte; aber sie war bereits verstorben,
Während dieser Nachforschungen erstattete der Amtmann Hoffmann in Suhl dem Gericht Anzeige von einem Vorfall, der Tinius wiedernm in einem schlimmen Lichte zeigte.
Am 19. Januar 1813, also einige Wochen vor Ermordung der Frau Kunhardt, trat abends um sieben Uhr ein Fremder in das Hans des Amtmanns und wünschte ihn in Geschäften zu sprechen. Er gab dem Diener an, er heiße Lange und sei Bureaubeamter des Appellationsgerichtsraths Gröbel in Dresden. Der Diener führte ihn, da der Amtmann eben Besuch hatte, in die Gesindestube. Hier brannte ein Licht, und nun erkannten der Diener, dessen Frau und noch eine zufällig anwesende Witwe in dem Fremden trotz der Brille, die er ausnahmsweise trug, sofort den Prediger Tinius. Sie hatten ihn früher in der Ortschaft, wo er im Amte stand, ehe er nach Poserna kam, wiederholt predigen hören und waren ihrer Sache so sicher, daß sie zu ihm sagten, er sei doch der Prediger Tinius und nicht der Beamte Lange. Aber der Fremde bestritt das und fragte, wer denn Tinius sei. Er wünschte, daß man das Licht, das man vor ihn hingesetzt hatte, weiter entferne, weil er schlimme Augen habe. Auch bat er, ihn nicht eher anzumelden, als bis der Besuch fortgegangen und der Amtmann allein sei. Ferner erkundigte er sich, ob der Amtmann einen Hund um sich habe. Man bejahte diese Frage mit dem Bemerken, daß der Hund sehr bissig sei und einem, der seinen Herrn angreife, wohl Nase und Ohren abbeiße. Der Fremde sagte daraus, man möge, wenn er in das Zimmer des Amtmanns gehe, den Hund beseitigen, denn Hunde seien ihm zuwider. Nach einer Weile kam der Hund in die Gesindestube und umschnupperte den Fremden; die Anwesenden bemerkten aber, daß dieser nun sich um den Hund nicht weiter bekümmerte.
Nach einstündigem Warten entfernte sich der beim Amtmann weilende Besuch und der Fremde wurde eingelassen. Er stellte sich als den Bureaubeamten Lange vor und überreichte einen mit dem Namen des Gerichtsrathes Gröbel in Dresden unterzeichneten Brief, worin der Amtmann gebeten wurde, dem Ueberbringer einen Rechtskonsulenten zu empfehlen und bei Besichtigung und Ankauf eines bestimmten Landgutes, das nicht weit von Suhl lag, behilflich zu sein. Der Amtmann erwiderte seinem Besucher zunächst, er halte ihn für den ihm von früher her bekannten Prediger Tinius. Nach einigem Leugnen gab der Fremde zu, daß er der Prediger Tinius sei. Noch war aber der Amtmann harmlos, äußerte, die Besichtigung des Gutes sei wegen des gefallenen Schnees für jetzt unthunlich, behielt den Prediger zu Tisch und bot ihm auch ein Nachtlager an. Tinius verabschiedete sich jedoch gegen halb elf Uhr, weil er zu dieser Stunde eine Gelegenheit zur Rückfahrt habe. Den Brief ließ er sich zurückgeben – man fand ihn später in der Pfarre zu Poserna – bat auch, von seinem Besuch in Suhl zu schweigen. Dem Amtmann, der nachträglich seine eigenen Wahrnehmungen mit denen der Dienerschaft vergleichen konnte, kam nun der Besuch des Magisters Tinius um so verdächtiger vor, je länger er darüber nachdachte.
Vor dem Untersuchungsrichter gab Tinius die von dem [91] Amtmann Hoffmann und seinen Leuten bekundeten Einzelheiten sämmtlich zu. Zur Erklärung seines Besuches und Verhaltens behauptete er dann zuerst, er habe sich mit dem Gedanken getragen, das in dem überreichten Briefe erwähnte Landgut vielleicht einmal selbst zu kaufen. Später leuchtete ihm ein, daß ein solcher Anlaß die Ableugnung seines Namens gegenüber einem Manne, dessen Vertrauen und Dienste er in dem Briefe in Anspruch nahm, nicht hinreichend rechtfertige, und so brachte er eine andere Ausrede vor. Er sagte, er habe damals gehört, daß der Amtmann eine Abneigung gegen ihn hege, und ferner, daß derselbe zu jener Zeit krank gewesen sei. Da habe er, Tinius, gewünscht, sich mit Hoffmann auszusöhnen, und weil er gefürchtet habe, daß jener ihn abweise, wenn man ihm den Prediger Tinius melde, so habe er sich unter einem anderen Namen anmelden lassen, um in Hoffmanns Nähe kommen zu dürfen und nun erst dessen Gesinnung und das Maß seiner Versöhnlichkeit zu ergründen.
Fein berechnet war dieser Wink für den Richter, zu erwägen, daß der Amtmann Hoffmann, der diese fatale Geschichte vor Gericht erzählte und beschwor, eigentlich ein Feind des Angeklagten sei und daher wohl nicht recht Glauben verdiene! Aber die Wahrheit lag zu klar am Tage. Alle Einzelheiten des Besuches bei dem Amtmann Hoffmann sind überaus verständlich und nur verständlich, wenn man annimmt, Tinius wollte sich unerkannt und unter fremdem Namen bei Hoffmann einführen, unbedroht durch den Hund ihn in seinem Zimmer allein sprechen, ihn durch den Brief auf Geschäftssachen bringen und irgendwie zur Oeffnung seines Geldschrankes veranlassen, ihn in einem günstigen Augenblick mit dem Mordhammer niederschlagen, alles erreichbare Geld an sich nehmen und mit dem Raube von dannen ziehen. Tinius ließ seinen Mordplan unausgeführt, weil er sich erkannt sah oder die Umstände sonst für ungünstig hielt.
Aber das war noch nicht alles.
Durch den Stiefsohn des Predigers Tinius wurde folgendes zu den Akten gegeben: Ebenfalls im Jahre 1812 trat spät abends ein durch einen großen Mantel verhüllter Mann in die Wohnung der Schwiegermutter des Predigers, einer wohlhabenden Frau, und näherte sich dieser. Vergebens rief sie: „Wer ist Er denn? Was will Er noch so spät?“ Der Unbekannte antwortete nur: „Stille! Stille!“ Die alte Frau rief jedoch entschlossen nach ihrer Dienstmagd, und zum Glück war diese sofort zur Stelle. Jetzt gab sich der Unbekannte als den Prediger Tinius zu erkennen.
Briefe wie diejenigen, welche der Frau Kunhardt und dem Amtmann Hoffmann vorgewiesen worden waren, fand man im Pfarrhause zu Poserna noch fünf. Alle trugen erfundene Namen als Unterschriften, und von allen mußte Tinius einräumen, daß er sie geschrieben und unterschrieben habe. Er behauptete zwar, er habe sie auf Bitten von Leuten geschrieben, die er nicht näher gekannt und denen er doch die Bitte nicht habe abschlagen wollen. Aber wie durfte er sie dann ohne weiteres mit dem fremden Namen unterzeichnen? Es wurde ermittelt, daß wenigstens eine der Adressatinnen eine reiche und alleinstehende Dame war, und die Vermuthung liegt wiederum nahe, daß diese Briefe alle nur den Zweck hatten, die Anknüpfung eines Gespräches zwischen dem Adressaten oder der Adressatin und dem Unbekannten oder Falschbenannten zu vermitteln, eines Gespräches, das dann – mit dem Hammer abgeschlossen werden sollte.
Das Gericht sprach schließlich den Magister Tinius von der Anklage des am Kaufmann Schmidt verübten Raubmordes, so dringend auch der Verdacht gegen Tinius war, vorläufig frei, verurtheilte ihn aber wegen Raubmordes an der Frau Kunhardt zu achtzehnjähriger Zuchthausstrase. Die zweite Instanz setzte dieses Strafmaß unter Berücksichtigung der langen Untersuchungshaft auf zehn Jahre herab. Im Jahre 1823 trat Tinius seine Strafe an, die mit den 2 Jahren Zuchthaus für die Unterschlagung von Kirchengeldern also auf zwölf Jahre bemessen war.
Im Publikum war man, wahrscheinlich mit Recht, der Ueberzeugung, daß die Unthaten und Anschläge des unheimlichen Magisters, welche zur Kenntniß des Gerichtes kamen, nicht die einzigen seien, welche er ausgeführt habe. Wegen der in Thüringen herrschenden kleinstaatlichen Zersplitterung der Rechtspflege und wegen der kriegerischen Zeitläufte mochte manche Nachforschung nach Verbrechen unterblieben sein, die unter anderen Verhältnissen vorgenommen worden wäre. Man erzählte sich z. B. folgenden Vorfall aus dem Jahre 1810 oder 1811: Ein Viehhändler, ein junger kräftiger Mann, reiste an einem heißen Sommertage mit der Post von Querfurt nach Leipzig. Er wollte dort Geschäfte erledigen und trug eine um den Leib geschnallte wohlgefüllte Geldkatze. Außer ihm saß im Postwagen nur noch ein Reisender, der ein Lehrer oder Beamter zu sein schien. Während des Gesprächs, das beide miteinander führten, bot dieser Reisende dem Händler eine Prise an, indem er ihm eine silberne Dose hinhielt. Der Händler griff hinein und schnupfte. Bald darauf klagte er über Schwere im Kopfe und über Schläfrigkeit. „Das kommt von der Sommerhitze,“ sagte der Gefährte mit der Dose; „da, nehmen Sie noch eine Prise, das erfrischt die Lebensgeister.“ Der Händler folgte der freundlichen Einladnug. Als der Postwagen in Leipzig ankam, fand man ihn allein im Wagen und tief schlafend; als er mit Mühe wachgerüttelt war, bemerkte er mit Schrecken, daß seine Geldkatze fehlte. Von den letzten Stunden der Fahrt hatte er nur die Erinnerung, daß er bald nach der zweiten Prise fest eingeschlafen sein müsse. Der Reisegefährte war, wie der Postillon angab, unterwegs schon auf einer der ersten kleinen Stationen ausgestiegen. Die polizeilichen Nachforschungen nach ihm waren vergeblich.
Man wußte noch von drei oder vier ähnlichen Vorfällen, die sich in Zwischenpausen von je einigen Monaten auf der Poststraße zwischen Weißenfels und Leipzig und auf deren Abzweigungen ereignet hatten. Der Beraubte hatte jedesmal neben dem Manne mit der Dose allein im Wagen gesessen, hatte jedesmal eine ihm angebotene Prise genommen und war jedesmal schlafend und allein am Ziele angekommen, um erst dort den geschehenen Raub zu bemerken. Von der Dose und der Prise wußten alle diese Beraubten zu erzählen, aber ihre Angaben über Aussehen und muthmaßlichen Beruf ihres Reisegefährten gingen weit auseinander. Im Volke wurde später der Magister Tinius für diesen Räuber gehalten, und ein Gerücht wollte wissen, daß die Gerichtspersonen, die nach der Ermordung der Frau Kunhardt in der Pfarre zu Poserna Haussuchung hielten, dort Perücken, Bärte und Anzüge zum Verkleiden gefunden hätten, ohne aber besondere Notiz davon zu nehmen.
Weder im Untersuchungsgefängniß noch im Zuchthaus war im Verhalten oder in den Aeußerungen des Magisters Tinius irgend etwas erkennbar, was auf Reue oder Gewissensbisse schließen ließ. Man beschäftigte ihn meist mit schriftlichen Arbeiten, und er war dabei fleißig, ruhig und zufrieden. Religiöse Bedürfnisse schien er nicht zu haben, obwohl er in den Mußestunden, die man ihm gewährte, eine Studie über die Offenbarung Johannis ausarbeitete. Zu allgemeinem Erstaunen überstand er die Zucht hausstrafe und trat nun im Jahre 1835 als angehender Siebziger wieder in die Welt, gebleichten Haares, aber ungebeugten Sinnes. In Thüringen war er mit seiner Dose und seinem Hammer schon bei Lebzeiten fast zur Sage geworden. Jetzt erschien er leibhaftig wieder, und die Nachricht, „Tinius kommt“, ging wie ein Schreckensruf durch das Land. Er lebte von da an in großer Dürftigkeit; seine Familie hatte sich von ihm losgesagt, und seine frühere Gemeinde warf für seinen Unterhalt nur 25 Thaler jährlich aus. Längere Zeit verweilte er im Landarmenhaus zu Zeitz. Hier sprachen ihn zuweilen einige Besucher, und es beglückte ihn, wenn sie ihm eine Erfrischung zukommen ließen, und noch mehr, wenn der Geistliche der Anstalt oder sonst ein gebildeter Mann ein wissenschaftliches Gespräch mit ihm anknüpfte. Seine Vergangenheit und seinen Prozeß zu berühren, vermied er keineswegs; er sprach darüber völlig leidenschaftslos und gelassen und suchte nur zu beweisen, daß alles Böse, was man ihm nachsage und nachgewiesen zu haben meine, lediglich in der Einbildung der Zeugen und Richter bestehe; diese seien in Irrthümern befangen gewesen und durch Trugschlüsse verleitet worden. Nie kam ein Wort des Grolles oder der Verbitterung über seine Lippen. Im Armenhaus blieb er nicht, weil die in der Anstalt herrschende Unruhe und Pünktlichkeit ihm störend wurde. Er lebte, allgemein gemieden, bald in diesem, bald in jenem Dorfe in Thüringen. Hin und wieder verschaffte er sich durch Korrekturen, die er für Druckereien besorgte, einen kleinen Verdienst.
Ein alter Weimaraner, Julius Schwabe mit Namen, hat vor einigen Jahren seine interessanten Lebenserinnerungen veröffentlicht. Wir lesen darin, daß er im Jahre 1838 als Tertianer während der Herbstferien zum Besuch bei einem Onkel weilte, der in Ilmenau in Thüringen Superintendent war. Eines Abends saßen die Bewohner des Pfarrhauses plaudernd zusammen, da [92] erzählte der Superintendent als Neuigkeit, daß der Magister Tinius nicht mehr in Zeitz, sondern nur zwei Stunden von Ilmenau in dem Dorfe Ascherode wohne. „Der schreckliche Pfarrer in unserer Nähe?“ fragte schaudernd die Frau vom Hause. Die Kinder erkundigten sich nun, was für eine Bewandtniß es mit dem schrecklichen Pfarrer habe, und darauf begann der Superintendent von Tinius zu erzählen. Eine seiner Geschichten möge hier folgen:
Vor dem Mordanfall auf die Kunhardt, im Winter des Jahres 1812 kam Tinius abends nach 7 Uhr in das Haus des Domänenpächters Amtmann N., den er persönlich kannte und schon mehrmals besucht hatte. Er kam wenige Tage vor dem Termine, an welchem N. sein halbjähriges Pachtgeld zu zahlen hatte, und es war wahrscheinlich, daß die hierzu nöthige Geldsumme bereits vorräthig lag. Als Zweck seines Besuches gab Tinius an, er wünsche sich nach den Verhältnissen eines benachbarten Gutsbesitzers zu erkundigen, der eine ihm bekannte reiche Dame um ein bedeutendes Darlehn gebeten habe. Es waren bereits dunkle Gerüchte über das Treiben des unheimlichen Pfarrers in das Publikum gedrungen, von denen auch N. gehört hatte. Aber wie die meisten schenkte er ihnen keinen Glauben, denn diesen wohlgestellten Mann, diesen ausgezeichneten Kanzelredner und pflichtgetreuen Beamten für einen Räuber zu halten, schien doch gar zu ungeheuerlich. N. gab die verlangte Auskunft, behielt den Pfarrer zum Abendessen, und als dieser aufbrechen wollte, lud er ihn ein, über Nacht zu bleiben, da es zu spät sei, um noch nach dem zwei Stunden entfernten Poserna zu gehen. Tinius nahm die Einladung dankend an. Der freundliche Wirth geleitete seinen Gast in dessen Schlafzimmer, worauf dieser, wie um die Höflichkeit zu erwidern, sagte: „Nun muß ich auch sehen, wo Sie schlafen!“ Er ging mit dem Amtmann in dessen gegenüber auf der andern Seite des Flurs liegendes Schlafzimmer, wo sein Auge rasch die Oertlichkeit überblickte und wahrnahm, daß des Amtmanns Pult in demselben Raume stand und daß auch das Nachtlicht bereits angezündet war.
Mitternacht kam heran. Im Hause war alles still. Da öffnete sich leise die Thür zu des Amtmanns Schlafgemach, eine dunkle Gestalt schlich herein und näherte sich mit dem unhörbaren Schritte eines Raubthieres dem Bette, auf die tiefen Athemzüge des Schlafenden horchend. Da schlug im Nebenzimmer ein Hund laut an, der Amtmann erwachte und sah vor sich den Magister Tinius, in der rechten Hand einen Hammer, in der anderen einen großen Nagel haltend; an seinem linken Arme hing ein Blumenkranz. Erschrocken, doch rasch sich ermannend, sprang N. aus dem Bette, packte Tinius an der Brust und drückte ihn an die Wand. „Hab’ ich Dich, Schurke?“ schrie er ihn an.
Tinius blieb ruhig und sagte: „Kommen Sie doch zur Besinnung, lieber N.! Was denken Sie denn von mir?“
„Daß Du ein Räuber, ein Mörder bist! Was soll der Hammer in Deiner Hand?“
„Mein Gott, so besinnen Sie sich doch,“ sprach Tinius mit beruhigender Stimme weiter. „Morgen ist ja Ihr Geburtstag, und hier, sehen Sie diesen Blumenkranz, den wollte ich über Ihr Bett nageln, damit er Ihnen beim ersten Erwachen meinen Geburtstagsgruß brächte!“
„Sie lügen, Herr Magister,“ entgegnete der Amtmann, ihn gleichwohl von seinem festen Griff befreiend. „Die Geschichte da mit dem Kranze glaube ein anderer! Wie konnten Sie denken, daß ich nicht erwachen sollte, während Sie dicht neben mir einen Nagel in die Wand schlügen?“
„Nun, sehen Sie,“ sagte Tinius lächelnd, „für diese Frage giebt es eine einfache scherzhafte Lösung. Sie äußerten, als wir an Ihrem Tische saßen, Ihr Schlaf sei so gesund und fest, daß man eine Pistole an Ihrem Bette losschießen könnte, ohne Sie zu erwecken.“
„Und was für einen Grund hatten Sie, diesen verdächtigen Hammer bei sich zu führen?“ fragte der von seinem Mißtrauen durchaus nicht befreite Amtmann weiter.
„Das beruht auf einem sehr harmlosen Zufall,“ antwortete Tinius, „Sie wissen ja, ich bin ein halber Tischler und besorge die an meinen zahlreichen Büchergestellen vorkommenden Ausbesserungen meist eigenhändig. ‚Die Axt im Haus erspart den Zimmermann‘, sagt unser Schiller. Vorgestern brauchte ich zu einem solchen Zwecke den Hammer, wollte ihn dann beiseite legen, und da gerade kein bequemer Platz hierzu war, steckte ich ihn einstweilen in die Tasche des neben dem Bücherregal hängenden Mantels, wo ich ihn vergaß und erst heute abend entdeckte. Ohne diesen Zufall hätte ich den Kranz heimlich auf den Tisch vor ihrem Bette gelegt.“
„So ganz ziemlich leidlich präpariert! wie mein lateinischer Lehrer zu sagen pflegte,“ brummte der Amtmann verdrießlich. „Nun aber, bitte, da drüben ist Ihr Zimmer. Und morgen früh –“
„Werde ich das Vergnügen nicht haben,“ unterbrach ihn Tinius, „den Geburtstagsgruß zu wiederholen, den Ihnen dieser Kranz in meinem Namen bringen sollte, denn die aufgehende Sonne wird mich auf dem Wege nach Poserna finden, wo ich schon früh am Tage Amtsgeschäfte zu erledigen habe. Schlafen Sie wohl, und – – ja, Sie haben mir doch recht weh gethan!“ –
Man möchte kaum glauben, daß die Geschichte sich so zugetragen hat, wie sie hier mitgetheilt ist. Wie hätte Tinius, wenn es ihm wirklich gelang, den Amtmann zu töten, zu berauben und dann unbemerkt aus dem Hause zu entkommen, den Kopf wieder aus der Schlinge ziehen wollen, da ihn das Hauspersonal doch jedenfalls kannte? Aber freilich, Tinius wagte viel! Indessen ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß diese Geschichte von dem Amtmann N. eine sagenhafte Fortbildung und Ausbildung desjenigen Vorfalls ist, der sich laut gerichtlicher Feststellung im Hause des Amtmanns Hoffmann in Suhl zutrug und den wir oben erzählt haben.
Ernst und nachdenklich saß im Pfarrhaus zu Ilmenau die Zuhörerschaft, als der Superintendent seine Erzählung über Tinius beendet hatte. Auf dem Kirchthurm schlug es 9 Uhr. Da erklang die Glocke der sich öffnenden Hausthür und man hörte auf dem Hausflur Schritte, die näher kamen. Der Superintendent öffnete die Thür, und ein alter Mann mit eisgrauem Haar, aber aufrechter Haltung, ärmlich, doch sauber gekleidet, trat ins Zimmer.
„Wer sind Sie?“ fragte der Superintendent.
„Ich bin der Magister Tinius“ – –
Schwabe erzählt: Was wir bei diesen Worten empfanden – wie könnte ich es beschreiben! Eine Mischung von Schreck, Grauen und höchstem Interesse durchrieselte uns, als wir den einst so gefürchteten und auch jetzt noch mit ängstlicher Scheu gemiedenen merkwürdige Mann vor uns im Zimmer stehen sahen. Die Tante hatte sich rasch von ihrem Sitze erhoben, bleich vor Schreck; der Onkel war einen Schritt vor dem noch in der Thür stehenden Greis zurückgetreten. „Ich bin der Magister Tinius,“ wiederholte dieser „und bitte um Verzeihung, wenn ich störe. Ich habe ein kleines Anliegen an Sie, Herr Superintendent.“
Dies Anliegen bestand darin, daß der Superintendent im Nachlaß eines kurz zuvor verstorbenen Geistlichen seiner Diözese nach einem seltenen Buche forschen sollte, das Tinius dem Verstorbenen einst geliehen hatte. Der Superintendent wies ihn mit diesem Anliegen an den Rechtsanwalt, der den betreffenden Nachlaß regelte, und fuhr dann fort:
„Denken Sie noch diese Nacht nach Ascherode zurückzugehen?“
„Nein,“ versetzte Tinius, „dazu reichen meine Kräfte nicht mehr aus. Ich habe vorige Woche mein fünfundsiebzigstes Lebensjahr angetreten. Leider bin ich augenblicklich nicht im Besitze der Mittel, um ein Nachtquartier zu bezahlen. Sollten Sie mir ein auch noch so bescheidenes Kämmerchen zum Schlafen gewähren, so wäre ich äußerst dankbar.“
„Ich bedaure, Herr Magister! Sie begreifen.“
„Ich begreife, Herr Superintendent!“ erwiderte Tinius lächelnd und nach dem Thürschloß greifend.
Der Superintendent schrieb eine Anweisung an den Gastwirth des Ortes und übergab sie dem Magister, damit er sie im Gasthause vorzeige und dort übernachte.
„Ach wie froh bin ich,“ sagte einer der Knaben zum Onkel, „daß Du den gefährlichen Mann nicht im Hause behalten hast! Er hatte gewiß Schlimmes im Sinne!“
„Das glaube ich nicht,“ entgegnete der Onkel, „und gefährlich ist er gewiß nicht mehr. Aber es widerstrebte mir doch, einem Manne, der sich mit so vielen und großen Verbrechen beladen hat, mein Haus zü öffnen und Gastfreundschaft zu erweisen, die ich sonst so gern übe.“ –
Ueber das Ende des Magisters Tinius scheint nichts Näheres bekannt geworden zu sein, als daß Verwandte von ihm, die als Schäfer in der Provinz Brandenburg lebten, ihm eine Zufluchtsstätte boten und daß er bei ihnen gestorben ist.