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Ein Verbrechen an der menschlichen Schönheit

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Textdaten
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Autor: Paul Schultze-Naumburg
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Titel: Ein Verbrechen an der menschlichen Schönheit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 478–479
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Verbrechen an der menschlichen Schönheit.

Von Paul Schultze-Naumburg.

Es kann niemand ernsthaft behaupten, daß die Schönheit des menschlichen Körpers im Zunehmen begriffen sei. Die Jahrhunderte haben in mannigfacher Weise gegen jene Schönheit gesündigt, und von der herrlichen Gliederpracht unserer Urväter, die nach Tacitus selbst die körpergewandten Römer staunen machte, ist allgemach vieles entschwunden.

Fig. 1.

Bei uns zu Lande sind es vornehmlich die an das Leben des Stubenhockers Gebundenen die von Geschlecht zu Geschlecht mit immer weniger normalen Leibern ausgestattet werden. Allmählich hat man nun in verschiedenen Dingen eingesehen, an welchen Abgrund man gekommen se[i,] und „bis hierher und nicht weiter“ ist ein Nothschrei geworden, der nicht mehr ungehört verhallen kann. Man hat angefangen, den Leibesübungen und der Körperpflege im allgemeinen wieder eine größere Aufmerksamkeit zu widmen, wofür die Erfolge nicht ausbleiben werden. Und doch wird sich rasch eine große durchgreifende Wendung zum bessern nicht erzielen lassen, da alle Sorgfalt höchstens das wiederherstellen kann, was die Lebensweise unserer Zeit verdirbt, an welche die meisten Menschen unfreiwillig gebunden sind. Eingedrückte Brust, zu schmale und schiefe Schultergürtel, abstehende Schulterblätter, knochige Arme – das sind eben unwillkommene, durch den Zwang des Berufslebens ausgebildete Verunstaltungen, denen nur mit der größten Anstrengung langsam entgegengearbeitet werden kann.

Um so schlimmer ist es nun, daß es auch freiwillig herbeigeführte Verunstaltungen giebt, zu deren Vermeidung nur die nöthige Einsicht und der gute Wille, mit einem Wort der gesunde Menschenverstand fehlt. Greifen wir ein Beispiel heraus: die Füße! Es ist eine traurige, oft verkündete[1], aber, wie mir scheint, immer wieder vergessene Thatsache, daß es bei uns nur noch ganz wenig unverkrüppelte Füße giebt. Der äußere Grund dafür ist einzig und allein in unserer Fußbekleidung zu suchen. Gemeinhin baut man sonst die Kleidung nach dem Körpertheil, den sie bergen und schützen soll; bei unserem landläufigen Stiefel ist dies aber durchaus nicht der Fall – der Fuß muß sich umgekehrt dessen falscher Form anpassen. Ich spreche selbstverständlich hier nicht von Ausnahmen – ich selbst kenne nur drei bis vier Personen, die richtig gefertigtes Schuhwerk tragen!

Fig. 2.

Nach dem anatomischen Bau des Fußes richten sich die heutigen Schuhmacher in ihrer weitaus größten Mehrzahl gar nicht; und das schlimmste daran ist, daß die wenigsten Menschen auch nur eine Ahnung davon haben; ja, die meisten zeigen eine vollkommene Gleichgültigkeit gegen jede Aufklärung. Und selbst diejenigen, die sich unerträgliche Schmerzen an den Füßen bereiten, haben selten Unbefangenheit und Aufrichtigkeit genug, um einzusehen, daß das einzig und allein der falschen Fußbekleidung zuzuschreiben ist, und sträuben sich mit einer wahrhaft unbegreiflichen Hartnäckigkeit gegen diese Einsicht, die ihnen allein dauernde Heilung bringen kann. Man sehe einmal einen anatomisch richtig gebauten Fuß an! Zwar lebende Beispiele für einen solchen haben wir nur noch herzlich wenige unter uns, aber an den Bildwerken der Alten besitzen wir ebenso mustergültige wie unanfechtbare Vorlagen, da die Fußbekleidung jener Zeit im allgemeinen wenigstens die Form der Füße nicht beeinträchtigte.

Für uns handelt es sich in erster Linie um den Grundriß des Fußes (Fig. 1). Zieht man durch die Mitte des Hackens (a) und durch die Mitte der großen Zehe (b) eine gerade Linie, die „Fußachse“, so trifft diese (in d) die projicierte Mitte des Mittelfußknochens der großen Zehe. Sämmtliche Mittelfußknochen bilden mit ihren dazugehörigen Zehenknochen je eine gerade Linie. Diese Linien laufen nach vorn so wenig auseinander, daß sie für uns als parallel gelten können. Somit stünden also alle fünf Zehen zueinander parallel; die längste von ihnen ist die zweite.[2] – Die Mittellinie des ganzen Fußes, durch a und die Mitte des Ballentheiles (c), theilt den Fuß in zwei Tbeile, in einen innern und einen äußern. Man sieht auf den ersten Blick, daß das zwei sehr verschieden gestaltete Sohlenflächen sind.

Fig. 3.

Fig. 2 zeigt uns nun die gewöhnliche Grundform (Sohlenform) unserer Fußbekleidungen. Dieselbe Linie, durch a und c gezogen, zerlegt die Sohle in zwei, vorn fast gleichgestaltete symmetrische Flächen. Und in diese denke man sich den richtig entwickelten Fuß hinein, der in punktierten Linien darüber gezeichnet ist. Das ginge einfach nicht; da aber die meisten Füße von klein auf in die Mißform gesteckt werden, so haben sie sich ihr angepaßt und sehen dann so aus wie der in Fig. 3 vorgeführte. Die große Zehe erleidet eine starke Biegung nach den anderen Zehen zu, und diese theilen sich, so gut es eben geht, in den engen, noch übrig bleibenden Raum. Die Folge ist, daß sie nicht mehr parallel liegen können, sondern alle nach vorn zusammengepreßt werden; die zweite (längste!) Zehe wird zurückgedrängt und krümmt sich krallenförmig, das Gelenk der großen Zehe (mit ihrem Mittelfußknochen) wird bei c herausgetrieben und bekommt Schwielen und Entzündungen; sämmtliche Zehen verlieren durch die starke Pressung gegeneinander ihre runde Form und werden vierkantig; [479] oder sie lagern sich über- und untereinander – ein lieblicher Anblick! Sehr treffend führt Professor Meyer in seinem Buche[3] ein Citat an, in dem es heißt, in manchem Schuh steckten die Zehen so kreuz und quer wie ein Haufen junger Hunde in einem Korb. – Manch ein Schuhmacher könnte wohl die unglaublichsten Berichte über Verunstaltungen der Füße abstatten; der meine behauptet, er kenne keinen normalen Damenfuß.

Aus dem Vorhergehenden ist wohl klar genug ersichtlich, daß jeder Schuh, bei dem eine Zuspitzung nach der Mitte zu stattfindet, fehlerhaft gebaut ist. Die beste Probe dafür ist, ein Paar Stiefel nebeneinander zu stellen. Berühren sich wie in Fig. 4 die Fersen (a), die Ballen (b) und der innere Rand der Spitzen (c), so sind die Stiefel richtig geformt. Fehlerhaft dagegen ist die in Fig. 5 dargestellte allgemein übliche Form; hier berühren sich nur Fersen und Ballen, die großen Zehen bilden einen starken Winkel.

Fig. 4.

Es ist eine bezeichnende Thatsache, daß man gerade das, was mit jenem unvernünftigen Schuhwerk bezweckt wird, nicht erreicht: die Leute wollen nämlich den Anschein erwecken, als besäßen sie einen sehr zierlichen Fuß, und doch bewirken sie durch das Tragen solcher Schuhe das gerade Gegentheil. Aber trotz alledem ziehen die meisten Damen die so verunstalteten Füße einem Verzicht auf die einzig „elegante“ und „zierliche“ Gestalt ihrer Stiefel vor – wenn sie sich überhaupt je Gedanken darüber gemacht haben. Denn es ist nun einmal Menschennatur, gläubig und ohne Murren das hinzunehmen, was gäng und gäbe ist, und wäre es auch der größte Unverstand. Und in unserem Fall ist es nun einmal Sitte, Stiesel „zum Wechseln“ zu tragen. Man betrachte Fig. 6! Die punktierte Linie ist die richtige Sohlenform für den einen Fuß; in diese soll auch der andere passen! Das ist eben nur möglich, wenn dessen natürliche Gestalt schon verloren ging, d. h. verkrüppelt ist. – Aber eher werden wohl alle schönen Füße ausgerottet als dieser Irrthum. Ist doch die Unwissenheit über den Bau des Fußes eine so große, daß es geradezu Anstoß erregen würde, wenn z. B. jemand mit richtig der Fußform angepaßten Stiefeln den Ballsaal betreten wollte!

Fig. 5.

Man hört oft die leere Entschuldigung: o, man trage ja sehr weites Schuhwerk, es drücke gar nicht. Das ist schon möglich. Ein Stiefel kann grundfalsch sein und braucht doch nicht zu drücken, wenn nämlich der Fuß schon durch Vergewaltigung von Anfang an die häßliche Form angenommen hat. Das ist es eben: die kleinsten Kinder schon bekommen solche verunstaltende Schuhe. Die zarten Füßchen, die dem geringsten Drucke nachgeben, passen sich von klein auf einer Form an, die ganz willkürlich, durch Nachlässigkeit und falsche Modeansichten, entstanden und herrschend geworden ist. Und auf welche Kurzsichtigkeit muß man da bei Eltern stoßen! Eine mir bekannte Dame gab ihren heranwachsenden Töchtern die den Wunsch äußerten, sich abends der drückenden Stiefel zu entledigen, die Anweisung, diese nicht vor dem Zubettgehen auszuziehen, „damit der Fuß klein und zierlich bleibe.“ O heilige Einfalt! Ob sie wohl jemals die „kleinen und zierlichen“ Füße ihrer Kinder gesehen hat; oder ob ihr jegliches Gefühl für Schönheit abhanden gekommen war? Ich glaube nicht, daß dieser Fall vereinzelt dasteht.

Das ist traurig, denn der menschliche Fuß ist schön und steht der Hand nicht nach. Doch dafür haben die Menschen keinen Sinn, für spitze Stiefeletten mit hohen Hacken schon eher! Nicht einmal alle Künstler besitzen ein Auge für die Verunstaltungen der Füße. Denn an sehr vielen Bildern sieht man, daß es ihnen entweder nicht darum zu thun war, Modelle mit unverdorbenen Füßen zu bekommen, oder daß sie selbst nicht wußten, wie solche aussehen. Wenn sie es gewußt hätten, so würden sie unmöglich ihren Idealfiguren die zufälligen Fußmängel des Modells gegeben haben. Oder ist es nicht vielleicht eine künstlerische Sünde, wenn eine Verkörperung etwa der Dichtkunst uns zu der unumgänglichen Annahme zwingt, diese Dame habe moderne Stiefeletten getragen!

Selbstverständlich wird auch die gesundheitliche Frage stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Plattfuß wird durch die übereinstimmende Form der beiden Stiefel begünstigt. Fig. 7 zeigt den Querdurchschnitt durch den Spann der beiden Füße, von vorn gesehen. Die höchste Höhe liegt bei beiden innen, bei a und b. Würde man nun einen für den linken Fuß passenden Stiefel über den rechten ziehen, so wäre dessen Durchschnitt die punktierte Linie. Selbstverständlich wird dadurch a heruntergedrückt und die Wölbung des Fußes beeinträchtigt, d. h. die Anlage zum Plattfuß wird herbeigeführt.

Fig. 6.

Auch der Gang und die Haltung wird wesentlich durch die Füße beeinflußt. Doch das ist ein weitläufiges Gebiet für sich, welches zu erschöpfen hier nicht der Raum ist.

Wirft man einen Blick auf die geschichtliche Entwicklang der Fußbekleidung, so ist es bezeichnend, daß immer in Perioden des Verfalls wie alles, so auch das Schuhwerk von der Natur abweicht. In den guten klassischen Zeiten der beiden großen Kulturvölker Italiens und Griechenlands muß die Fußbekleidung eine durchaus natürliche gewesen sein, das sieht man aus ihren Bildwerken in Marmor und Erz; die römische Kaiserzeit aber brachte eine solche Fülle von Modethorheiten mit sich, daß auch die Füße darunter Noth litten. In Deutschland trug man im ersten Jahrtausend den Füßen ziemlich genau angepaßte Schuhe; gegen Ende des 11. Jahrhunderts kamen die berüchtigten Schnabelschuhe auf, die sich fast vierhundert Jahre erhielten; doch auch diese waren meistens harmlos, da sie bei sonst richtiger Form einfach vorn eine Spitze ansetzten, die mit Werg ausgestopft war und nur recht abenteuerlich aussah.

Fig. 7.

Aber allmählich wich man – wohl großentheils durch Nachlässigkeit – von der richtigen Form ab: auf Bildern der oberdeutschen Schule kann man neben sehr schön entwickelten Füßen auch schon recht verunstaltete sehen. Am schlimmsten wurde es wohl im 18. Jahrhundert; wie das Rokoko überhaupt die Natur gern meisterte, so entstanden damals Fußbekleidungen, über die man einfach den Kopf schütteln muß. Man machte die Stiefel so klein, daß es den Anschein erweckt, als hätten sich die Frauen geschämt, überhaupt Füße zu haben.

Es bleibt noch die Frage zu erörtern: wie verhütet man weitere Verkrüppelungen der Füße, oder, wo dies bereits geschehen ist, wie stellt man die ursprüngliche Gestalt wieder her? Es giebt nur einen Weg: traget Schuhwerk, welches dem Bau des Fußes entspricht, zunächst nie mehr Stiefel „zum Wechseln“! Dann wird jeder darauf zu achten haben, daß seine Fußbekleidung nach der besonderen Form gerade seiner Füße gearbeitet sei; allmählich läßt man – ein plötzlicher Uebergang zur ganz naturgemäßen Gestalt ist aus verschiedenen Gründen nicht anzurathen – für die große Zehenseite, und nach Bedürfniß oder Noth auch für die kleine Zehenseite, immer mehr Raum und geht schließlich zur richtigen Form über. – Eine genaue Anleitung findet jeder, dem an der Sache ernstlich liegt, in dem geanannten Buch von Meyer. Diese Zeilen verfolgen nur den Zweck, wieder einmal auf die Thatsachen selbst aufmerksam zu machen, und wenn sie da und dort eine vernünftige Ueberlegung hervorrufen, so ist ein weiterer Schritt gethan auf dem Weg, die Herrschaft der Mode und der Unnatur einzuschränken.



  1. Die „Gartenlaube“ brachte schon 1857 einen Aufsatz über die „Prokrustesqualen im 19. Jahrhundert“.
  2. Nach den Alten wenigstens. Bei uns findet man sehr oft auch bei normalen Füßen die große Zehe als die längste – schöner ist wohl das erstere.
  3. „Die richtige Gestalt des menschlichen Körpers“ von Professor Dr. G. H. Meyer in Zürich (Meyer und Zeller, Stuttgart). Ein lesenswerthes Buch für jeden, der sich über die Sache eingehender unterrichten will, als ihm hier ermöglicht werden kann.