Ein Traum (Ernst Ziel)
Es war ein Traum, schreckhaft zugleich und süß –
Den brachte mir die laue Frühlingsnacht.
Auf öder Haide, wolkenüberhängt,
Schritt einsam ich im Dunst der Morgenfrühe –
Ich war nicht ich – –
Auf allen Wassern wehten meine Flaggen,
Und was der Sinn vermessen je begehrt,
Ein Schloß am Meer und duft’ge Wundergärten
Und Rosse, die in goldnes Zaumwerk schäumen –
Mein nannt’ ich alle Schätze dieser Welt.
Doch über alles meinem Herzen theuer
War mir ein liebes Weib und traute Kinder,
Die mir am Lebenspfad wie Blumen blühten.
„O süße Lust des Athmens, holdes Leben,“
Rief ich in meines Glückes Ueberschwang,
„Wie schön bist du!“
Da plötzlich bebt der Boden unter mir,
Und durch die Lüfte rollt’s wie ferner Donner.
Der Nebel quillt und kocht und braut und brodelt
Und ballt sich zu Gestalten wunderbar.
Die zieh’n, ein bunt Gemisch, in langem Zuge
Die wüste Flur entlang, fernher, fernher,
Und deutlicher, indem sie näher zieh’n,
Gewahrt sie mein erstaunter Blick. Die Reihen
Durchschweift er fragend, bis er festgebannt
Auf einer schrecklichen Gestalt verweilt;
Er reißt sich schaudernd los und fühlt sich schaudernd
Auf’s neu gefesselt mit Dämonenmacht.
Ein Knochenmann ist’s, hohl das Aug’ und grinsend
Das leere, fleischlos knöcherne Gesicht;
In leichtem Tanzschritt wirft er gräßlich klappernd
Das dürre Bein; ein Mönchsgewand umschlottert
Ihm weiß und faltenreich den Leib, indeß
Den Schädel, nackt und kahl, ein Tuch umhüllt,
Das rabenschwarz im Wind, gleich Flügeln, flattert.
In hagrer Hand schwingt eine Glocke er,
Die, schaurig durch die weite Oede hallend,
Mit gellem Ruf sie alle lockt und bannt,
Der Haidewandrer ungezählte Schaaren:
Die rüst’ge Jugend fühlt sich fortgerissen
Vom halbgeleerten Taumelkelch der Lust;
Der müde Greis ergreift den Stab noch einmal
Und schließt dem Zug sich an mit schwankem Schritt;
Der König läßt sein Reich und seine Kronen
und folgt des beinernen Gesellen Spur;
Der Lahme trägt ihm ächzend seine Krücken
und seine Lumpen ihm der Bettler nach,
Und jede Zone sendet ihre Kinder –
Zum großen Heerbann stellen Alle sich,
So jung, wie alt.
Und dort – Entsetzen faßt mich eisig an – –
Der Bursche dort trägt meiner Jugend Züge –
So wehten mir um’s Knabenhaupt die Locken.
Und – jäh im Herzen stockt des Blutes Welle –
Mit meines Weibes Blick sieht jenes Weib
Mich an – so lächelte mir einst die Traute,
Als sie das erste Du mir sprach – und ach!
In dieses Kindes unschuldvollen Mienen
Find’ ich das eig’ne Kind, das theure, wieder.
Horch nun! beschleicht der flüchtg’e Haidewind
Mit Menschenstimme seufzend nicht mein Ohr?
„Das End’ ist Scheiden“ klingt es, „Tod die Summe
Von allem holden Erdenglück, und leben
Heißt leiden müssen.“
Ich schaudere – in’s feuchte Haidekraut
Knie’ bebend ich und berg’ das Haupt im Sande
Und weine laut.
Still ist’s ringsum, und leise, kaum vernehmbar
Hör’ ich des Todes Zug vorübergleiten
Und fern verhallen seiner Glocke Schall.
Dann schweigt die Haide – Schweigen auch in mir!
Und ausgelöscht, wie Sonnengluth am Abend,
Ist in der Brust mir das Gefühl des Lebens.
Auf einmal welch ein neues Bild! Zwei Augen,
Zwei liebe Augen leuchten über mir,
Und „Vater!“ tönt es mir von Kindeslippen –
Und in die Arme schließ’ ich meinen Knaben.
„Der Erde Höchstes,“ ruf ich, „ist die Liebe;
Sie söhnt uns aus mit jedem Lebensleid,
Selbst mit dem Tode.
Was liegt an mir und meinem armen Glück?
Nichts ist der Mensch, und Alles ist die Menschheit –
Den rafft der Tod, doch diese bleibt und blühet,
Und das Gefühl, das zwischen Kind und Vater
Mit heil’ger Inbrunst seine Brücke schlägt,
Es schlingt den Liebesarm um die Geschlechter
Und eint Vergang’nes mit Zukünftigem.“
Und wie ich’s denke, leuchtet durch’s Gewölk
Die Sonne auf – im Lichtglanz liegt die Haide,
Und eine mächt’ge Stimme ruft vom Himmel:
„Der Menschheit Leben ist das ew’ge Leben.“
Das war mein Traum, schreckhaft zugleich und süß –
Den brachte mir die laue Frühlingsnacht.