Ein Straßenbau und die Anlage einer deutschen Colonie in Brasilien (1)
Ein Straßenbau und die Anlage einer deutschen Colonie in Brasilien.
Wenn Einer im Jahre 1855 oder 1856 eine Reise von Rio de Janeiro „landeinwärts“ machen wollte, so hatte er zuerst sein Billet bei der Agentur der Mauádampfer und Mauá-Eisenbahn zu lösen (so benannt nach dem Erbauer Barão de Mauá), wobei auch die Wagenfahrt vom Fuße der „Serra“ bis nach der mehr denn 2000 Fuß hoch gelegenen früheren deutschen Colonie Petropolis mit inbegriffen war.
Ein kleiner Raddampfer nahm ihn auf und trug ihn in wenig Stunden an palmengeschmückten, felsumsäumten, paradiesisch schönen Eilanden vorbei nach dem Hintergrunde der Bai, wo er auf einer Pfahlbaulandungsbrücke den harrenden Zug bestieg. – Dann ging es während einer Stunde zuerst durch sumpfige, mit Papyrus und sonstigen Rohr- und Schilfgewächsen dicht bedeckte Niederungen, die von halbverkrüppelten, mit Bromelien, Moos und Usneen bedeckten Bäumen und Sträuchern begrenzt sind, um schließlich trockenen Boden und die ersten vorgeschobenen Hügel des Küstengebirges zu erreichen. An der Endstation der Eisenbahn harrten ein Dutzend altmodischer, mit je vier mageren Maulthieren bespannter Kutschen, die unter obligatem Peitschenknall und Gejohle sich alsbald in Bewegung setzten, wenngleich die armen, abgetriebenen Thiere die bedeutende Steigung mit der schweren Last kaum bewältigen zu können schienen. Die Straße, welche damals erst fertig geworden war und von den Brasilianern trotz ihrer bedeutenden Mängel als ein Wunderwerk der Baukunst angestaunt wurde, zieht sich in vielen Dutzenden von scharfen Wendungen an dem steilen, felsigen Hange hinauf. Herrlich ist die uns umgebende Natur: Während sich rückwärts ein wundervoller Blick auf die Niederung und die Bai eröffnet und mehr und mehr an Tiefe gewinnt, rücken uns die schroffen, in ihrer unteren Hälfte trotzdem dicht bewaldeten Seitenwände des Thales näher und näher, erkennen wir in dem bis an den Straßenrand vordringenden üppigen Grün die zierlichen Fiederwedel baumartiger Farne, die schwanken Schäfte verschiedener Bambusse, breitblättrige Maranthas, stachelige Astrocarien und andere Palmenarten – kurz, das üppigste Unterholz und Dickicht umgiebt uns, während weiterhin hochstämmige Myrtaceen, Ficusarten und andere Riesen des Urwaldes, welche bei dessen erster Lichtung stehen geblieben, die Aussicht abschließen. Dabei sprudelt in jeder Felsrinne das herrlichste Wasser, und liegt, wenn wir einmal die halbe Höhe überschritten, ein Hauch von Frische über dem Ganzen, der für den aus dem heißen Tieflande und dem schwülen Rio Kommenden etwas geradezu Entzückendes hat.
Endlich haben wir die Sattel- oder Paßhöhe mit etwa 2300 Fuß über dem Meere erreicht und die Straße beginnt langsam zu fallen; noch eine kurze Strecke, welche die abgetriebenen Maulthiere im Galopp zurücklegen müssen, und wir befinden uns in Petropolis.
Weiß getünchte, niedrige Häuser mit grünen Läden, breite, baumbepflanzte Straßen, in deren Mitte ein rauschender Bach, der zwischen künstlich abgeböschten Ufern hübsch geradlinig und rechtwinkelig fließen muß (wofür er sich dadurch rächt, daß er bald hier, bald da über die Schnur haut und das Ufer unterspült) – Neugierige und Flaneurs, welche in den offenen Thüren der zahlreich vorhandenen Magazine stehen und die ankommenden Passagiere mustern – in der Ferne ein langgestrecktes Gebäude, welches ganz gut ein Conversations- oder Curhaus vorstellen könnte, in Wahrheit aber ein kaiserliches Lustschloß ist, rings bewaldete Berge, aus deren Grün da und dort eine Villa hervorlugt – kurz, es ist ein kleines deutsches Badestädtchen, in das wir urplötzlich versetzt wurden. Auch einzelne Sprachlaute, die wir da und dort, z. B. von unserem Kutscher hören, können wohl dazu beitragen, uns in unserer Illusion zu bestärken: – „Du, [284] Hannes,“ sagt da Einer, „lang mer emol die Beitsch!“ und wir glauben, uns am Rhein oder an der Mosel zu befinden, wenngleich sich das landesübliche Portugiesisch gleichfalls bemerkbar macht.
Ein guter Gasthof nimmt uns auf, und wir sind glücklich, nach langer Zeit wieder einmal in frischerer Atmosphäre schlafen zu können, ohne von blutdürstigen Mosquitos und deren entsetzlichen Geigensonaten gepeinigt zu werden. Man könnte hier sicherlich ein paar recht angenehme Wochen verbringen, aber wir wollen ja in’s „Innere“, und geschieden muß sein, nicht allein vom schmucken, kleinen Petropolis, sondern (damals wenigstens) von aller und jeder Bequemlichkeit des Reisens und Lebens – mit einem Worte von europäischer Sitte und Cultur.
Gleich hinter dem Städtchen beginnt jener gräuliche Saumpfad, den in einer gewissen Jahreszeit nach der Haupt-Kaffee-Ernte wohl an 2000 Maulthiere per Tag überwinden müssen, obgleich, besonders in der Regenzeit, buchstäblich beinahe jeder Schritt vorwärts nur mit der größten Anstrengung, ja mit Lebensgefahr ausgeführt werden kann. Wir miethen ein starkes Maulthier und kaufen Sattel und Zaumzeug, und unter der Leitung eines Führers, der zugleich ein mit zwei kleinen Holzkoffern, den sogenannten Canastras, bepacktes Lastthier treibt, ziehen wir ab.
Der gänzlich unregelmäßige, hier breite, dort schmale, ohne Grund steil ansteigende und ebenso wieder fallende Pfad führt der Hauptsache nach der Piabanha entlang – in der trockenen Jahreszeit ein rauschender Bach, zur Regenzeit ein reißender Wildstrom! Die Natur rings um uns herum ist unsäglich herrlich und großartig, aber auch der Weg zu unseren Füßen spottet jeder Beschreibung! An den besten Stellen, das heißt da, wo seine rothe Schlammmasse noch ergründlich ist, haben die Tausende und aber Tausende von Maulthierfüßen eine ganz regelmäßig gestaltete, durch hohe Schlammkämme getrennte Reihe von Löchern hineingestampft, in die wieder jedes nachfolgende Thier sorgfältig seine Beine setzt, sodaß von einem nur irgendwie beschleunigten Schritte nicht die Rede sein kann. Die Straße sieht aus wie ein steifgewordenes Wellenmeer aus rothbrauner Erde. Die Füße des Reiters sowie die unteren Flächen der Ladung, Koffer und Tragkörbe, streifen dabei in manchen Fällen die Kämme, und jede unvorsichtige Bewegung kann uns zu Fall bringen. Aber es soll noch besser kommen! An einer Stelle, wo rechts die glatte, nackte Gneiswand schroff sich erhebt, und links in der Tiefe die hochangelaufene Piabanha schäumt und tobt, als suche sie ein Opfer, ist der aus Geröll und rother Erde zusammengesetzte Straßenkörper (wenn man so sagen kann) in einer Weise durchgeweicht, daß er auf mehr denn 200 Schritte nur eine einzige unergründliche Breimasse bildet, in der Roß und Reiter beim ersten Schritte unrettbar versinken würden. Die Reste eines die Luft verpestenden Pferdecadavers, um welche eine Schaar von schwarzen Aasgeiern sich zankt, während andere, die sich schon gesättigt, mit halbgeöffneten Fittigen bewegungslos, wie aus Erz gegossen, auf den nächsten Felsblöcken und dürren Stämmen sitzen – bilden in dieser Hinsicht ein eigenes, sehr eindringliches Memento! Aber wie hinüber kommen?
Der Fels zur Rechten ist zu steil und zu glatt, um für anderes Gethier, als Affen und Katzen, eine genügende Stütze zu bieten, und zur Linken bespült der tobende Wildstrom den auf einem undefinirbaren Chaos von Wurzeln, Treibholz und Felsblöcken ruhenden Fuß der scheußlichen rothen Teigmasse, sodaß jeder Versuch zur Umgehung auf dieser Seite sicherer Untergang wäre.
Schon beginnt die Sonne sich zu neigen, und noch stehen wir rathlos vor der ungelösten Schwierigkeit, als am jenseitigen Ende des ominösen Platzes eine mit Kaffee beladene Maulthiertruppe von 60 bis 70 Köpfen anlangt. Das vorderste, mit Glocke und Roßhaarbüschen gezierte stattliche Leitthier bleibt plötzlich stehen und reckt den starken Hals, um scheuen Blickes und mit weit geöffneten Nüstern die Gefahr auszuwittern. – Von hinten drängen und stoßen seine Gefährten; es weicht jedoch nicht von der Stelle; aber während der Zeit sind die Arrieiros und Treiber abgestiegen, haben sich die verzweifelte Sachlage angesehen und gehen unverzüglich an die Ausführung des einzig möglichen Auskunftsmittels – nämlich eine Brücke zu bauen. – Aber keine Brücke oder Knüppeldamm aus Holz, da es zu deren Herstellung nahezu an allem Nöthigen, besonders aber an Material und Zeit gebrechen würde, sondern eine Brücke soll gebaut werden, wie sie noch in keinem Compendium der Ingenieurwissenschaften [285] beschrieben ist – eine Brücke aus Ochsenhäuten! Zu diesem Ende werden sämmtliche Thiere unter unglaublichen Schwierigkeiten auf dem engen Raume in knietiefem Schmutze abgeladen, die zur Bedeckung der kostbaren Ladung dienenden getrockneten Häute herunter genommen und vorsichtig eine nach der andern, dachziegelartig, über und neben einander, fein säuberlich auf den lieblichen Brei gelegt. Kein Professor der Physik hätte die Aufgabe, auf halbflüssiger Unterlage mittelst elastisch nachgebenden Platten durch Vertheilung der Last und Benützung des hydrostatischen Gegendruckes eine gangbare Passage zu schaffen, besser zu lösen vermocht, als diese braunen Burschen es thaten.
Aber welche Arbeit, welche Anstrengung! – da zu gleicher Zeit auch die Kaffeesäcke auf trockener Unterlage in Sicherheit gebracht werden müssen und die „Couros“ ja zum Brückenbau unentbehrlich sind!
Da mußten denn die Packsättel selbst herhalten, die dicht neben einander auf die Seite gelegt eine Basis für die Säcke und Bambuskörbe abgaben, bis nicht nur die Thiere eines nach dem andern am Halfter über die schwankende Hautschicht geführt, sondern auch die Ladung selbst abtheilungsweise auf dem Rücken der Treiber herüber gebracht und die Thiere nach und nach wieder gesattelt und beladen werden konnten.
Wir beeilen uns, die Nothbrücke zu benützen, so lange sie noch intact ist, und suchen die nächste „Posada“ wenigstens noch vor dem Einbruche vollständiger Dunkelheit zu erreichen, um so mehr, da der Himmel seine Schleusen geöffnet und unsere Ponchos von Schmutz und Regen triefen.
Ein kaum genießbares, aus Carne secca (getrocknetem Fleisch), Bohnen und Mandiocamehl bestehendes Abendbrod und ein Schluck mit Schnaps stark versetzten Lissabon-Weines ist neben einem harten Lager mit feuchten Laken Alles, was wir zur Stärkung unseres Leibes für die Mühen der nächsten Tage zu erlangen vermögen.
Mag auch eine Scylla, gleich den beschriebenen, nicht jeden Tag zu passiren sein, so fehlt es doch nicht an Löchern, die gerade tief genug sind, daß unser Roß bis zur Brust darin versinke, und wie in der Libyschen Wüste bezeichnen Thierleichen und Gerippe den Pfad, der den hochtrabenden Namen führt: Estrada geral para a provincia de Minas-Geraës.
Aber selbst dann, wenn nach anhaltender Trockenheit in den Monaten Juni bis September ein Theil der „Fallgruben“ verschwunden war (die schlimmsten und tiefsten trockneten nie ganz aus), blieben auf der Hauptstraße des Reiches immer noch derartige technische Mängel an steilen Hängen und Steigen (wobei Höhen von 1000 und mehr Fuß oft ganz unnöthiger Weise erklommen werden mußten), an dürftigen Flußübergängen und schlechten Brücken, an ungenügendem Schutz für Menschen, Thiere und Ladung, daß die Uebelstände in Wahrheit unerträglich schienen.
Damals trat ein Deputirter in der Kammer auf, Dr. Manuel de Mello-Franco, um zu sagen: „Meus Senhores, eine solche Straße, wie diese Estrada geral, ist eigentlich nichts Anderes denn eine ‚Blocade‘, und nicht einmal in milderer Form, und wenn die kaiserliche Regierung für meine heimathliche Provinz Minas – die erste und beste des Reiches – in dieser Hinsicht Nichts thun will, so muß dieselbe ersticken.“ –
Aber die kaiserliche Regierung hatte schließlich ein gnädig Einsehen, und es kam unter Zinsengarantie von sieben Procent von Seiten des Staates eine Actiengesellschaft unter dem Namen Companhia União e Industria zu Stande, welche sich die Aufgabe stellte, wenigstens auf dieser ersten aller brasilianischen Verkehrslinien, auf der directesten Route von der Reichshauptstadt nach dem Innern des Landes, durch die reichsten Kaffeeplantagen und nach der durch ihre Bevölkerungszahl wie durch ihre Producte hochwichtigen Provinz Minas eine Normalstraße für Fuhrwerksbetrieb statt des entsetzlichen alten Saumthierpfades herzustellen.