Ein Morgen vor der Breslauer Hütte in den Oetzthaler Alpen
[98] Ein Morgen vor der Breslauer Hütte in den Oetzthaler Alpen. (Zu dem
Bilde S. 89.) Herrlich sind die Thäler, die von dem mächtig
schwellenden Inn sich südwärts in die Tiroler Alpen
hinaufziehen. Das größte unter ihnen ist das
Oetzthal, das die nach ihm benannte Oetzthaler Ache
durchrauscht. In einer Länge von 86 km
klimmt es von Stufe zu Stufe, bald als breites grünendes Gelände, bald
als eine Kette wilder Schluchten und Klausen hoch in das Gebirge hinan,
bis es sich mit seinen äußersten Ausläufern in der starren Wildnis des
ewigen Schnees und Eises verliert. Gegen siebzig über 3000 m hohe
gletscherumpanzerte Spitzen bilden die Zinnen des gewaltigen
Gebirges, in das es eingezwängt ist, und bis zu der stolzen Höhe von
3776 m steigt die Wildspitze, die Königin der Oetzthaler Alpen, empor.
Seit lange wandern die Touristen in dieses Gebiet, in dem die Ferner
oder Gletscher sich in ihrer funkelnden Pracht und in mannigfaltigsten
Gestalten dem staunenden Auge des Beschauers darbieten.
Die Rundsichten von der Wildspitze und der nur um 30 m
niedrigeren Weißkugel zählen zu den großartigsten in den Alpen. Der
Weg zu diesen Gipfeln führt durch einen der südlichen Ausläufer
des Oetzthales, durch das Vent- oder Fendthal. Das Dörfchen Vent, am Fuße
der Thalleitspitze in 1893 m Höhe gelegen, bildet überhaupt einen
wichtigen Ausgangspunkt für die Hochgebirgstouristen, denn
von ihm führen fünfundzwanzig Hochpässe in die benachbarten
Thäler. Von ihm aus kann auch die Wildspitze bestiegen
werden; auf dem Wege hat die Sektion des Deutschen und
Oesterreichischen Alpenvereines Breslau bereits
im Jahre 1882 eine Schutzhütte errichtet. Das durch mächtige Felsen
geschützte Haus liegt in der Höhe von 2848 m am Fuße des Oetzthaler
Urkunds inmitten der prächtigsten Hochgebirgsscenerie. Im Jahre 1896
wurde die Hütte durch einen Anbau vergrößert; während des Sommers
ist sie ständig bewirtschaftet. Unser Bild zeigt uns einen Morgen
vor der Hütte. Bei Sonnenaufgang wallten die Nebel in den Thälern,
verdächtiges Gewölk ballte sich um die schneeigen Häupter der Bergriesen
und die Alpenkrähen wichen nicht von dem Dache des Hauses. Nun
aber sind die Anzeichen des schlechten Wetters geschwunden; die
Sonne siegt und unter klarer werdendem Himmel blitzen bereits die
Gletscher wie Silberpanzer; in weite Ferne entfliegen die Alpenvögel
und nun brechen auch die Touristen auf, um von den hohen und höchsten Zinnen Berge und Thäler aus der Vogelschau zu bewundern. *