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Ein Gesang von Toten

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Textdaten
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Autor: Franz Werfel
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Titel: Ein Gesang von Toten
Untertitel:
aus: Wir sind, S. 5, 7-14
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Kurt Wolff Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[5]

Ein Gesang von Toten

[7]

Der Staatsmann

Im wilden Sitzungssaale
– Ich räusperte mich allzuoft
Und stand, als Lineale
Den Schädel schonten unverhofft.

5
In meines Herrn Kaleschen

– Er war nervös und dunkelstumm –
Durchfuhr ich goldne Breschen
Von Flaggen, Wind und Publikum.
Auf künstlichen Kongressen

10
Besah ich manches Ordensband,

Zu Hause die Komtessen
Küßten mir artig Wang’ und Hand.
Nun ist es mir verglitten –
So leer es war, nun ist es um.

15
O Klang von Wort und Schritten!

Ein Ruf nur bleibt. Warum?

Das Dienstmädchen

Kleiner Weg durch kleine Küchen!
Früh sagt der Portwisch: Mach rein!
Und da kommt der Herr mit verschlafenen Flüchen,

20
Und die Frau ohne Haar ist gemein.

Oft sang ich an einem Bügelbrett.
Nachts lag ich in einem roten Bett.
Und kamen abends Gäste ins Haus,
Sahn sie mich nicht an beim Schmaus.

[8]

25
Sie sahen nicht Blässe und Augenstriche, –

Hatte ich da das Monatliche,
Lief ich doch ein und aus.
Einst war ein Sonntag gut
Im Kino und beim Photographen …

30
Nun aufgewacht und ausgeschlafen,

Was ist es, daß mein Herz nicht ruht?

Der Kanarienvogel

Ich sprang von meinem Holm
In den Silberring.
Da schlugen große Uhren durchs Zimmer,

35
Und oft vom Flügel

Kam riesige Wonne her.
Es waren Wesen da
Mit Paradiesesstimmen,
Die brachten früh mein gelbes Bad.

40
Sonst kamen nur Wolken genaht

Und der Fensterbaum immer.
Einst schwebten Augen auf mich herab,
Da schwirrte ich in meinen kleinen Sand.
     War müd’ und tot.

45
Was bin ich noch da?


Die Schultasche

An den Kinder-Knien
Schlug ich hin und her,
Manchmal wie es schien
War ich leicht und manchmal war ich schwer.

[9]

50
Niemand war der Freund

Der mich treue schätzt.
Eine Hand gebräunt,
Hat mich schwarzgenägelt, dann zerfetzt.

Einmal war ich hier

55
Und bin doch nicht aus.

Warum gibt’s in mir
Alte Sehnsucht noch nach altem Haus.

Der Geist

Nicht ist es mir bestimmt zu ruhn,
Da ich doch einmal schmerzlich bin,

60
In alles mich hineinzutun

Und Form zu werden, ist mein Sinn.
Wer zwingt mich denn dazu,
In Qual und Trägheit zu erstehn,
Statt in die zarte Ruh’

65
Des Niegenanntseins zu zergehn.

Was war ich denn ein kleiner Traum,
War Susa und war Kapernaum?
Ein Held, der wild mit Niggern rang,
Und eine alte Frau,

70
Die nachts ins Wasser sprang?

Und immerfort bin ich ein Ort,
Bin Sternenwind und -tier
Und bin Ihr alle vier.

[10]

Der Staatsmann

Auch war einmal ein Tag,

75
Da gab mein König mir die Hand,

Und eine Träne stand
In seinem Aug’ und seine Hand
In meiner lange lag.
Aus meiner Brust empor,

80
Schwang sich ein Wonnen-Chor,

Goldschwirrend, wie aus einem schönen Vogelschlag.

Das Dienstmädchen

Einst sagte die Mutter zu mir:
Was lachst denn dummes Mädel?
Die Landstraß’ war schön,

85
Der Himmel war schön,

Gott, hab’ ich da weitergelacht! –

Der Kanarienvogel

Oft wußt ich, daß eine Mutter war,
Die sang durch meine Nacht wunderbar,
Was in uns rann, war eins.

90
Da kam das, was ich nicht verstand,

Hob sich auf vom Schnabelrand,
     Jubel und schön!

Die Schultasche

Einmal senkte jemand in mich
Eine Chrestomathie.

[11]

95
Und da geschahs, da lebte ich.

Groß, wie noch nie.
Zufühlt’ ich rings dem, was geschah,
Wir alle sind, alle sind da!!

Der Geist

Ihr alle, alle, die ich bin

100
Ja Freude, Freude ist der Sinn!

In dem Ekel der Ewigkeit
Kommt jedem seine Zeit
Und reißt ihn hin.
Gott, Freude, Ziel der Verwandlung, dem ich danken kann,

105
Daß ich nie verrinn, wie ich nie verrann!

Ich stürze — — — ich bete an!

Gesang der Toten vor neuem Leben

Wie es sich doch bereitet,
In neue Sphären uns zu ziehn.
Wie formt, was uns begleitet,

110
An neuen Schultern schon und Knien?!


Ein süß geschwelltes Trauern
Zeigt uns Durchschwebtes wunderbar,
Zeigt uns in altem Schauern,
Wie ich im Speisezimmer war.

[12]

115
Zeigt, was uns zugemessen

An Atemteil war, dumpf und froh.
Ach, da wir nichts besessen,
Was faßt uns das Verlorne so?!