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Ein Doppelgänger

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Textdaten
Autor: Theodor Storm
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Titel: Ein Doppelgänger
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Entstehungsdatum: 1887
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Verlag: Gebrüder Paetel
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons und Google-USA*
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[1]
Ein Doppelgänger.

[2]

[3]
Ein Doppelgänger.


—————


Novelle
von
Theodor Storm.




Berlin.
Verlag von Gebrüder Paetel.
1887.
[4]
—————
Alle Rechte, vornehmlich das der Uebersetzung in fremde
Sprachen, vorbehalten.
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[5]
Meiner lieben Tochter
Gertrud
gewidmet.

[6] [7] Vor einigen Jahren im Hochsommer war es und alle Tage echtes Sonnenwetter; ich hatte mich in Jena, wie einst Dr. Martinus, in der alten Gastwirthschaft zum Bären einquartiert, hatte mit dem Wirth schon mehr als einmal über Land und Leute geredet und mich mit Namen, Stand und Wohnort, welcher derzeit zugleich mein Geburtsort war, in das Fremdenbuch eingeschrieben.

Am Tage nach meiner Ankunft war ich nach Besteigung des Fuchsthurms und nach manchem andern Auf- und Absteigen spät nachmittags in das geräumige, aber leere Gastzimmer zurückgekehrt und hatte mich sommermüde vor einer Flasche Ingelheimer hinter dem kühlen Ofen in einen tiefen Lehnstuhl gesetzt; eine Uhr pickte, die Fliegen summten am Fensterglas, und mir wurde die Gnade, davon in den Schlaf gewiegt zu werden, und zwar recht tief.

[8] Das erste, was vom Außenleben wieder an mich herankam, war eine sonore milde Männerstimme, welche, wie zum Abschied, gute Lehren gebend, zu einem Andern zu reden schien. Ich öffnete ein wenig die Augen: am Tische, unfern von meinem Lehnstuhl, saß ein ältlicher Herr, den ich nach seiner Kleidung als einen Oberförster zu erkennen meinte; ihm gegenüber ein noch junger Mann, gleichfalls im grünen Rock, zu dem er redete; ein röthlicher Abendschein lag schon auf den Wänden.

„Und dessen gedenke auch noch“, hörte ich den Alten sagen, „Du bist ein Stück von einem Träumer, Fritz; Du hast sogar schon einmal ein Gedicht gemacht; laß Dir so was bei dem Alten nimmer beikommen! Und nun geh’ und grüß’ Deinen neuen Herrn von mir; zur Herbstjagd werd’ ich mich nach Dir erkundigen!“

Als dann der Junge sich entfernt hatte, rüttelte ich mich völlig auf; der Alte stand am Fenster und drückte die Stirn gegen eine Scheibe, wie um dem Fortgehenden noch einmal nachzuschauen. Ich trank den Rest meines Ingelheimers, und als der Oberförster sich in das Zimmer zurückwandte, begrüßten [9] wir uns wie nach abgethanen Werken, und bald, da Niemand außer uns im Zimmer war, saßen wir plaudernd neben einander.

Es war ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren, mit kurz geschorenem, schon ergrautem Haupthaar; über dem Vollbart schauten ein paar freundliche Augen, und ein leichter Humor, der bald in seinen Worten spielte, zeugte von der Behaglichkeit seines inneren Menschen. Er hatte eine kurze Jagdpfeife angebrannt und erzählte mir von dem jungen Burschen, welchen er einige Jahre in seinem Hause gehabt und nun zur weiteren Ausbildung an einen älteren Freund und Amtsbruder empfohlen habe. Als ich ihn, seiner Vorhaltung an den Jungen gedenkend, frug, was für Leides ihm die Poeten denn gethan hätten, schüttelte er lachend den Kopf.

„Gar keines, lieber Herr“, sagte er, „im Gegentheil! Ich bin ein Landpastorensohn, und mein Vater war selber so ein Stück von einem Poeten; wenigstens wird ein Kirchenlied von ihm, das er einmal als fliegendes Blatt hatte drucken lassen, noch heutigen Tages nach ‚Befiehl du deine Wege‘ [10] in meinem Heimathdorf gesungen; und ich selber – als junger Gelbschnabel wußte ich sogar den halben Uhland auswendig, zumal in jenem Sommer, – “ er strich sich plötzlich mit der Hand über sein leicht erröthend Antlitz und sagte dann, wie im Stillen seine vorgehabte Rede ändernd: „wo am Waldesrand das Geißblatt wie zuvor in keinem andern Jahre duftete! Aber ein Rehbock, ein ander Mal – und das war schwer verzeihlich – die seltene Jagdbeute, eine Trappe, sind mir darüber aus dem Schuß gekommen! – Nun, mit dem Jungen ist es nicht so schlimm; nur der Alte drüben wird schon fuchswild, wenn wir gelegentlich einmal anstimmen: ‚Es lebe was auf Erden stolziert in grüner Tracht‘; Sie kennen wohl das schöne Lied?“

Ich kannte zwar das Lied – hatte nicht auch Freiligrath seinen patriotischen Zorn an dem harmlosen Dinge ausgelassen? – Aber mir lag die plötzliche Erregung des alten Herrn im Sinne: „Hat das Geißblatt auch in späteren Jahren wieder so geduftet?“ frug ich leise.

Ich fühlte meine Hand ergriffen und einen [11] Druck, daß ich einen Schrei ersticken mußte. „Das war ja nicht von dieser Welt“, raunte der Mann mir zu, „der Duft ist unvergänglich, – – so lang sie lebt!“ setzte er zögernd hinzu und schenkte sich sein Glas voll hellen Weines und trank es in einem Zuge leer.

Wir hatten noch eine Weile weiter geplaudert, und manche anziehende Mittheilung aus seinem Forst- und Jagdleben hatte ich von ihm gehört, manches Wort, das auf einen ruhigen Lebensernst in diesem Manne schließen ließ. Es war fast völlig dunkel geworden; die Stube füllte sich mit andern Gästen, und die Lichter wurden angezündet; da stand der Oberförster auf. „Ich säße noch gern ein Weilchen“; sagte er, „aber meine Frau würde nach mir aussehen; wir beide bilden jetzt allein die Familie, denn unser Sohn ist auf dem Forstinstitut zu Ruhla.“ Er steckte seine Pfeife in die Tasche, rief einem braunen Hühnerhund, der, mir unbemerkt, in einem Winkel gelegen hatte, und reichte mir die Hand. „Wann denken Sie wieder fort von hier?“ frug er.

„Ich dachte, morgen!“

[12] Er sah ein paar Augenblicke vor sich hin. „Meinen Sie nicht“, frug er dann, ohne mich anzublicken, „wir könnten unsere neue Bekanntschaft noch ein wenig älter werden lassen?“

Seine Worte trafen meine eigene Empfindung; denn auf meiner nun zweiwöchentlichen Reise hatte ich heute zum ersten Mal ein herzlich Wort mit einem Begegnenden gewechselt; aber ich antwortete nicht gleich; ich sann nach, wohin er zielen möge.

Und schon fuhr er fort: „Lassen Sie mich es offen gestehen: zu dem Eindruck Ihrer Persönlichkeit kommt noch ein Anderes dazu: es ist Ihre Stimme, oder richtiger die Art Ihres Sprechens, was diesen Wunsch in mir erregt; mir ist, als gehe es mich ganz nahe an, und doch …“ Statt des verständigenden Wortes aber ergriff er plötzlich meine beiden Hände. „Thun Sie es mir zu lieb’“, sagte er dabei, „meine Försterei liegt nur so reichlich eine Stunde von hier, zwischen Eichen und Tannen – darf ich Sie bei meiner lieben Alten als unsern Gast auf ein paar Tage anmelden?“

Der alte Herr sah mich so treuherzig an, daß ich gern und schon auf morgen zusagte. Er schüttelte [13] mir lachend die Hände: „Abgemacht! Prächtig! Prächtig!“ pfiff seinem Hunde und, nachdem er noch einmal seine Kappe mit der Falkenfeder gegen mich geschwenkt hatte, bestieg er seinen Rappen und ritt in freudigem Galopp davon.

Als er fort war, trat der Wirth zu mir: „Ein braver Herr, der Herr Oberförster; dacht’ schon, Sie würden Bekanntschaft machen!“

„Und warum dachten Sie das?“ frug ich entgegen.

Der Wirth lachte. „Ei, da wissen’s der Herr wohl selbst noch gar nicht?“

„So sagen Sie es mir! Was soll ich wissen?“

„Ei, Sie und die Frau Oberförster sind doch gar Stadtkinder mit einander!“

„Ich und die Frau Oberförster? Davon weiß ich nichts; Sie sagen es mir zuerst; ich hab’ dem Herrn auch meine Heimath nicht genannt.“

„Nun“, sagte der Wirth, „da ging’s freilich nicht; denn’s Fremdenbuch hat er nicht gelesen; das ist grad’ keine Zeitung!“

Ich aber dachte: „Das war es also! Liegt der Heimathklang so tief und darum auch so unverwüstlich?“ [14] Aber ich kannte daheim alle jungen Mädchen unseres Schlages innerhalb der letzten dreißig Jahre: ich wußte keine, die so weit gen Süden geheirathet hätte. „Sie irren sich vielleicht“, sagte ich zu dem Wirth, „wie ist denn der Jungfernname der Frau Oberförster?“

„Kann nicht damit dienen, Herr,“ entgegnete er, „aber mir ist’s noch just wie heute, als die seligen Eltern des Herrn Oberförsters, die alten Pfarrersleute, mit dem derzeit kaum achtjährigen Dirnlein hier vorgefahren kamen.“

– – Ich wollte nicht weiter fragen und ließ es für itzt dabei bewenden; nur den Weg zur Oberförsterei ließ ich mir noch einmal, wie zuvor schon von dem Besitzer derselben, eingehend berichten.

——————

Und schon in der Frühe des andern Morgens, als noch die Thautropfen auf den Blättern lagen und die ersten Vogelstimmen am Wege aus den Büschen riefen, befand ich mich auf der Wanderung. Nachdem ich etwa eine Stunde, zuletzt an einem Eichenwald entlang, gegangen war, bog ich gemäß der empfangenen Weisung in einen breiten Fahrweg [15] ein, der zur Linken unter die schattigen Wipfel durchführte. Bald mußte ich den Weg sich öffnen und das Heimwesen meines neuen Freundes vor mir liegen sehen! Dann, kaum eine Viertelstunde weiter, kam aus der großen Waldesstille ein Geräusch wie von wirthschaftlichem Leben mir entgegen; die Schatten um mich hörten auf, und ein blinkender Teich und jenseit desselben ein altes, stattliches Gebäu mit mächtigem Hirschgeweih über dem offenen, auf einer Treppenplatte befindlichen Thore lagen in der lichten Morgensonne vor mir; ein wüthendes Gebell von wenigstens einem halben Dutzend großer und kleiner Jagdhunde erhob sich und verstummte plötzlich aus einen gellenden Pfiff.

„Grüß’ Gott und tausend Mal willkommen!“ rief statt dessen die mir schon bekannte Männerstimme; und da kam er selbst aus dem Hause, die Stiege herab und um den kleinen Teich herum; aber nicht allein: eine zarte Frau, fast mädchenhaft, ging an seinem Arm; doch sah ich im Näherkommen wohl, daß sie den Vierzig nahe sein müsse. Sie begrüßte mich, indem sie fast nur die Worte ihres Mannes wiederholte; aber ein Zug von Güte [16] um den halb geöffneten Mund, der noch ein Weilchen in dem stillen Angesicht verblieb, ließ keinen Zweifel an ihrer Echtheit aufkommen. Während wir dann mit einander dem Hause zugingen, fiel es mir auf, wie sie mitunter ihren Arm auf seinem ruhen ließ, als wollte sie ihm sagen: „Du trägst mein Leben, und Du trägst es gern; Dein Glück und meines sind dasselbe!“

Als wir dann drinnen in dem bürgerlich schlichten Zimmer beim Morgenkaffee saßen, den man für mich aufgeschoben hatte, legte der Oberförster sich behaglich in seinen Lehnsessel zurück. „Christinchen“, sagte er, mich und seine Frau mit einem schelmischen Blicke streifend, „ich habe Dir einen lieben Gast gebracht, von dem ich gleichwohl weder Namen noch Stand weiß; er mag uns beides sagen, wenn er uns verläßt, damit wir ihn doch wiederfinden können: es ist so tröstlich, auch einmal mit einem Menschen und nicht eben mit einem Herrn Geheimen Ober-Regierungsrath oder einem Lieutenant zu verkehren.“

„Nun“, sagte ich lachend, „Qualitäten habe ich nicht zu verhehlen“; als ich dann aber mit dem [17] Hinzufügen, daß ich ein schlichter Advokat sei, meinen Namen nannte, wandte sich die Frau wie überrascht mir zu, und ich fühlte, wie ihre Augen flüchtig auf meinem Antlitz weilten.

„Was hast Du, Frau“, rief der Oberförster; „der Advokat ist mir schon recht!“

„Mir auch“, sagte sie und reichte mir eine Tasse Kaffee, dessen Duft mich mit Allem einverstanden sein ließ. Sie war noch einmal aufgestanden, kehrte aber, nachdem sie eine Handvoll Brosamen aus dem offenen Fenster geworfen hatte, auf ihren Platz zurück. Draußen stürzte sich, einem Platzregen gleich, eine Flucht von Tauben von dem Dache auf den Boden herab; aus den Linden vor dem Hause kamen die Sperlinge dazu, und ein lustiger Tumult erhob sich.

„Die haben’s gut!“ sagte lachend der Oberförster, mit dem Kopfe nach dem Fenster winkend; „seit unser Paul in Ruhla ist! Sie kann es nicht lassen, den allzeit Hungerigen Brosamen auszustreuen; sei es nun der Bub’, oder seien es nur unseres Herrgotts Krippenfresser!“

Aber die Frau setzte ruhig ihre Tasse von dem [18] Munde: „Der Bub’ allein? Ich dächte, der Vater wär’ auch wohl dabei!“

„Komm, Alte“, rief der Oberförster; „ich merke doch, Du bist mir zu gescheit; wir wollen Frieden machen!“

Wir plauderten weiter; und wenn das liebe Frauenantlitz sich zu mir wandte, konnte ich es mir nicht versagen, nach bekannten Zügen darin zu suchen; allein obgleich ein paar Mal, wie im Fluge, als wolle es mir helfen, das frühere Kinderangesicht mich daraus anzublicken schien, ich mußte mir dennoch sagen: „Die kennst du nicht; du hast sie nie gesehen.“ Ich lauschte dann auch ihrer Sprache, aber weder die uns heimische Verwechslung verwandter Vokale, noch die von solchen Konsonanten kam zum Vorschein; nur ein paar Mal meinte ich das scharfe S vor einem andern Konsonanten zu vernehmen, dessen ich selbst freilich mich längst entwöhnt glaubte.

Am Vormittage ging ich mit dem Oberförster in den umliegenden Wald; er wies mir seine Hauptschläge, die mit uralten und mit kaum fingerhohen Eichen, und entwickelte mir eindringlich sein [19] System der Waldkultur; wir sahen einen Hirsch mit sechzehn Enden und ein paar Rehe; aus einem schlammigen Sumpfe schielte sogar der schwarzbraune Borstenkopf eines Keilers aus seinen eng geschlitzten Augen nach uns hinüber. Wir gingen ohne Hunde; „nur ruhig weiter!“ mahnte mein Geleitsmann; „und wir kommen ungefährdet wieder nach Hause.“

Nach dem Mittagessen führte mein Wirth mich eine Treppe hoch nach hinten zu in das mir angewiesene Zimmer. „Sie wollten noch Briefe schreiben;“ sagte er; „hier finden Sie Alles, was dazu nöthig ist! Unser Junge hat hier vordem gewohnt; aber es ist kühl und still!“ Er zog mich an eines der offen stehenden Fenster: „Hier unten sehen Sie ein Stück von unsrem Garten, dahinter zieht sich der Teich herum; dann dort die grüne Wiese und dann der hohe dunkle Wald – der schützt Sie vor allem Weltgeräusch! – Nun ruhen Sie vorerst sanft nach Ihren Wanderstrapazen!“ sagte er und drückte mir die Hand.

Er ging, und ich that nach seinen Worten; und die Stimmen der Grasmücken aus dem Garten [20] und des Pirols und der Falken aus dem nahen Walde und über seinen Wipfeln aus der blauen Luft kamen wie aus immer größerer Ferne durch die offenen Fenster; dann hörte Alles auf.

Ich erwachte endlich; ich hatte lang geschlafen; der Weiser meiner Taschenuhr zeigte schon nach Fünf; gleichwohl mußte der Brief geschrieben werden, denn ein Knecht sollte ihn um sechs Uhr mit zur Stadt nehmen.

So kam ich erst spät wieder in das Haus hinab. Die Frau fand ich vor demselben im Lindenschatten auf der Bank, mit einer Flickarbeit beschäftigt. „Das ist für unsern Paul“, sagte sie wie entschuldigend und schob die Sachen an die Seite; „er schleißt, er ist noch jung und wild; aber noch mehr gut als wild! – Und Sie haben fest geschlafen: die Sonne will schon zur Neige gehn!“

Ich frug nach ihrem Mann.

„Er hat auf eine Weile geschäftshalber fort müssen; aber er läßt Sie grüßen; wir sollten nähere Bekanntschaft machen – so hat er mir gesagt – und dort die Schneiße durch die Tannen hinaufspazieren; nach der andern Seite, als wo Sie [21] heute Vormittag mit ihm hinaus waren; er würd’ uns dort bald finden!“

Wir plauderten aber noch eine Weile, nachdem sie auf meine Bitte ihre mütterliche Arbeit wieder aufgenommen hatte; dann, da er nicht kam, erhob sie sich. „Es wird wohl Zeit!“ sagte sie, und ein flüchtig Roth ging über ihr Antlitz.

So wanderten wir denn neben einander auf dem Wege zwischen den hohen Tannen, dessen eine Seite noch von der Sonne angeschienen war. Unser Gespräch schien ganz erloschen; nur hin und wieder prüfte ich mit einem Blicke ihr Profil; aber es machte mich nicht klüger.

„Gestatten Sie, verehrte Frau“, sprach ich endlich, „daß ich die Waldstille unterbreche; es drängt mich, Ihnen Eins zu sagen und Ihnen eine Frage vorzulegen; Sie wissen wohl, daß man in der Fremde doch immer heimlich nach der Heimath sucht!“

Sie nickte. „Sprechen Sie nur!“ sagte sie.

„Ich glaube nicht zu irren“, begann ich, „Sie schienen überrascht, als ich heute morgen meinen Namen nannte. Hatten Sie ihn früher schon gehört? [22] Mein Vater war, wenigstens im Lande, ein bekannter Mann.“

Sie nickte wieder ein paar Mal: „Ja, ich erinnere mich Ihres Namens aus meiner Kinderzeit.“

Als ich dann aber meine Vaterstadt ihr nannte, wurden ihre Augen plötzlich starr und blieben unbeweglich auf den meinen ruhen; nur ein paar vorquellende Thränen verdunkelten jetzt beide.

Ich erschrak fast. „Es war nicht mein Gedanke, Ihnen weh zu thun“, sagte ich; „aber der Wirth zum Bären, der meine Heimath aus dem Fremdenbuch erfahren hatte, behauptete, wir beide seien Stadtkinder mit einander!“

Sie that einen tiefen Athemzug. „Wenn Sie daher stammen“, sagte sie, „so sind wir es.“

„Und doch“, fuhr ich etwas zögernd fort; „ich glaube alle damaligen Familien unserer Stadt zu kennen und wüßte nicht, in welche ich Sie hineinbringen sollte.“

„Die meine werden Sie nicht gekannt haben;“ erwiderte die Frau.

„Das wäre seltsam! Wann haben Sie denn die Stadt verlassen?“

[23] „Das mag fast dreißig Jahre her sein.“

„O, damals war ich noch in unsrer Heimath, bevor wir, so viele, in die Fremde mußten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Ursache liegt wo anders: meine Wiege“ – sie zögerte ein wenig und sagte dann: „Ich hatte wohl nicht einmal eine; aber die Kathe, in der ich geboren wurde, war nur die Miethwohnung eines armen Arbeiters, und ich war seine Tochter.“

Sie blickte mit ihren klaren Augen zu mir auf. „Mein Vater hieß John Hansen“; sagte sie.

Ich suchte mich zurecht zu finden; aber es gelang mir nicht; der Name Hansen war bei uns wie Sand am Meer. „Ich kannte manchen Arbeiter“, erwiderte ich; „unter dem Dache des einen war ich als Knabe sogar ein wöchentlicher Gast, und für manches, was ich noch zu meinem Besten rechne, fühle ich mich ihm und seiner braven Frau verpflichtet. Aber Sie mögen Recht haben, der Name Ihres Vaters ist mir unbekannt.“

Sie schien aufmerksam zuzuhören, und mir war es, als würden ihre kindlichen Augen wieder feucht.

„Sie hätten ihn kennen müssen“, rief sie, „Sie [24] würden die, welche die kleinen Leute genannt werden, noch tiefer in Ihr Herz geschlossen haben! Als meine Mutter, da ich kaum drei Jahre alt war, starb, da hatte ich nur ihn; aber schon in meinem achten Jahre ist er plötzlich mir entrissen worden.“

Wir gingen eine Zeit lang, ohne ein Wort zu wechseln, und ließen die Spitzen der Tannenzweige, die in den Weg hingen, durch unsre Finger gleiten; dann hob sie den Kopf, als ob sie sprechen wolle, und sagte zögernd: „Ich möchte nun auch Ihnen, meinem Landsmann, etwas Weiteres vertrauen; es ist seltsam, aber es kommt mir immer wieder: mir ist oftmals, als hätte ich vorher, bei Lebzeiten meiner Mutter, einen anderen Vater gehabt –, den ich fürchtete, vor dem ich mich verkroch, der mich anschrie und mich und meine Mutter schlug … und das ist doch unmöglich! Ich habe später selbst das Kirchenbuch aufschlagen lassen; meine Mutter hat nur diesen einen Mann gehabt. Wir haben zusammen Noth gelitten, gefroren und gehungert; aber an Liebe war niemals Mangel. Eines Winterabends entsinne ich mich noch deutlich; es war an einem Sonntag, und ich mochte [25] etwa sechs Jahr alt sein. Wir hatten leidlich zu Mittag gegessen; doch zum Abend wollte es nicht mehr reichen; mich hungerte noch recht, und der Ofen war fast kalt geworden. Da sah mein Vater mich mit seinen schönen dunkeln Augen an, und ich streckte meine Aermchen ihm entgegen; und bald lag ich, in ein altes Tuch gewickelt an der warmen Brust des mächtigen Mannes. Wir gingen durch die dunklen Straßen, immer in eine neue; aber über uns waren alle Sterne angezündet, und meine Augen gingen von dem einen zu dem andern. „Wer wohnt da oben?“ frug ich endlich, und mein Vater antwortete: „Der liebe Gott, der wird Dich nicht vergessen!“ Ich sah wieder in die Sterne, und alle blinkten so still und freundlich auf mich nieder. „Vater“, sagte ich, „bitte ihn doch noch um ein kleines Stückchen Brot für heute Abend!“ Ich fühlte einen warmen Tropfen auf mein Angesicht fallen; ich meinte, er käme von dem lieben Gott. – Ich weiß, mich hungerte nachher noch in meinem Bettchen; aber ich schlief doch ruhig ein.“

Sie schwieg einen Augenblick, während wir langsam aus dem Waldweg weiter schritten.

[26] „Aus der Zeit aber, wo ich mit meiner Mutter lebte“, sagte sie dann noch, „vermag ich keine feste Erinnerung an meinen Vater zu gewinnen; ich muß mich mit dem wüsten Schreckbild begnügen, das mein Verstand vergebens zu fassen sucht.“

Sie kniete plötzlich nieder, um eine Hand voll jener kleinen röthlichen Immortellen zu pflücken, die sich gern auf magerem Sandboden ansiedeln; da wir dann weiter gingen, begannen ihre Finger einen Kranz daraus zu flechten.

Ich war noch mit ihren letzten Worten beschäftigt; mir ging im Kopf ein wüster junger Kerl herum; er war bekannt genug gewesen; aber sein Name war ein anderer. „Auch Kinder“, sagte ich endlich, während meine Augen ihren geschickten Händen folgten, „mag wohl einmal der Gedanke an den unsichtbar umhergeistenden Tod wie ein Schauder überfallen, daß sie voll Angst die Arme um ihr Liebstes klammern; dazu – Sie kannten gewiß schon von den Vätern, mit denen die Communen die Kinder der Armen zu beschenken pflegen – was Wunder, daß Ihre Phantasie das [27] Schreckbild in jene von Erinnerung leere Zeit hinabschob!“

Aber die edle Frau schüttelte lächelnd ihren Kopf. „Schön ausgerechnet“, sagte sie; „aber ich habe niemals an solchen Gespensterphantasieen gelitten; und die Menschen, die mich dann nach meines lieben Vaters Tode zu sich nahmen – bessere konnte kein Kind sich wünschen: es waren die Eltern meines Mannes, die auf einer Badereise ein paar Tage in unserer Vaterstadt verweilen mußten.“

In diesem Augenblicke glaubte ich in dem Staubwege Schritte hinter uns zu hören, und als ich umblickte, sah ich den Oberförster schon in der Nähe.

„Sehen Sie wohl“, rief er mir zu, „da habe ich Sie schon! Und Du, Christine“, – und er ergriff die Hand seiner Frau und neigte den Kopf, um ihr in die Augen zu blicken – „Du schaust ja so nachdenklich; was ist denn?“

Sie lehnte sich lächelnd an seine Schulter: „Ja, Franz Adolph, wir sprachen von unserer Vaterstadt – denn es hat sich herausgestellt, daß wir [28] dieselbe haben – aber wir haben uns dort nicht finden können.“

„So ist es um so schöner“, erwiderte er und reichte mir die Hand, „daß wir ihn heute bei uns haben; das damals wäre ja doch schon längst vorüber!“

Sie nickte nachdenklich und schob ihren Arm in seinen. So gingen wir ein paar hundert Schritte weiter bis an einen Waldteich, an dessen Ufern die gelben Iris in für mich nie gesehener Fülle blühten.

„Da ist Deine Lieblingsblume!“ rief der Förster; „aber Du würdest Dir die Schuhe überwaten; sollen wir Männer Dir einen braven Strauß holen?“

„Ich verzichte diesmal auf Ritterdienste“, erwiderte sie, sich anmuthig gegen uns verneigend; „ich bin heute bei den Kleinen und weiß hier eine Stelle, wo ich mein Kränzlein vervollständigen kann!“

„So erwarten wir Dich hier“, rief ihr der Oberförster nach, sie mit ernsten liebevollen Blicken verfolgend, bis sie in der naheliegenden Lichtung verschwand.

[29] Dann wandte er sich plötzlich zu mir. „Sie werden mir nicht zürnen“, sagte er, „wenn ich Sie bitte, mit meiner Frau nicht weiter über ihren Vater zu sprechen. Ich ging im weichen Wegestaub schon länger hinter Ihnen, und der leichte Sommerwind trug mir genügend Brocken Ihres Gespräches zu, um das Uebrige zu errathen. Hätte ich von Ihrer beider so genauen Landsmannschaft gewußt, – verzeihen Sie mir dies Geständniß – ich hätte mir die Freude Ihres Besuches versagt; die Freude sag’ ich; doch es ist so besser, wir kennen uns nun schon.“

„Aber“, entgegnete ich etwas bestürzt, „ich kann Sie versichern, es ist von einem Arbeiter John Hansen keine Spur in meiner Erinnerung.“

„Sie könnte Ihnen dennoch plötzlich kommen!“

„Ich denke nicht; jedenfalls, obgleich ich nicht die Ursache kenne, seien Sie meines Schweigens sicher!“

„Die Ursache“, erwiderte er, „will ich Ihnen in einem Worte geben: der Vater meiner Frau hieß freilich John Hansen; von den Leuten aber wurde er John Glückstadt genannt, nach dem Orte, [30] wo er als junger Mensch eine Zuchthausstrafe verbüßt hatte. Meine Frau weiß weder von diesem Uebernamen, noch von der Strafe, aus welcher er beruht; und – ich denke, Sie stimmen mir bei – ich möchte nicht, daß sie das je erführe; ihr Vater, den sie kindlich verehrt, würde mit jenem Schreckbild zusammenfallen, das ihre Phantasie ihr immer wieder vorbringt, und das leider keine bloße Phantasie war.“

Fast mechanisch reichte ich ihm die Hand, und bald waren wir wieder auf dem Heimwege; die Frau ging, längst wieder an ihrem Kranze flechtend, neben mir, als ich aus andrängenden und sich ineinanderfügenden Erinnerungen wieder aufschaute. „Verzeihen Sie“, sagte ich, „es kommt mir mitunter, von einem plötzlichen Gedanken bis zur Vergessenheit der Gegenwart hingenommen zu werden. Im Elternhause sagte dann mein Bruder, des alten Volksglaubens gedenkend: „Stört ihn nicht, seine Maus ist ihm aus dem Mund gesprungen!“ Aber ich verspreche, sie in Zukunft besser zu überwachen.“

Aus den Augen des Oberförsters traf mich ein verständnißvoller Blick. „Auch wir haben hier den [31] Glauben“, sagte er, „aber Sie sind bei Freunden, wenn auch nur bei neuen!“

So kamen wir wieder in Gespräch, und während die Tannenriesen schon tiefe Schatten über den Weg warfen und die Luft mit schwülem Abendduft erfüllten, gelangten wir allmählich an die Oberförsterei zurück; die Hunde, ohne zu bellen, sprangen uns entgegen, und aus der dampfenden Wiese, die hinter dem Teiche lag, scholl hin und wieder der schnarrende Laut des Wachtelkönigs; ein heimathlicher Frieden war überall.

Die Frau war uns voran ins Haus gegangen, mein Wirth und ich setzten uns auf die Seitenbänke der Haustreppe; aber seine Leute kamen einer nach dem andern, um zu berichten oder sich Anweisung für den folgenden Tag zu holen; dazwischen drängten sich die Hunde, Teckel und Hühnerhunde, voran das Prachtexemplar eines lohbraunen Schweißhundes; zu Erörterungen zwischen uns blieb keine Zeit. Dann erschien meine Landsmännin in der offenen Hausthür und lud zum Abendessen; und als wir im behaglichen Zimmer bei einer guten Flasche alten Haardtweins saßen, [32] erzählte der Oberförster die Geschichte seines Lieblings, des Lohbraunen, den er als junges Thier von einem ruinirten Spieler gekauft hatte, und von den Heldenthaten, welche er schon jetzt gegen die hier insonders kühnen Wilderer verübt habe. So geriethen wir in die Jagdgeschichten, von denen eine immer die andere nach sich zog; nur einmal, in einer Pause des Gespräches, sagte Frau Christine wie aus langem Sinnen: „Ob wohl noch die Kathe da ist, am Ende der Straße, und das Astloch in der Hausthüre, durch das ich abends hinaussah, ob nicht mein Vater von der Arbeit komme? – Ich möcht’ doch einmal wieder hin!“

Sie sah mich an, und ich erwiderte nur: „Sie würden viel verändert finden!“ Der Oberförster aber faßte ihre beiden Hände und schüttelte sie ein wenig.

„Wach auf, Christel!“ rief er. „Was wolltest Du dort? Selbst unser Gastfreund hat sich ausgebaut! Bleib’ bei mir, wo Du zu Haus bist – und um acht Tage kommt Dein Junge in die Sommerferien!“

Sie sah mit glücklichen Augen zu ihm auf. [33] „Es war ja nicht so ernst gemeint, Franz Adolph!“ sagte sie leise.

Als es auf der Hausuhr vom Flur aus Zehn schlug, brachen wir auf; der Oberförster zündete eine Kerze an und begleitete mich wie am Nachmittage die Treppe hinauf nach meinem Gastzimmer.

„Nun“, sagte er, nachdem er das Licht auf den Tisch gesetzt hatte, „nicht wahr, wir sind jetzt einig? Sie verstehen mich?“

Ich nickte: „Gewiß; ich weiß nun freilich, wer John Hansen ist.“

„Ja, ja“, rief er, „aus dem Staube des Weges haben meine lieben Eltern dies Kind für mich aufgesammelt; ich dank’ es ihnen jeden Morgen, wenn ich beim Ausstehen dies friedliche Antlitz noch neben mir im Schlummer sehe, oder wenn sie mir vom Kissen ihren Morgengruß zunickt. Doch – gute Nacht! Auch die Vergangenheit soll schlafen!“

Wir reichten uns die Hände, und ich hörte ihn den Corridor entlang und die Treppe hinabgehen. Aber bei mir wollte die Vergangenheit nicht schlafen; ich trat an das offene Fenster und sah [34] auf den Teich und auf die Wasserlilien, die wie Mondflimmer auf seinem dunklen Spiegel lagen; die Linden am Ufer hatten zu blühen begonnen, und ihr Duft wehte im Nachthauch zu mir herüber; eine mir unbekannte Vogelstimme erschallte in Pausen vom Wald her. Aber die reiche Sommernacht nahm mich nicht gefangen; vor mein inneres Auge drängten abwechselnd sich zwei öde Orte: ein verlassener Brunnen mit vermorschtem Plankwerk, der in der Nähe meiner Vaterstadt auf einem weiten Felde lag, wo vor Zeiten ein Haus, eine Schinderkathe sollte gestanden haben; als Knabe, auf einer einsamen Schmetterlingsjagd, hatte ich einst erschrocken vor ihm Halt gemacht; – was damit wechselte, war das äußerste der kleinen Stadthäuser am Ende der Norderstraße, mit einem Strohdach, auf dem allezeit ein großer Hauslauch wuchs, so niedrig, daß man’s mit der Hand erreichen konnte; das Ganze zum Einstürzen verfallen und so winzig, daß kaum mehr als eine Kammer und der engste Küchenherd darin Platz haben konnten. Als Junge hatte ich manchmal, von Feldstreifereien heimkehrend, davor still gestanden [35] standen und mir vorphantasiert, wie hübsch es sich in diesem Liliputer-Hause ohne Eltern und Lehrer würde wohnen lassen. Später, als ich schon Secundaner war, kam noch ein Anderes hinzu: es gab oft einen Lärm in diesen engen Räumen, der die Vorbeigehenden davor Halt machen ließ, und zu diesen gehörte auch ich ein Paar Mal. Eine kräftige Männerstimme fluchte und schalt in sich überstürzenden Worten; dröhnende Schläge, das Zerschellen von Gefäßen wurde hörbar; dazwischen, kaum vernehmbar, das Wimmern einer Frauenstimme, doch nie ein Hilferuf. Eines Abends trat danach ein junger wilder Kerl aus dem Innern in die offene Hausthür, mit erhitztem Antlitz, über das ein paar dunkle Haarlocken ihm in die Stirn hingen. Er warf den Kopf mit der starken Adlernase zurück und musterte schweigend die Umstehenden; mich blitzte er mit ein paar Augen an, mir war, als hörte ich ihn schreien: „Mach, daß Du fortkommst, Du mit dem feinen Rock! Was geht’s Dich an, wenn ich mein Weib zerhaue!“

Das war John Glückstadt, der Vater meiner [36] edlen Wirthin, von dem ich heute erfahren hatte, daß er eigentlich John Hansen geheißen habe.

– – John Hansen war von einem Nachbarsdorfe und hatte seine Militärzeit als tüchtiger Soldat bestanden, wenn auch zu Anfang nur der kräftigere Arm eines Kameraden schuld gewesen war, daß er den dänischen Capitän, der ihn „tyske Hund“ geheißen hatte, nicht mit dem kurzen Seitengewehre niederstach. Als aber die Dienstzeit aus und er entlassen war, da wollte die müßige, aber wilde Kraft in ihm etwas zu schaffen haben; ein Dienst als Knecht war nicht sogleich zur Hand, so ging er in die Stadt und gab sich vorerst bei einem Kellerwirthe in die Kost. Aber dort verkehrte allerlei fremdes und hergelaufenes Volk; eine Menge Arbeiter, die bei einem Schleusenbau beschäftigt waren, hatten dort ihre Schlafstelle. Einer davon, der wegen Trunkfälligkeit aus der Arbeit gejagt war, blieb trotzdem und verzehrte und vertrank seine letzten Schillinge. Er und John hatten beide nichts zu thun; so waren sie stets zusammen, lagen draußen am Deich oder saßen allein [37] in der dämmerigen Kellerstube, und der Fremde erzählte lustige Spitzbuben- und Gewaltsgeschichten; er wußte genug davon, und bei den meisten war er selber mit dabei gewesen; aber Alles war immer lustig ausgegangen.

Bei solcher Gelegenheit, da sie wieder einmal weit draußen am Hafdeich mit einander im Grase lagen, wo nur der Westwind pfiff und die Möven schrieen, überfiel den jungen Burschen die Lust, auch seinerseits einmal den Hals zu wagen; er streckte seine straffen Arme aus und schüttelte die Fäuste, ein wüstes Feuer brach aus seinen Augen. „Zum Satan!“ rief er; „hätt’ man so was auch nur zu schaffen, da ehrliche Arbeit nicht zu haben ist!“

Der alte Halunke, der neben ihm lag und beim Erzählen nur über sich die Wolken hatte ziehen sehn, blickte ihn von der Seite an. „Meinst Du?“ sagte er heimlich – „nun, Spaß würd’ schon dabei sein!“

John antwortete nicht; ein Trupp Arbeiter kam von draußen auf dem Deich daher. Der Fremde stand auf und sagte: „Komm, John, die kennen uns; wir wollen mit ihnen heimgehn!“

[38] – – Am andern Nachmittage, da sich für John abermals die Aussicht auf einen Dienst zerschlagen hatte, lagen die beiden wieder an derselben Stelle. Der Fremde sprach nicht, John riß Grasbüschel aus dem Boden und warf damit nach vorbeistreichenden Schwalben.

„Du ruinierst doch den Deich, da Du sonst nichts zu thun hast!“ sagte der andre lachend.

John stieß einen Fluch aus. „Du wolltest mir gestern was erzählen, Wenzel!“ sagte er.

Wenzel sah wie abwesend auf die See, wo draußen eben ein Segel vorbeizog. „Ich?“ sagte er. „Was sollte das gewesen sein?“

– „Das mußt Du selber wissen; aber Spaß sollte dabei sein. So sagtest Du.“

„Ja so! Ich weiß schon; aber es ist noch mehr Gefahr als Spaß dabei.“

John lachte.

„Was lachst Du!“ sagte Wenzel; „es kann um Kopf und Kragen gehn!“

„Ich meinte nur, es sei das just der Spaß!“

Der andere richtete sich auf: „Ist Dir Dein Kopf so wohlfeil?“

[39] „Nein, Wenzel; aber ich denk’, er sitzt mir ziemlich fest. Erzähl’ nur; das ist profitabler!“

Sie rückten näher zusammen; ihr Reden wurde ein Flüstern; mitunter lies der eine auf den Deich und blickte scheu umher; aber keine Menschenseele ließ sich sehen. Die Dämmerung fiel herab; in tiefem Dunkel kamen die beiden zurück und stiegen in den Keller hinab, wo noch halbtrunkenes Volk an den Tischen lärmte.

– – Drei Tage nachher wurde unsere Stadt durch das Gerücht eines unerhört frechen Einbruchdiebstahls aufgeschreckt, und was an Polizei vorhanden war, hatte mit Arm und Beinen zu thun. Das Erkerhaus am großen Markte, das der Exsenator Quanzberger allein mit seinem alten Diener bewohnte, war der Schauplatz gewesen. Der alte hagere Herr, den man gebunden, mit einem Knebel in seinem zahnlosen Munde neben seinem Bett gefunden hatte, konnte viele Wochen nachher nicht seinen pünktlichen Spaziergang durch die Gassen machen, und viele Jungen wußten deshalb nicht mehr, was die Uhr sei, und kamen viel zu spät oder zu früh in die Schule, und als er ihn wieder [40] antrat, fehlte unter seinem Arm der rothseidene Regenschirm, und sein hoher Filzhut zitterte auf der fuchsfarbenen Perrücke. Am schlimmsten aber war es, daß bei seinem alten Nikolaus, der durch einen Schlag über den Schädel betäubt war, nur mit genauer Noth noch Leib und Seele bei einander blieben.

Das war es gewesen, was dem braven Soldaten John Hansen eine sechsjährige Zuchthausstrafe und den Namen John Glückstadt eingetragen hatte. Seltsam war es, daß nach Publicirung des Urtheils auch unter den städtischen Honoratioren von mancher Seite für den Verurtheilten Partei ergriffen wurde; man hob hervor, daß er die goldene Uhr des Exsenators, die ihm als Beuteantheil zugefallen war, schon am Tage nach der That einem jungen Vetter auf dem Lande als Confirmationsgeschenk gegeben habe, was freilich dann zuerst der Anlaß zu seiner Verhaftung geworden war. „Schad’ um den Burschen“, sagten die einen, „daß er ein Spitzbube geworden! Sieht er nicht aus, als hätte er General werden müssen?“ und die andern erwiderten: „Freilich, doch mehr [41] noch wie jene vornehmen Räuber, denen es weniger um den Gewinn, als um den Sport dabei zu thun war.“

Aber John mußte des ungeachtet in das Zuchthaus und war vorläufig dann vergessen.




Auch sechs Jahre im Zuchthaus vergehen endlich; aber voll hatte er sie absitzen müssen, denn es war in währender Zeit im Lande weder ein König gekrönt, noch einer geboren worden. Als er, wie beim Soldatendienst, mit guten Zeugnissen entlassen war, kam er abermals in unsere Stadt, um sich nach Arbeit umzuthun; aber man wollte den Zuchthäusler nicht; mehr noch war es um den Grimm und Trotz, der jetzt aus seinen dunklen Augen brach. „Der Mensch sieht gefährlich aus,“ hieß es, „ich möchte in der Nacht ihm nicht allein begegnen!“

Endlich war es ihm gelungen. Zur Seite der erwähnten Norderstraße strecken sich nordwärts, wo vor ein paar hundert Jahren der dreibeinige Galgen neben Bürgermeister Luthens Fischteich [42] stand, große uneingezäunte Felder weit von der Stadt hinauf. Sie dienten damals einem vielbeschäftigten Bürger zum Cichorienbau, und die dazu gedungenen fünfzig oder sechzig Weiber und jungen Dirnen begannen eben aus der ungeheuren Fläche das Unkraut zwischen den Pflanzen auszujäten; vom Wege aus, der an der Stadt entlang lief, hörte man schon von weitem das Schwatzen der Weiber wie einen Mühlbach rauschen; mitunter auch stieg daraus ein silberhelles Lachen in die Luft empor; dann wieder ward es plötzlich still: der Aufseher, der sich bei einem Trupp von Arbeiterinnen irgendwo am andern Ende des Feldes aufgehalten hatte, war wieder zwischen sie getreten; er sprach nicht, er übersah nur einmal mit seinen finstern Augen die ganze Schar.

Der Aufsichtsmann war John Glückstadt; man hatte ihn zu diesem Posten besonders tauglich gehalten, und da draußen auf dem Felde konnte’s auch nicht gefährlich sein; überdies zeigte die Rechnung sich als richtig, denn noch niemals war das Unkraut so gründlich und so rasch verschwunden.

[43] – Unter den Dirnen hatte ich eine, dieselbe, deren Lachen aus der Schar so hell hervorschlug, oft genug auf dem Hausflur meiner Eltern als Bettelmädchen an der Kellertreppe stehen sehen; sie schaute mich, wenn ich zufällig aus dem Zimmer trat, nur stumm mit ihren verlangenden braunen Augen an, und hatte ich einen Schilling in der Tasche, so zog ich ihn gewiß heraus und legte ihn in ihre Hand. Ich entsinne mich noch wohl, wie süß mir die Berührung dieser schmalen Hand that, auch daß ich nachher noch eine Weile stehen blieb und wie gebannt auf die Stelle der Treppe hinabsah, von der das Mädchen sich ebenso schweigend wieder entfernt hatte.

Dem finstern Aufsichtsmann, unter dem sie jetzt in ehrlicher Arbeit stand, mochte etwas Aehnliches mitspielen; er ertappte sich darauf, daß er mitunter, statt den faulen Weibern auf die Finger zu passen, das jetzt siebzehnjährige Mädchen mit seinen Blicken verschlang. Sie mochte ihn dann wohl still mit ihren heißen Augen anschauen; denn sie war die einzigste, welche die seinen nicht fürchtete, und der Mann, in dessen Antlitz ein Zug [44] von Seelenleiden spielte, war vielleicht für solche Weiber der gefährlichste.

Aber eines mußte noch hinzukommen. An der weiter von der Stadt liegenden Ostseite des Ackers, wo die Arbeit schon vollendet war, befand sich jener verlassene Brunnen, neben dem schon seit undenkbaren Jahren das Schinderhaus verschwunden war; um drei Pfähle hingen noch ein paar vermorschte Bretter, die keinen Widerstand zu leisten vermochten. John Glückstadt kannte ihn wohl: der Brunnen war eng und an den Seiten mit Moos und einzelnen Pflanzenbüscheln bewachsen, durch die er vergebens mit seinen Blicken den Boden zu erreichen gesucht hatte; aber tief mußte er sein, denn als John eines Abends über das leere Feld ging und im Vorbeigehen einen Stein hinabwarf, dauerte es eine ganze Weile, bevor ein Ton wie ein harter Aufschlag sein Ohr erreichte. „Gott mag wissen, was da unten liegt“, murmelte der Mann; „Wasser nicht, vielleicht nur Kröten und Unzeug!“ Und er rührte seine Beine, um rascher nach Hause zu gelangen.

Als er jetzt eines Morgens auf das Feld kam, [45] wo gegenüber schon die Mehrzahl der Arbeiterinnen versammelt war, störte ihn eine Krähe aus seinem Brüten auf, das er heute vom Bette mit ins Freie genommen hatte; der Vogel war bei seiner Annäherung mit Gekrächz von der verfallenen Brunnenplanke aufgeflogen; als John aber auf- und dann weiter hinausblickte, sah er die braune schmächtige Dirne wie in blinder Angst mit erhobenen Armen auf den Brunnen zustürzen; ein andres breitschulteriges Weib, das sich schon drei Jungfernkinder aufgeladen hatte, lief hinter ihr darein. Es hatte das Mädchen geneckt, daß sie dem schmucken Aufsichtsmann ihre Augen hinhalte, er solle wohl hineinfallen; die andern Frauenzimmer hatten gelacht: „Frisch, Wieb, vertreib’ dem Fratz seine Katzenkünste!“ Da war die Dirne zornig geworden und hatte dem Weibe so gründliche Wahrheiten zugeworfen, daß es mit der Unkrautshacke in der Faust wie toll hinter der Leichtfüßigen herlief.

Der düstere John sah die wilde Flucht gerade auf das Brunnenloch zufahren und sprang rasch vor die verfallene Umzäunung. „Sie will mich [46] todtschlagen!“ schrie die junge Dirne und stürzte mit solcher Gewalt in seine Arme, daß ihm selbst die Füße auf dem Boden wankten. „Nun, Dirne“, rief er, „sollten wir hier beide in den Brunnen? Es wär’ vielleicht das Beste!“ und hielt sie fest an seiner Brust.

Sie wollte sich von ihm losringen. „Laßt mich!“ rief sie. „Was wollt Ihr von mir?“

Er sah sich um; sie waren ganz allein: das große Frauenzimmer hatte vor dem Aufseher sogleich die Flucht ergriffen; die anderen Weiber arbeiteten fern am Westrande des Ackers; er wandte seine Augen wieder auf das Kind in seinen Armen.

Sie hatte mit ihren kleinen Fäusten ihm ins Gesicht geschlagen. „Laß mich“, rief sie, „ich schreie; glaub’ nicht, daß Du mir Leides anthun kannst!“

Er schwieg eine Weile, und die dunkeln Augen beider sahen regungslos in einander. „Was ich Dir will?“ sagte er dann, „Leids will ich Dir nicht thun – aber ich will Dich heirathen, wenn Du es willst!“

Sie antwortete nicht, ein paar Augenblicke [47] lag sie wie todt an seiner Brust; er fühlte nur, das Widerstreben ihrer Glieder hatte nachgelassen.

„Willst Du nicht sprechen?“ frug er sanft.

Da griff sie jäh mit beiden Händen um seinen Hals, daß sie den starken Mann fast würgte. „Ja, ich will“, rief sie. „Du bist der schönste! Komm weg vom Brunnen! Du sollst nicht drunten liegen, in meinen Armen ist’s besser!“ Und sie küßte ihn, bis sie den Athem verloren hatte.

„Weißt Du“, sagte sie dann, „Du ziehst zu uns, zu mir und meiner Mutter in das kleine Haus; Du zahlst die halbe Miethe!“ Sie sah ihn wieder an, sie küßte ihn nochmals; dann warf sie den Kopf mit dem dunklen Haar in den Nacken, und ihr helles Lachen stieg jetzt fast zu übermüthig aus den rothen Lippen. „So!“ rief sie, „nun lauf’ ich voraus, komm aber bald mir nach und sieh zu, ob ich nicht auch die schönste von all’ den Weibern bin!“

Sie stürmte dem Arbeitsplatze zu, und er folgte ihr, taumelnd vor Entzücken. Wer ihn jetzt gesehen und einen Freund bedurft hätte, der würde ohn’ Bedenken in seine Arme gestürzt sein; der [48] gefährliche Mensch war wie ein Kind geworden; er öffnete die Arme und schloß sie langsam wieder über seiner Brust, als müsse er das Glück umfassen, das ihm die junge Dirne zugebracht hatte, die wie ein fliegend’ Vöglein dort vor ihm das Feld hinanlief. „Und Arbeit“, rief er und streckte die starken Fäuste in die Luft, „die soll für uns nicht fehlen!“

Als er den Arbeitsplatz erreicht hatte, suchte die große Dirne sich vor ihm zu verbergen; aber, was sonst Niemand noch gesehen hatte, seine Augen lachten nur, wenn sie auf ihr grobes Angesicht trafen. „Lauf nur, was schierst Du mich!“ sprach er zu sich selber, „Du warst der Hund, der unversehens mir das Glück in meine Arme jagte!“

Die junge Braune aber wußte ihrem stillen Liebsten stets aufs neue zu begegnen. „Lach doch! Warum lachst Du nicht?“ raunte sie ihm zu und hielt ihm selber lächelnd ihre dunklen Augen hin.

„Ich weiß nicht“, sagte er – „der Brunnen!“

„Was soll der?“ frug sie.

„Ich wollt’, er wäre aus der Welt!“ und nach einer Weile: „Du könnt’st mir einmal da hinein [49] fallen, Du bist so wild, Hanna – er darf nicht offen bleiben.“

„Du bist ein Narr, John“, raunte ihm die Dirne zu, „wie sollt’ ich von heut’ an noch in den Brunnen fallen! Wenn nur die dummen Weiber nicht so nahe wären, ich fiel’ Dir lieber an den Hals!“

Aber er ging sinnend von ihr; und als er später bei Ende der Tagesarbeit über den einsamen Acker ging, konnte er an dem Brunnen nicht vorbei; er blieb stehen und warf wieder kleine Steine in die Tiefe; er kniete dabei nieder und bog sich über den Rand und lauschte, als ob die Tiefe ein furchtbares Geheimniß berge, von dem er einen Laut erhorchen müsse.

Als auch das Abendroth am fernen Horizont verschwunden war, ging er langsam in die Stadt zurück und nach der Großstraße in das Haus seines Arbeitgebers. – Am andern Morgen erschien zur Verwunderung der Arbeiterinnen ein Zimmermann auf dem Acker und schlug ein rohes, aber derbes Brettergerüst um den alten Brunnen.



[50] Im September wurde auf dem ersten Packboden des ungeheuren Speichers das „Cichorienbier“ gefeiert, das schon am Nachmittag begonnen hatte; was in der Fabrik in Arbeit stand, der Fuhrmann, der Heizer, der Brenner und wie sie alle genannt wurden, alle waren da, es war wimmelnd voll; Gewinde von Astern und Buxbaum und von sonstigen Herbstblumen und Blättern hingen überall an den Balken. An großen Tischen, an über Tonnen gelegten Brettern hatten sie gesessen; nun aber war der Kaffee ausgetrunken; die Lampen und Laternen, die zwischen den Kränzen hingen, wurden angezündet, und in dem dämmerigen Gemunkel wurden eine Klarinette und ein paar Geigen laut, wonach die jungen Dirnen schon längst die Hälse gestreckt hatten.

John tanzte schon mit seiner jungen Frau, die heiß in seinen Armen lag; er sah voll Lust über die dunkle Menschenmenge hin; aber was ging sie ihn an? – Da wurde er mit seiner Tänzerin gegen das Ende eines schweren Eichentisches gestoßen, der unter die Tanzenden hineinragte; und sie that einen jähen Aufschrei. Es hatte nichts [51] auf sich; aber John rief den jungen kräftigen Heizer an: „Hilf mir den Tisch fortsetzen, Franz!“

Er schien es nicht zu hören; da faßte John ihn an dem Aermel. „Was soll’s?“ rief der Heizer und wandte halb den Kopf.

„Nicht viel“, engegnete John, „der Tisch muß fort, dort in die Ecke!“

„Ja, trag’ ihn nur dahin!“ sagte der junge Mensch und drängte sich zu den andern Arbeitern, von denen ein Theil zusammenstand. „Was wollte er von Dir?“ frug einer von ihnen.

„Ich weiß nicht; ich sollt’ ihm helfen! Mag er sich selber helfen! Man hat nur keine andre Arbeit; sonst müßt’ man von hier fort!“

Die andern lachten und gingen auseinander, um sich Tänzerinnen zu suchen. John aber, der aus halbgehörten Worten sich genug heraushörte, klemmte die Lippen zusammen und tanzte weiter mit seinem jungen Weibe, und immer nur mit ihr.

Inmitten der Fröhlichkeit kam auch die Herrschaft mit einigen Freunden auf den Boden; auch der Bürgermeister war dabei, einer von denen, [52] deren Theilnahme damals den Verurtheilten in das Zuchthaus begleitet hatte. Jetzt folgte sein Blick dem hübschen jungen Paare.

Eine ältliche, unverheirathete Schwester der Hausfrau stand neben ihm. „Nun sehen Sie“, flüsterte die Dame und zeigte mit dem Finger nach dem Paare, „vor zehn Monaten noch am Wollspinnen im Zuchthaus, und nun tanzt er mit dem Glück im Arm!“

Der Bürgermeister nickte: „Ja, ja – Sie haben Recht … aber er selbst ist doch nicht glücklich und wird es nimmer werden.“

Die alte Jungfer sah ihn an. „Das versteh’ ich doch nicht ganz“, sagte sie, „solche Leute fühlen anders, als unsereins. Aber freilich, Sie sind ein unverbesserlicher Junggesell!“

„Ich scherze nicht, liebes Fräulein“, erwiderte der Bürgermeister; „es thut mir leid um diesen Menschen: das Glück in seinem Arm mag echt genug sein, ihm wird es nichts nützen; denn in seinem tiefsten Innern brütet er über ein Räthsel, zu dessen Lösung ihm weder sein Glück, wie Sie das junge Kind in seinen Armen zu nennen belieben, [53] noch irgend ein anderer Mensch auf Erden verhelfen kann.“

Das alte Fräulein sah recht dumm zu dem Redenden auf. „So möge er das Brüten lassen!“ sagte sie endlich.

„Das kann er nicht.“

„Weshalb nicht? Er sieht doch herrisch genug aus.“

„Das thut er“, entgegnete der Bürgermeister nachdenklich, „er könnte sogar wohl toll darüber werden, vielleicht noch einmal ein Verbrecher; denn das Räthsel heißt: wie find’ ich meine verspielte Ehre wieder? – – Er wird es niemals lösen.“

„Hm“, meinte die Dame, „Herr Bürgermeister, Sie haben allzeit so besondere Gedanken; aber ich denke, wir haben jetzt genug davon; die Laubkränze verbreiten so strengen Duft, und die Lampen qualmen auch, man trägt’s noch tagelang in Haar und Kleidern.“

Sie gingen alle und überließen die Armen ihrer Lustbarkeit; nur der Bürgermeister zögerte noch ein paar Minuten, da wieder das junge Paar vorübertanzte. Das siebzehnjährige Weib hing mit [54] lachenden Augen an denen ihres Mannes, die sich, wie um alles zu vergessen, in die ihren zu bohren schienen.

„Wie lange noch wird’s dauern?“ murmelte der Bürgermeister, dann folgte er den Anderen.




Es dauerte doch noch ziemlich lange; denn das Weib war, obgleich in Lumpen aufgewachsen, jung und unschuldig. Sie wohnten in der Kathe am Ende der ins Feld hinauslaufenden Norderstraße; das Kämmerlein vorn war das ihre, die Mutter hatte sich ein Lager in der engen Küche einzurichten verstanden. Sein alter Arbeitgeber wußte nun schon, daß John ein halbmal mehr als andere arbeite, und deshalb, und da auch der Bürgermeister ihm zusprach, hielt er den Mann fest, so oft ihm auch gerathen wurde, den Zuchthäusler vor die Thür zu setzen. So war allzeit Arbeit da, für ihn und oftmals auch für die Frau, und die Nahrungssorge klopfte nicht an die kleine Thür. Ein Gärtlein war auch am Haufe und darin, hinten nach dem Weg hinaus, eine dichte Ligusterlaube. [55] Hier saß die Frau meist an den Sommerabenden und harrte seiner, bis er von der Arbeit kam; dann flog sie auf ihn zu und zwang ihn, sich auf die Bank zu setzen; er aber litt sie nicht neben sich, er setzte sie auf seinen Schoß und hielt sie wie ein Kind an seiner Brust. „Komm nur“, sagte er, „so müde bin ich nicht; ich hab’ nicht viel, ich muß es alles in meinen Armen haben.“ So sprach er eines Abends; da sah sie ihn an und strich ihm, als wolle sie etwas fortwischen, mit ihren Fingern über die Stirn. „Das da wird immer tiefer!“ sagte sie.

„Was denn, Hanna?“

„Die Falte – nein, sprich nicht, John; ich kann’s schon denken, die Brückenarbeiter haben heut’ ihr Fest; die andern sind da, sie haben Dich nicht eingeladen.“

Die Falte wurde noch tiefer. „Laß das!“ sagte er. „Sprich nicht davon; ich wär’ ja doch nicht hingegangen.“ Und er klammerte die Arme fester um sein Weib. „Am besten“, sagte er, „nur wir zwei allein.“

– – Nach einigen Monaten sollte ein Kind [56] geboren werden. Die gutmüthige Alte lief mit wirrem Kopf umher; bald stellte sie ein Töpfchen für die Wöchnerin ans Feuer, bald wieder wickelte sie die dürftigen Hemdchen auseinander, die sie für ihr erwartetes Enkelkind aus alter Leinwand in vielen Wochen genäht hatte. Das junge Weib war im Bette liegen geblieben; der Mann saß bei ihr, er hatte Arbeit Arbeit sein lassen und hörte nur auf das Stöhnen seines Weibes, die fest ihre Hand um seine preßte. „John!“ rief sie, „John! geschwind, Du mußt zur Mutter Grieten laufen, aber komm gleich wieder, bleib nicht fort!“

John hatte in dumpfen Sinnen gesessen. Nur wenige Augenblicke noch, dann sollte er Vater werden; ihn schauderte, er sah sich plötzlich wieder in der Züchtlingsjacke. „Ja, ja,“ rief er, „ich bin gleich wieder da!“

Es war am Morgen, und die Hebamme wohnte in derselben Straße; er lief und riß die Hausthür auf, und als er in die kleine Stube trat, saß die dicke Alte an ihrem Morgenkaffee. „Na, Er ist’s!“ rief sie unwirsch, „ich dacht’ zum mindesten, es sei der Amtmann!“

[57] „Ich hab’ nicht weniger ein Weib als der!“

„Was ist mit Seinem Weibe?“ frug die Alte.

„Frag’ Sie nicht! Komm Sie mit mir; mein Weib liegt in Kindesnöthen; wir bedürfen Ihrer Hülfe.“

Die Alte musterte den erregten Mann, als zähle sie im Geist die wenigen Schillinge, die dieser Dienst ihr abwerfen werde, wenn sie nicht gar verloren gingen. „Geh’ er nur vorab!“ sagte sie. „Ich muß erst meinen Kaffee trinken.“

John stand wie unentschlossen an der Stubenthür.

„Geh’ er nur!“ wiederholte sie, „sein Kind kommt früh genug!“

Er hätte das Weib erdrosseln mögen; aber er biß nur die Zähne aufeinander; sein Weib bedurfte ihrer. „So bitt’ ich nur, Frau Grieten, trinket nicht zu langsam!“

„Ja, ja“, sagte die Alte „ich trinke, wie ich Lust hab’.“

Er ging; er sah, daß jedes seiner Worte sie nur noch widerwilliger machte.

[58] Sein Weib fand er wimmernd auf dem heißen Bett. „Bist Du es, John? Hast Du sie bei Dir?“

„Noch nicht; sie kommt wohl gleich.“

Das „gleich“ wurde zu einer halben Stunde, während John reglos neben der jammernden Wöchnerin saß und die Alte draußen noch einmal Kaffee für Mutter Grieten kochte. „Die können allzeit Kaffee trinken“, sprach sie zu sich selber, „man muß sie sich zu Freunden halten!“

„John!“ rief in der Kammer das junge Weib, „sie kommt noch immer nicht!“

„Nein“, sagte er, „sie muß erst Kaffee trinken.“

Er knirschte mit den Zähnen, und seine düsteren Brauen zogen sich zusammen, „Du hättest nur des Amtmanns Weib sein sollen!“

„John, ach John! ich sterbe!“ schrie sie plötzlich.

Da sprang er auf und rannte aus dem Hause. Auf der Straße begegnete er der dicken Hebamme. „Nun“, rief sie, „ist das Kind schon da? Wohin will Er denn?“

„Zu Ihr, Frau Grieten, damit mir meine Frau nicht sterbe.“

[59] Die Alte lachte. „Tröst’ Er sich, an so etwas stirbt Euresgleichen nicht!“

Sie zog ihn mit nach seiner kleinen Wohnung. Als sie in die Kammer trat, sah sie auf die Wöchnerin. „Wo ist die Alte?“ frug sie. „Habt Ihr denn nichts bedacht?“ und sie zählte auf, was man bei solcher Gelegenheit für sie bereit zu halten pflegte; und sie brachten ihr, was sie hatten.

John stand zitternd am Ende des Bettes, und endlich wurde das Kind geboren. Die Hebamme wandte den Kopf nach ihm. „Da hat Er eine Dirne; die braucht nicht Soldat zu werden!“

„Eine Züchtlingstochter!“ murmelte er; dann fiel er vor dem Bette auf die Kniee: „Möcht’ Gott sie wieder zu sich nehmen!“




Immer feindlicher stand ihm die Welt entgegen; wo er ihrer bedurfte, wo er sie ansprach, immer hörte er den Vorwurf seiner jungen Schande als die Antwort; und bald hörte er es auch, wo kein anderer es hätte hören können. Man hätte fragen mögen: „Du mit den starken Armen, mit [60] deiner mächtigen Faust, warum duldest du das, warum bringst du sie nicht zum Schweigen?“ Hatte er doch einmal, da von einem maulfrechen Matrosen sein Weib eine Betteldirne war gescholten worden, den Menschen hingeworfen und ihm fast den Schädel eingeschlagen; und nur mit Noth hatte im Sühnetermin der ihm günstige Bürgermeister die Sache unter beiden ausgeglichen!

Doch das war ein anderes; wo aber eine Hand erbarmungslos an jene offene Wunde seines Lebens rührte, wo er’s nur glaubte, da fielen die starken Arme ihm an seinem Leib herunter, da war nichts mehr zu schützen oder gar zu rächen.

Und dennoch, mit ihm in seinem armen Hause wohnte noch immer das Glück. Zwar, wenn seine Stirn zu finster, sein Wort zu knapp und trocken wurde, dann flog es wohl erschreckt davon, aber es kehrte doch allezeit zurück und saß mit den jungen Eltern an dem Bettchen ihres Kindes und lächelte sie an und fügte ihre Hände unvermerkt zusammen. Das Glück war noch nicht ganz gewichen; die Alte nahm sich mehr und mehr der Wartung des Kindes an, je weiter es heranwuchs, und Hanna [61] ging wieder dann und wann auf Arbeit und half erwerben. Wer trug denn die Schuld, daß immer öfter das Glück davon flog, und sie immer länger ohne die holde Genossin zwischen ihren kahlen Wänden saßen? War es der Eigenwille der Weiber oder der so lang in Schlaf versenkte Jähzorn in ihnen beiden, der nach der großen Liebesfreude allmählich aus der Tiefe immer ungebändigter hervorbrach? Oder war es in dem Manne die unsühnbare Schuld, die den bitteren Unmuth in ihm aufjagte? Hatte es doch, da vor geraumer Zeit sein alter Arbeitgeber durch jähen Tod gestorben war, nur kaum unter Noth und Kummer gelingen wollen, daß er jetzt endlich am Wege saß und Steine klopfte.

Da war’s, an einem Herbstabend, das Kind mochte ein Jahr alt sein; es lag in seinem Bettchen, das bald nach der Geburt der Vater ihm gezimmert hatte, und schlief, daß die heißen Tropfen auf der kleinen Stirne perlten. Aber Hanna saß verdrossen dabei, die kleinen Füße ausgestreckt, den einen Arm über die Stuhllehne herabhängend: das Kind hatte immer noch nicht schlafen wollen, [62] und die alte Mutter, die ihr sonst die Last abnahm, war von einem Gichtanfall ins Bett getrieben worden. „Du hättest auch eine Wiege zimmern können!“ rief sie ihrem Manne zu, der eben müde von der Arbeit kam und sein Werkzeug in eine Ecke stellte.

„Was ist denn?“ frug er, „das Kind schläft nun ein Jahr schon in dem Bettchen; Du freutest Dich doch selbst, als ich’s gemacht hatte!“

„Nun will es aber nicht mehr“, gab sie zur Antwort.

„Es schläft ja doch!“

„Ja, – über eine Stunde hab’ ich damit herum gearbeitet!“

„Da haben wir beid’ gearbeitet“, sagte er kurz.

Aber sie schwieg nicht, Red’ um Rede ward wechselsweise schärfer und unbedachter.

„Es wird schon morgen besser schlafen oder übermorgen“, sprach noch der Mann. „Wenn’s gar nicht geht – wir kriegen dann wohl eine Wiege!“

„Woher?“ frug sie. „Damals, als Du das gute Holz hattest, hätt’st Du die Wiege machen sollen!“

[63] „Ei, so säg’ ich die Beine ab“, sagte John, „und schlag’ ein paar Gängeln darunter; dann hast Du Deine Wiege!“

Aber dem jungen Weibe war ja die Wiege nur ein Spielwerk für ihren Unmuth gewesen; ein häßlich Lachen fuhr aus dem hübschen Munde: „Soll ich das Ungeheuer denn allein regieren?“

Er riß den Kopf empor: „Willst Du mich höhnen, Weib?“

„Warum nicht!“ rief sie und verzog den Mund, daß ihre weißen Zähne ihm in die Augen blitzten.

„So helf Dir Gott!“ schrie John und hob die Faust.

Sie sah es und sah erst jetzt den Jähzorn in seinen Augen flimmern. Ein jähes Entsetzen fiel sie an; sie flog in eine Ecke des Zimmers und stürzte dort zusammen. „Schlag nicht, John!“ schrie sie. „Um Deinetwillen, schlag mich nicht!“

Aber seine stets so rasche Hand war in der Leidenschaft zu rasch gewesen. Die Hände an den Schläfen in das dunkle Haar gedrückt, mit scheuen Augen sah das Weib ihn an; seine Hand hatte ihr die Stirn nur leicht gestreift, sie selber sprach [64] kein Wort; aber dennoch hörte er es in seinen Ohren gellen: „Weh dir, du hast dein Glück zerschlagen!“

Er fiel zu ihr nieder; er sprach, er wußte selbst nicht, was; er bat sie, er riß ihr die Hände vom Gesicht und küßte sie. Aber sein Weib antwortete ihm nicht; wie mit der List des Wahnsinnes blickte sie heimlich nach der offenen Stubenthür, und plötzlich war sie unter seinen Armen fort; er hörte, wie sie hinter sich die Hofthür zuschlug.

Und als er dann sich wandte, sah er sein Kind aufrecht in dem Bettchen sitzen; es hatte mit beiden kleinen Fäusten sich das Betttuch in den Mund gestapft und sah mit großen Augen auf ihn hin; doch als er unwillkürlich näher kam, schlug es Kopf und Aermchen rückwärts, und die Kinderstimme gellte durch das kleine Haus, als ob sie untragbar Unglück auszuschreien habe. Er erschrak, aber er hatte keine Zeit; was kümmerte ihn jetzt das Kind! Er rannte aus der Hofthür durch den dunklen Garten. „Hanna!“ rief er, und laut und immer lauter „Hanna!“ Aber nur die Baumwipfel der vielen Gärten, die hier aneinander liegen [65] rauschten von den Tropfen, die jetzt vom Himmel fielen, und aus der hinterliegenden Stadt kam das Geräusch von allerlei Fuhrwerk. Mit Entsetzen fiel ihm der Brunnen ein: „Wenn sie sich ein Leids gethan hätte!“ Er lief den Weg hinauf, wo der Eingang zu den Feldern war; da stolperte sein Fuß, ein Menschenlaut vom Boden wurde hörbar. „Hanna!“ schrie er, „Hanna, Du lebst? Gott Dank, Du bist es!“ Ein lautes Jauchzen hätte er in die Nacht geschrieen, aber sein Herz, das zum Zerspringen klopfte, machte es ihm unmöglich. Er hob sie wie ein Kind auf seine Arme, und da der Regen stärker fiel, zog er seinen Rock vom Leibe und hüllte sie darein; dann hielt er sie sanft an seine Brust und ging langsam, als sei er zum ersten Mal allein mit seinem jungen Weibe, in dem strömenden Regen ihrem Hause zu.

Sie hatte alles ohne ein Zeichen des Lebens sich gefallen lassen; erst als aus ihres Mannes Augen ein warmer Thränenschauer auf ihr Antlitz fiel, streckte sie die Hand empor und strich damit ihm sanft über seine Wange.

„Hanna, liebe Hanna!“ rief der Mann. Da [66] kam auch ihre andere Hand hervor, und beide schlossen sich um seinen Hals.

Und das Glück ging wieder leis an ihrer Seite; er hatte es noch nicht verjagt.




Wer wüßte nicht, wie oft es denen, die wir „Arbeiter“ nennen, zum Verhängniß wird, daß ihre Hand allein ihr Leben machen muß! Wo in der Leidenschaft das ungeübte Wort nicht reichen will, da fährt sie, als ob’s auch hier von ihr zu schaffen wäre, wie von selbst dazwischen, und was ein Nichts, ein Hauch war, wird ein schweres Unheil. Und geschah es einmal, so geschieht’s auch ferner; denn die meisten dieser Leute, just nicht die schlechtesten, sie leben ihre Zeit dahin und haben ihre Augen nur auf heut und morgen; was gewesen und vergangen ist, giebt ihnen keine Lehre.

So war es auch mit John. Wenn an arbeits- und verdienstlosen Tagen die Noth, oder was es immer sein mochte, seine Nerven zucken machte, so faßte auch ferner seine böse Hand nach seinem Weibe, deren Blut nicht kälter rollte als das seine. [67] Und Buben und junge Leute blieben auf der Gasse vor ihrem Häuschen stehen und ergötzten sich an dem, was von dem Elend drinnen an ihr Ohr hinaus drang. Nur einer, der alte Nachbar Tischler kam mit gutem Willen; er ging ins Haus und sprach mitunter die Streitenden zur Ruhe, oder er trat, mit einem hübschen, leise schluchzenden Kinde auf den Armen, wieder aus der Thür; „das ist nichts für Dich, Du kleiner Engel“, sagte der alte Mann, „komm Du mit mir!“ und er ging mit ihr in seine Wohnung, wo eine ebenso alte Frau das Kind ihm zärtlich aus den Armen nahm.

Wenn aber in dem kleinen Hause Jähzorn und Kräfte sich erschöpft hatten, dann – wovon die draußen nichts gewahrten – fielen Mann und Weib sich in die Arme und preßten und küßten sich, als ob sie so sich tödten wollten. „O Hanna, sterben!“ rief einmal der wilde Mann; „nun mit Dir sterben!“ und aus den rothen Lippen des Weibes stieg ein Seufzer, sie warf ihre trunkenen Augen aus den erregten Mann und zog das Mieder, das er vorhin über ihrer weißen Brust zerrissen hatte, noch weiter von der Schulter. „Ja, John“, [68] rief sie, „nimm nur Dein Messer und stoß es da hinein!“

Aber während er sie anstarrte, ob denn das Furchtbare ihr auch ernst sei, rief sie plötzlich: „Nein, nein! Thu’s nicht, das nicht! – unser Kind, John! – das wär’ Todsünde!“ und sie bedeckte hastig ihre preisgegebene Brust.

Er sagte langsam: „Ich weiß es nun, ich tauge nicht, ich bin doch wieder schlecht gegen Dich!“

„Du nicht! Du nicht, John!“ rief sie, „ich bin die Böse, ich reiz’ Dich, ich zerr’ an Dir herum!“

Aber er zog sie fester an sich und verschloß ihren Mund mit Küssen.

„John!“ flüsterte sie, als sie wieder frei war und wieder ihren Athem hatte, „schlag’ mich nur, John! Es thut wohl weh, am meisten in meinem Herzen; aber dann küß’ mich, küß’ mich todt, wenn Du es kannst! Das thut noch süßer, als das Schlagen weh thut!“

Er sah sie an, und er zitterte, als er sie so in ihrer Schönheit sah: sein Weib, die keines andern war, als nur die seine.

„Ich will Dich nicht mehr schlagen“, sprach [69] er, „zerr’ mich nur, so viel Du kannst!“ und mit zärtlichen unterwürfigen Augen blickte er auf sie herab.

„Nein, John!“, sagte sie, und ihre tiefe Stimme klang so weich, „Du wirst es doch thun! Aber nur eines: Du thatst es gestern, aber thu’s nicht wieder! Schlag’ nicht unser armes Kind! Ich hasse Dich dann, und das, John, thut am allerwehesten!“

„Nein, Hanna; auch das Kind nicht“, sprach er wie träumend.

Und sie bückte sich und küßte seine Hand, mit der er vorhin sie geschlagen hatte.

– Das sah kein Mensch, und doch, nach ihrer beider Tode ist davon erzählt worden.




Trotz Noth und Schuld war die enge Kathe noch immer sein Heim und seine Burg, denn von den beiden Frauen dort rührte keine an seiner Wunde, nur dort noch war er davor sicher.

Es war das eben kein Erbarmen; sie dachten nur nicht daran, und thaten sie es je, so war des Mannes Jugendschuld ihnen mehr ein Unglück, als [70] ein Verbrechen, denn in ihrem eigenen Leben lagen Recht und Unrecht oft nur kaum noch unterscheidbar neben einander. War doch auch in des Weibes Kinderzeit ein sehr alter Mann ihr guter Freund gewesen, der wegen gleichen Vergehens in der „Sklaverei“ gewesen war und manches Jahr in Ketten die Karre geschoben hatte. Harmlos, wie andre von den Abenteuern ihrer Jugend plaudern, hatte er dem Kinde das erzählt. Nun wohnte er in einem nahen Dorfe und fuhr mit seiner mageren Kracke weißen Sand zur Stadt und schnitzte, wenn er daheim war, Holzschuhe und Sensenstiele. Er hatte oftmals im Vorbeifahren mit dem munteren, auf der Hausthürschwelle sitzenden Kinde ein paar großväterliche Worte geredet, so daß sie allmählich aufpaßte, wenn der weißhaarige Greis mit seinem kümmerlichen Fuhrwerk von der Landstraße in die Stadt kam. Die Holzschühchen, die er ihr einmal mitgebracht hatte, standen noch auf dem kleinen Boden; sie hatte sie neulich für ihr eigen Kind hervorgesucht. – „Wo der alte Mann wohl abgeblieben ist?“ hatte sie bei sich selber gesprochen, indem sie den Staub von den Schühchen wischte [71] und sie dann sorgsam neben einander stellte, „auf einmal kam er nimmer wieder.“

Daß der Greis, der in so friedlichem Alter dahin gegangen war, auch zu den Züchtlingen gehört hatte, das hatte weder ihn noch sie beunruhigt.

Dennoch kam Eines und machte allem ein jähes Ende.

– – Es war eine Zeit leidlichen Verdienstes gewesen; aber Hanna’s Mutter war nach kurzem Krankenbett gestorben. Hanna hatte die alte Frau leidenschaftlich beweint; John hatte gerechnet und that es noch, denn das verdiente Geld war dabei fortgegangen, und kleine Schulden waren noch dazu aufgelaufen. – Am Häuschen, an der Gartenseite, hatte lange Jahre ein starker Eschenbaum gestanden, in dessen Schatten die jungen Eheleute früher am Sonntagmorgen oft gesessen hatten, aber schon vor Jahr und Tag, in einer Zeit des Nothstandes, hatte John ihn umgehauen; er hatte Geld aus dem schönen Stamm zu lösen gedacht, den, wie die Alte versicherte, ihr Mann einst selbst dorthin gepflanzt hatte; allein der Baum lag noch immer auf dem Hofe, und nur der erquickliche Schattensitz [72] war verloren. Jetzt kam er doch zu Nutzen: Der Nachbar Tischler nahm ihn und machte dafür der Alten einen Sarg mit hohem Deckel; so kam sie, was ihre letzte Sorge gewesen war, doch anständig in die Grube.

Aber die Todtengebühren waren meist noch unbezahlt, und manches andere drückte auch noch; es bot sich wieder einmal kaum je am andern Tage eine Arbeit.

Ein Sonntagmorgen war es; Hanna hatte eben das jetzt schon dreijährige Kind in seinen dürftigen Sonntagsstaat gekleidet; John saß mit aufgestütztem Ellenbogen am Tisch vor seinem Morgenkaffee, wühlte mit der Hand in seinen dunklen Locken und schrieb mit einem Stückchen Kreide Zahlen auf die Platte.

Bald aber zerbrach und zermalmte er die Kreide zwischen seinen Fingern und starrte wie gedankenlos auf Weib und Kind. „Was hast Du jetzt zu thun, Hanna?“ frug er endlich.

Sie warf den Kopf herum; die Worte klangen ihr so trocken. „Nichts!“ sagte sie ebenso, „das Kind ist angezogen.“

[73] „Was thatest Du denn, als Du mit Deiner Mutter noch allein warst und nicht einmal ein Kind zum Anziehn da war?“

„Ich ging betteln in der Stadt!“ antwortete sie, und ein höhnischer Trotz klang aus den Worten, „das ging noch besser, als es jetzt geht! Du wußtest ja, daß Du eine Betteldirne freitest!“

„Und schämtest Du Dich nicht?“ fuhr es aus ihm heraus.

„Nein“, sagte sie hart und sah ihm mit starren Augen ins Gesicht.

„Warum lerntest Du nicht mit feiner Wäsche umgehn? Deine Mutter konnte es doch; sie hatte bei Herrschaften gedient. Das hätte uns jetzt Geld gebracht und wär’ besser gewesen, als das faule Umherlungern.“

Sie schwieg; es war nie daran gedacht worden. Aber in ihrem hübschen Kopfe fing es an zu kochen, als sie nichts erwidern konnte. Dazu, die Augen ihres Mannes lagen auf ihr, als wolle er sie ganz ins Nichts hinunterdrücken. Da kam ihr ein Gedanke; er versetzte ihr den Athem, aber sie konnte es nicht verhalten. „Es giebt ja noch andern [74] Verdienst!“ sagte sie, und als er schwieg: „Wir könnten Wolle spinnen; das hast Du ja sechs Jahre lang getrieben und kannst es mich selber lehren!“

Ihm war, als hätte er einen Schlag in sein Gehirn bekommen, und sein Gesicht verwandelte sich so furchtbar, daß sich das Kind mit beiden Aermchen an die Mutter klammerte.

„Weib! Hanna!“ schrie er. „Das sagst Du mir? – Du?“

Und als sie jetzt wie ohne Leben ihm ihr Gesicht entgegenhielt, faßte er sie an beiden Schultern, zog sie an sich, als müsse er sich überzeugen, ob sie’s auch selber wäre, und stieß sie dann gewaltsam von sich. Der Stuhl, an welchem sie gestanden hatte, fiel zurück, und das Kind stieß einen gellenden Schrei aus; das Weib aber stürzte gegen den Ofen; dann glitt sie mit einem schwachen Wehlaut auf den Boden.

Als wären die Gedanken ihm abhanden gekommen, sah John darauf hin; als er ein wenig seine Augen hob, da sah er an einem hervorstehenden Schraubenstift des Ofens, von dem das Kind den Messingknopf zum Spielen abgenommen [75] hatte, einen Tropfen rothen Blutes hängen. Er kniete nieder und fuhr suchend mit den Händen durch das volle Haar seines Weibes; plötzlich wurden ihm die Finger feucht, er zog sie hervor. „Blut!“ schrie er und betrachtete mit Entsetzen seine Hand; dann fuhr er fort zu suchen, hastig, mit fliegendem Athem, und – nun hatte er es gefühlt, ein Stöhnen brach aus seinem Munde: da, da quoll es hervor, da war der Stift hineingedrungen; tief – er wußte nicht, wie tief. „Hanna!“ flüsterte er, indem er sich zu ihrem Ohre beugte, und noch einmal stärker: „Hanna!“

Da kam es endlich. „John!“ kam es von ihren Lippen; doch wie aus weiter Ferne.

„Hanna!“ flüsterte er wieder, „bleib, o stirb nicht, Hanna! Ich hol’ einen Doktor; gleich, gleich bin ich wieder da!“

„Es kommt doch keiner.“

„Ja, Hanna, er soll kommen!“

Eine Hand griff tastend nach der seinen, wie um ihn zurückzuhalten. „Nein, John – kein Doktor – Du bist nicht schuld – aber – sie setzen Dich ins Gefängniß!“

[76] Sie warf sich plötzlich gewaltsam herum. „Küß mich, John!“ rief sie laut und wie in Todesangst; doch als er seine Lippen auf die ihren drückte, küßte er nur noch eine Todte.

Scheu schlich das Kind zu ihm heran. „Ist Mutter todt?“ frug es nach einer Weile, und als der Vater nickte: „Warum weinest Du denn nicht?“

Da ergriff er das erschrockene Kind mit beiden Händen und drückte es an sich. „Ich kann nicht!“ stammelte er heiser; „ich habe sie – – ermordet“ wollte er sagen, aber es wurde an die Thür geklopft.

Er wandte den Kopf und sah den Nachbar Tischler eintreten. Der alte Mann hatte durch die dünnen Wände den Lärm gehört, das Mitleid mit der Frau, die dessen nicht mehr bedurfte, hatte ihn hergetrieben; nun sah er erschrocken auf die Todte.

„Was ist das! Was habt Ihr hier?“ frug er verwirrt.

John richtete sich auf und setzte die Kleine auf den Fußboden. „Es ist nur wieder ein Sarg [77] zu machen“, sagte er tonlos, „und ich habe keine Eschenstämme mehr. Ich bin ein armer Lump, Nachbar!“

Der Alte sah ihn eine Weile schweigend durch seine runden Brillengläser an. „Ich weiß wohl“, sagte er dann, „daß Du dies Weib nicht verdientest; Du brauchst just nicht davon zu reden – wie ist denn das Unglück hier zu Platz gekommen?“

Und John berichtete, was geschehen war; ohne Auslaß, trocken, als sei es eines Dritten Sache; dann aber warf er sich wieder zu der Todten und betrachtete mit Scheu ihr Antlitz, das wie schlafend vor ihm lag; leise, als gelte es ein Verbot zu übertreten, streckte seine große Hand sich aus und strich zitternd über die leblosen Züge. „Wie schön, o wie schön!“ murmelte er; „und sie werden ein glattes Brett darüber nageln, wie sie es den armen Menschen thun!“

Der Alte kannte seinen Mann; er glaubte seinem Berichte: er wußte, er brauchte nicht weiter darüber zu reden; dennoch trug er ihm mehr Groll als Mitleid. „Sei ruhig, John“, sagte er fast mürrisch, „ich mache Deinem Weibe ihren Sarg [78] wie damals ihrer Mutter; wenn wieder Arbeit kommt, so magst Du zahlen, wenn Du es kannst!“

Da richtete der elende Mann sich auf. „Dank Nachbar; aber gewiß, ich bezahl’s Euch, jeden Sechsling, jeden Pfennig; denn ich muß sie selbst begraben. Sonst soll mich Gott verdammen!“

Das Kind erschrak und ließ den Zipfel seines Rockes los, den es bisher gefaßt hielt.

„Soll meine Frau Euch“, frug der Tischler, „die Kleine für die nächsten Tage abnehmen? Ihr habt hier Niemand mehr.“

„Nein, Niemand mehr“; und aus seinen Augen flog ein Blick wie um Erbarmen flehend zu dem Angesicht des neben ihm stehenden Kindes. „Fragt sie selbst, Nachbar!“ sagte er und ließ den Kopf auf seine Brust sinken. Aber er fühlte plötzlich die kleinen Arme zu sich emporstreben, und als er dann sein Kind emporhob, drückte es das Köpfchen fest an seine Wange; wie einen Strom von Lebensmuth fühlte er es an sein Herz zur zurückfluthen. „Nein, Nachbar“, sprach er, „seid bedankt! Aber mein Kind will doch nicht von mir; sie weiß, es ist nicht gut, so ganz allein zu sein.“

[79] Dann, als der Alte fortgegangen war, brach ein Strom von Thränen aus seinen Augen. Er kniete nieder zu der Todten. „Hilf mir, mein Kind, es wird mir schwer zu leben!“ rief er, und die Kleine sah mit großen Augen zu ihm auf.




Vom Begräbnisse war John allein zurückgekommen, Niemand hatte ihn begleitet; der alte Nachbar hatte der Todten ihren Sarg gemacht und war den letzten Weg mit ihr gegangen, dann war er in sein Haus zurückgekehrt.

John stand in seinem Zimmer und sah sich schweigend in den leeren Wänden um, hier war nun Ruhe, aber wo war das Glück? Auf der kleinen Schatulle standen neben anderem Geschirre die zwei Tassen mit den grob gemalten Rosen, die er vor ein paar Jahren am Hochzeitsmorgen gekauft hatte. Seine Augen streiften darüber hin, er sah noch den Herbstsonnenschein, der damals über der breiten Straße gelegen hatte; er schüttelte sich, der war ja längst vergangen. Draußen auf der Gasse war wie immer das gewerbliche Getöse, [80] aber hier in der kleinen Kammer war es furchtbar still; auch der kattunene Vorhang dort in der Ecke hing so unbeweglich, als ob nun alles aus sei. Er konnte es nicht ertragen, er trat hinzu und zog ihn zurück; da fiel ein Mieder Hanna’s, das sie noch selbst dahin gehangen hatte, auf den Boden. Ein wilder Schmerz durchfuhr ihn, als er es aufhob; er taumelte auf einen Stuhl und schlug die Hände vors Gesicht.

Da knarrte die nur angelehnte Kammerthür, sein Töchterchen drängte sich hindurch und hielt ihm triumphirend ein Püppchen unter die Augen, ein Geschenk der Tischlerfrau, die das Kind während des Begräbnisses an sich genommen hatte. Nun aber hatte es nicht länger Ruhe gehabt; es war durch die Gärten und zur Hinterthür hereingelaufen, um auch dem Vater seinen Reichthum zu zeigen.

Der sah sie mit wirren Augen an, als sie aber erwartend vor ihm stehen blieb, hob er sie auf seinen Schoß und suchte sich zu fassen. „Was hast Du da, Christinchen? Wer hat Dir das geschenkt?“

Aber bevor noch die Antwort des Kindes kam, [81] wurde mit einem Stecken an die Thür geklopft, und ein alter, grauhaariger Weiberkopf guckte in die Stube; der zahnlose Mund blieb offen stehen, während der Kopf mit den kleinen munteren Augen Vater und Tochter zunickte.

John kannte das Gesicht: es gehörte der alten „Küster-Mariken“, einer jener sauberen Bettlerinnen, wie wir manche bei uns zu Hause haben. Sie war eine Schullehrertochter vom Lande, hatte in ihrer Jugend in der Stadt gedient und dort einen kleinen Handwerksmann geheirathet. Nach dessen Tode hatte sie Jahre lang mit ehrlicher Arbeit sich um die Lebensnothdurft abgemüht, dann war sie früh gealtert und verarmt; nur das schwer ersparte Geld zu einem guten Leichenbegängniß trug sie unantastbar in einem Lederbeutelchen an ihrem Leibe; was sie zu ihrer Nahrung noch bedurfte, holte sie sich nun Tag für Tag bei den Leuten, wo sie einst gedient hatte, oder bei deren Kindern oder solchen, die es ihr geboten hatten. John war ihr oft auf ihren „Suppengängen“, wie sie das selber nannte, begegnet und hatte der Alten freundlich guten Weg geboten.

[82] Auch jetzt nickte er ihr freundlich zu. „So kommt doch arm zu arm!“ sagte er. „Was will Sie von mir, Mariken?“

Aber von der Alten war noch immer nur der Kopf und die Krücke ihres Steckens in dem Zimmer. „John“, sagte sie, „kannst Du ein altes Weib gebrauchen? Ich möchte in eins von Deinen leeren Betten kriechen!“

„Das Bettzeug ist schon verkauft, Mariken“, sagte John.

„Nein, John, das Bettzeug hab’ ich selber, da brauchst Du nicht zu sorgen!“

„Was will Sie denn mit dem leeren Bett?“

„Ei“, erwiderte die Alte, „so will ich’s nach der Ordnung sagen: Du weißt doch, ich hab’ ein Kämmerchen bei dem Schlachter Nissen, nur sechs Fuß hin und her, doch schmuck und sauber, und jeder kann auf meine Dielen treten!“

„Nun“, unterbrach sie John, „hat der Sie jetzt hinausgeworfen?“

Die Alte war einen Schritt in die Stube getreten und drohte schmunzelnd mit der Krücke: „Bei Leibe nicht! Aber das alte faule Gebäu muß eingerissen [83] werden, und in dem neuen, da passet unsereins nicht mehr hinein. So hab’ ich an Dich gedacht, John! Sie trauen Dir zwar nicht; aber ich kenn’ Dich besser! Du giebst mir Unterschlupf; ich halte Dir Deine Kammer hier so schmuck, wie jetzund die meine, und hüte Dir Dein Christinchen, wenn Du auf Arbeit bist.“ Sie machte mit ihren Fingern ein Häschen und nickte der Kleinen freundlich zu, die unverwandt der Alten ins Gesicht starrte. „Nur“, fügte sie hinzu, „wo ich meinen alten Kopf zur Ruhe legen kann, weiter braucht’s nicht; Du weißt ja, mein bischen Essen hol’ ich mir schon selber!“

John nickte: „Ja, ich weiß, Sie bettelt.“ –

Und in sich selber sprach er leis und traurig: „Mein Weib that dies in ihrer Kindheit auch!“

Aber die Alte rief: „Was sagst Du, John?“ und stieß mit ihrem Stecken auf den Boden. „Das ist kein Betteln! Das geben mir meine früheren Herrschaften und ihre Freunde, das gehört sich so; ich bin ein alter Dienstbot’, den dürfen sie nicht verhungern lassen!“

John sah sinnend auf das Weib; die Kleine war von seinem Schoß herabgeglitten und hielt [84] der Alten ihre Puppe vor. „Sieh!“ sagte sie, „die ist mein!“ und nickte zur Bestätigung ein paar Mal mit ihrem hübschen Köpfchen.

Küster-Mariken hatte sich an ihrem Stock herniedergleiten lassen und hockte vor dem Kinde auf dem Fußboden. „Ei der Tausend!“ sagte sie, „das ist wohl die Prinzessin Pomphia! Ja, die kenn’ ich, als ich so klein war wie Du, ist ihre Großmutter bei mir gewesen; von der könnt’ ich Dir Geschichten erzählen! Wenn nur Dein Vater das alte Weib nicht aus dem Hause wirft!“

„Nein, Du sollst bleiben!“ rief das Kind, und die Puppe wäre fast zu Fall gekommen, als sie mit ihren Händchen nach den dürren Fingern der Alten langte.

John nickte seinem Kinde zu: „Willst Du sie behalten, Christine, so sag’ ihr, daß sie morgen kommen mag!“

Und so war es abgemacht. „Das liebe Dirnlein!“ murmelte die Alte immer wieder, als sie aus dem Hause und durch die lange Straße ihrer Wohnung zu an ihrem Stecken ging.



[85] So waren nun wieder drei Bewohner in der Kathe, und doch war es darin so still, daß die Buben und Pflastertreter, welche daran vorbei gingen, vergebens einen Zeitvertreib von dort erwarteten. Nur etwas Hübsches, das sie jedoch nicht zum Stillstehn brachte, gab es im Sommer bisweilen dort zu sehn. Das war ein dürftig, aber allzeit sauber gekleidetes Dirnlein, das mit einer Puppe oder einem andern Spielwerk auf der Hausthürschwelle saß, wo die Sonne auf ihrem braunen Scheitel glänzte. Wenn aber von drunten aus der Stadt die Thurmuhr Mittag schlug, dann legte sie hastig ihre Puppe auf die Schwelle und ging mit vorgestrecktem Köpfchen einige Häuser, soweit Alt-Mariken es ihr erlaubt hatte, in die Stadt hinab; auch wohl, bedächtig und immer das Köpfchen rückwärts drehend, ging sie wiederum nach ihrer Hausthür und nahm wie gedankenlos die Puppe in die Hand; bald aber trieb es sie aufs neue auf, und endlich, mit jenem Aufschrei vollsten Kinderglückes, flog sie dem von der Arbeit zu kurzer Ruhe heimkehrenden Vater in die ausgebreiteten Arme. Dann trug er seinen kleinen Trost [86] die paar Häuser weit nach seiner Wohnung, wo schon die Alte mit ihren munteren Augen an der Thüre harrte. „Nur herein, John! Nur herein!“ rief sie, „die Kartoffeln hab’ ich Euch gekocht; und das Töpfchen Milch vom Nachbar Bäcker steht auch schon auf dem Tisch!“ Dann band sie eine reine Schürze vor und ging mit dem irdenen Henkeltopf auf ihren eigenen Suppengang in die Stadt hinunter.

John aber und sein Christinchen setzten sich an den Tisch, nachdem er zuvor aus der Schatullen-Schublade ein derbes Schwarzbrot hervorgeholt hatte. Er schnitt zwei Stücke ab und brockte sie in die Milch, die in zwei Kümmchen vertheilt wurde; zuletzt aßen sie mit etwas Salz die dampfenden Kartoffeln. Nachbar Tischlers bunte Katze kam herein und strich dem Kinde um die Beinchen; der warf Christinchen auch noch eine in Salz gestippte Kartoffel zu. Aber die Katze beroch sie nur, leckte einmal daran und begann sie dann mit ihren Pfötchen in der Kammer umher zu rollen. Da lachten Vater und Tochter. „Die mag keine Kartoffeln“, sagte John; „das ist ein Leckerzahn! Schmeckt es denn Dir, Christinchen?“

[87] Und als die Kleine ihm schmausend zunickte, holte er noch einmal etwas aus der Schublade. „Nun merk’ auf!“ rief er, „nun kommt der Nachtisch.“ Es war aber nur eine Messerspitze mit Butter, was er jetzt aus ihren Teller strich. „So“, sagte er, „damit iß nun Deine letzte Kartoffel!“ Und des Kindes Augen leuchteten vor Vergnügen.

Wenn die kleine Hausthürglocke schellte und Mariken mit ihrem Topfe wieder heim kam, dann griff John nach der Mütze und ging wieder auf seine Arbeit.

Als Christinchen dann eines Tags in die Küche lief, sah sie die Alte am Herde sitzen und mit besondrem Behagen aus ihrem Topfe löffeln; ein leckerer Duft schwamm ordentlich in der Küche, und nach dem mageren Mittag mochte ein begehrlicher Ausdruck deutlich genug auf dem Kinderantlitz stehen.

Die Alte legte den Löffel aus der Hand. „Komm, Kind, und halte mit!“ rief sie, „das wird Dir gut thun!“

Aber Christine trat zurück und schüttelte das Köpfchen: „Ich hab’ mit Vater schon gegessen.“

[88] „Doch nicht von Frau Senator ihrer Sonntagssuppe!“

„Ich darf nicht“, sagte das Kind leise.

„Was?“ rief die Alte. „Wer hat Dir das verboten?“

„Mein Vater“, kam es ebenso von den Lippen des Kindes.

Wie Zornröthe flog es in das Gesicht der Alten. „So, so!“ sagte sie und stemmte die Faust mit dem Löffel auf ihr Knie. „Ja, ja, ich glaub’s: Du sollst nicht mit mir von meinen Bettelsuppen essen!“ Aber sie drängte die Worte zurück, die noch über ihre Zunge wollten; das Kind durfte das nicht hören. „Komm“, sagte sie und stellte ihren Topf bei Seite, „ich bin satt; wir wollen in den Garten, da find’ ich Dir noch ein paar Stachelbeeren. Du bist ein braves Kind! Sei Deinem Vater allzeit so gehorsam; da wird’s Dir wohlgehn!“

Und sie wanderten mit einander in den Garten, und so dürftig auch die Ernte ausfiel, die Alte erzählte so alles vergessen machende Geschichten von Prinzessin Pomphia’s Großmutter, daß der [89] Leckerappetit der Kleinen, sie wußte nicht wie, verging.

– – Das war in der Zeit, die sich so unauslöschlich dem Kinderherzen einprägte, daß dagegen alles, was vorher war, in Dämmerung versank, von der die Frau, die einstmals dieses Kind gewesen war, mir heute noch gesagt hatte, daß es in ihrer Kindheit die Rosenzeit gewesen sei.




John hatte dem Nachbar Tischler Wort gehalten: der Sarg der jungen Frau war bis auf den letzten Dreier von ihm bezahlt worden; er hatte sein Weib doch selbst begraben.

Das anmuthige Kind, das so jählings mutterlos geworden, mit dem jetzt wohl Nachmittags die Alte durch die Straßen prunkte, hatte das Mitleid der Stadt erweckt; und war auch diese Theilnahme nicht von langer Dauer, es hatte dem Vater doch zu Arbeiten verholfen, die ihm sonst nicht gekommen wären, und da es meist Verdingsarbeiten waren, so half seine geschickte Kraft ihm jetzt zu gutem Verdienst. Und eines Sonnabends [90] – das Kind mochte jetzt schon reichlich seine fünf Jahre alt sein – da John am Feierabend einen tüchtigen Wochenlohn vor sich auf den Tisch zählte und dann einen Theil davon zum Miethzins abschied, stand auch Alt-Mariken dabei, und auf die vielen Schillinge niederschauend, sprach sie: „Gieb mir auch etwas davon!“ Als er verwundert aufsah, fügte sie schmunzelnd bei: „Du glaubst, John, ich will nun auch bei Dir betteln!“

„Nein, Mariken; aber was will Sie?“

„Nur acht Schillinge, um eine Tafel und eine Fibel dafür zu kaufen!“

„Will Sie noch schreiben und lesen lernen?“

„Nein, John, das hab’ ich, Gott und meinem seligen Vater Dank, nicht nöthig! Aber mit Christinchen ist es an der Zeit. Und das soll sie schon von dem alten Weibe lernen; ich war einst meines Vaters beste Schülerin.“

John reichte ihr, was sie verlangte. „Sie hat wohl Recht, Mariken,“ sagte er.

– – Und so lernte Christine diese schwierigen Dinge leichter und um ein paar Jahre früher, als es armen Kindern sonst zu Theil wird; und jetzt [91] waren es andre Menschen, als früher, nachdenkliche Leute, pensionirte Schullehrer, auch wohl alte Großmütter, die manchmal vor der kleinen Kathe ihren Schritt hemmten und mit einem Ausdruck von zärtlichem Beifall auf das eifrige Kind dort auf der Hausthürschwelle sahen, das, ohne aufzublicken, unachtend der braunen Löckchen, die von der Stirn ihm in die Augen hingen, den Kopf über eine Fibel neigte und alles um sich her vergessend, den kleinen Zeigefinger von einem Wort zum andern rückte, sobald das Mündlein die schwarzen Druckzeichen in den hellen Sprachlaut umgesetzt hatten.

Wenn aber am Feierabend der Vater da war, wenn sie mit aller Wichtigkeit ihm erst gezeigt hatte, wie weit sie heute auf der Tafel oder im Fibelbuch gekommen sei, und wenn sie dann miteinander ihr kleines Mahl verzehrt hatten, so ging er wohl noch einmal mit ihr hinaus unter den Sternenhimmel, auf die Straßen, oder war es dort zu laut noch, in das Gärtchen und weiter in die Wege, die in das Feld hinausliefen. Dann hob er oft sein Kind auf beide Arme, und was er Tags erfahren hatte, [92] oder was nur an Gedanken bei der Arbeit ihm gekommen war, was sie verstand oder nicht verstand, das flüsterte er in die kleinen Ohren; er hatte keinen andern Vertrauten, und ein ewig Schweigen soll kein Mensch ertragen können.

Wohl bog das Kind bisweilen das Köpfchen zu dem seinen auf und lächelte ihm nickend zu; manchmal aber erschrak es und bat: „Nicht so! O, sag’ das nicht, mein Vater!“ Meist hielt es seine Händchen nur sanft um des Vaters Hals gestrickt. Er wußte nicht, war ihm das Kind ein neues Glück, war sie ihm nur ein Trost für ein verlorenes; denn immer wieder nach dem todten Weibe in Reu und Sehnsucht wollte ihm das Herz zerbrechen; noch im Traum bethörte ihn der Reiz des längst vergangenen Leibes, daß er, vom Schlafe auffahrend, ihren Namen durch die dunkle Kammer schrie, bis er endlich faßte, was unrettbar der Vergangenheit gehöre. Manchmal war auch das Kind erwacht und rief ihn an und weinte und streckte die Arme nach seinem Bette. Wenn er dann am Abend darauf sie in der Einsamkeit der Nacht auf seinen Armen trug, erzählte er ihr, wie Süßes ihm [93] im Traum geschehen, wie schrecklich sein Erwachen gewesen sei.

Dann frug das Kind wohl zitternd: „War denn Mutter bei Dir in der Nacht?“

„Nein, Christine; es war ja nur ein Traum.“

Und das Kind frug weiter: „War denn Mutter so schön?“

Dann drückte er sie heftig an sich: „Für mich das Schönste auf der Erde! Weißt Du das nicht mehr? Du warst schon drei Jahre alt, als sie starb!“ Als er das letzte Wort gesprochen hatte, stockte ihm die Rede plötzlich; ein Frösteln rann durch seine Glieder. Konnte er so einfach von ihrem Sterben sprechen? Er wollte sein liebes Kind doch nicht betrügen. – Die Kleine aber, die eine Weile geschwiegen hatte, sagte jetzt traurig: „Mein Vater, ich weiß gar nicht mehr, wie Mutter aussah!“

„Wir hatten nimmer Geld zu einem Bilde; wir dachten noch nicht an den Tod!“ antwortete John, und seine Stimme bebte; „aber er ist immer bei uns; streck nur den Finger aus, so kommt er schon!“

[94] Die Kleine drückte angstvoll das Köpfchen an seine Brust. „Nein, nein“, sagte er, „so ist’s doch nicht! Du kannst schon Deine beiden ganzen Händchen ausstrecken! Der liebe Gott ist doch über ihm; der hat auch versprochen, daß wir die Todten alle wiedersehen sollen; so lange mußt Du warten.“

„Ja, Vater“, sagte das Kind, und der kleine Mund drückte sich auf den seinen, „aber Du mußt bei mir bleiben.“

„Wie Gott will.“

– – War bei ihrer Nachhausekunft Alt-Mariken noch wach, oder hatte die Hausthürschelle sie wieder aufgeschreckt, dann schalt sie John, die Nacht sei nicht für Kinder, er trage sie noch in den Tod.

Er aber sagte dann wohl halb für sich selber:

„Besser früher Tod,
Als spät die Noth.“




Da kam jener furchtbare Winter in den vierziger Jahren, wo die Vögel todt aus der Luft fielen und die Rehe erfroren im Walde zwischen [95] den von Schnee gebeugten Bäumen lagen, wo die armen Leute, um mit ihrem leeren Magen nicht gleichfalls zu erfrieren, in ihre kargen Betten krochen, die in ungeheizten Kammern standen; denn auch die Arbeit war mit eingefroren.

John hatte sein Kind auf dem Schoß; er sann wohl darüber nach, warum in solcher Zeit das Mitleid nicht den Armen Arbeit schaffe; er wußte nicht, daß es an ihm vorbeigegangen war. Die lange nicht gestutzten Haare hingen über seine eingefallenen Wangen; die Arme hielt er um sein Kind geschlungen. Der Mittag war vorüber, wie die zwei leeren irdenen Teller auswiesen, die mit Kartoffelschale bedeckt neben einem Salzfaß auf dem Tische standen. Ein kaltes graues Zwielicht war in der Kammer; denn das Tageslicht konnte durch die dick mit Eisblumen überzogenen Scheiben nur kaum hineindringen. „Schlaf ein wenig, Christine!“ sagte John. „Schlaf ist gut; es giebt nichts Besseres; es wird auch wieder Sommer werden!“

„Ja“, hauchte das Kind.

„Wart’ nur!“ und er nahm ein Wollentuch, das Hanna einst getragen hatte, und bedeckte sie [96] damit. „Das ist Mutters Tuch“, sagte er, „Deine kleinen Füße sind so kalt.“

Sie ließ sich das gefallen und schmiegte sich an den Vater, der vergebens hoffte, daß der Schlaf ihr kommen werde. Er hatte die letzten drei Torf so vorsichtig in den kleinen Ofen geheizt, aber es war doch zu kalt geblieben. Da schellte die Hausthürglocke, und Alt-Mariken trat nach einer Weile in die Kammer. Sie deckte ihre kleinen Augen mit der Hand: denn das graue Zwielicht da drinnen hatte sie geblendet; dann nickte sie den Beiden zu. „Das glaub’ ich“, sagte sie, „Ihr könnt Euch an einander wärmen! So gut hat’s unsereiner nicht; denn sieh, John, das Kinderkriegen hab’ ich nicht verstanden. Nur einmal war’s ein todtes, aber das zählt ja nicht.“

John blickte nicht auf. „Da braucht Sie heute auch nur für sich allein zu frieren“, sagte er und nahm die kalten Füßchen seines Kindes in seine großen Hände.

„Nun, nun“, erwiderte die Alte; „ich weiß mir schon zu helfen; sorg’ nicht um mich, John! Die alte Senatorn hört gar zu gern die Geschichten [97] von anno damals, vom Kosakenwinter; und da kann ich aushelfen, John! Die haben mir heut drei Tassen heißen Kaffee eingebracht; da kann man’s dann schon wieder aushalten, wo nur der Winter einheizt!“ Sie lachte: „Ihr beiden soltet einmal tanzen! Das hat mir früher oft geholfen; die Tanzbein’ sind mir nur abhanden kommen.“

Da hob das Kind sein Köpfchen aus den Umhüllungen und sagte: „Vater, morgen ist doch Weihnachten; darf es hier dann nicht ein wenig wärmer sein?“

John sah nur finster auf sie hin; die Alte aber huckte sich neben ihm und der Kleinen zu Boden: „Kind, Gottes Engel.“ rief sie und streichelte mit ihrer warmen Hand Stirn und Wangen der Kleinen; dabei griff sie mit der andern in ihre Tasche und fühlte nach den Schillingen, von denen sie nicht geredet, die sie aber neben dem Kaffee von der Frau Senatoren als Festgeschenk erhalten hatten „Ja, ja, Christinchen, sorg nur nicht! Unser Herr Christus hat dazumal auch warm in seinem Kripplein gelegen!“ John schwieg noch immer; das Wort seines Kindes war ihm wie ein Schwert [98] durchs Herz gegangen. Aber vor seinem innern Auge stand jetzt plötzlich jener einsame Brunnen draußen auf dem Felde; er sah den Bretterzaun im Froste flimmern. Sein alter Arbeitgeber, von dem er ihn einst selbst erbeten hatte, war jahrelang todt; auch sie, um deren Willen es geschah – wen kümmerte das von damals noch? Hatten die Bretter einst sein Weib geschützt, sie konnten nun sein Kind erwärmen! – Das Blut stieg ihm zu Häupten; sein Herz hämmerte heftig.

Das hörte das Kind, dessen Kopf daran lag. „Vater“, sagte sie, „was klopft so in Dir?“

„Das Gewissen!“

Er war zusammen gefahren. Niemand hatte das gesagt, und war ihm doch, als habe er es gehört; deutlich, dicht vor seinem Ohr.

„Mich friert!“ sagte die Kleine wieder.

Da stieg aufs Neu der Brunnen vor ihm auf. „Wärme Dich ein Stündchen in meinem Bette!“ sagte er hastig; „dort wirst Du schlafen; ich weck’ Dich wieder.“

„Ja, ja, Christinchen“, rief die Alte, „ich setz’ mich zu Dir; schlaf nur. Kind; die Welt ist gar [99] zu kalt!“ John aber stürzte aus der Kammer dem niedrigen Verschlage zu, der auf dem Hofe war; hier in der Dunkelheit, nach zugeriegelter Thür, schärfte er seine Handsäge und schliff sein Handbeil auf dem dort stehenden Schleifstein.

– – In der Nacht, die diesem Tage folgte, fiel das Quecksilber in den Thermometern noch um mehrere Grade tiefer; die schneebedeckten Felder, auf welche die zitternden Sterne herabblinkten, schienen wie eine Oede, die nie ein Menschenfuß betreten. Dennoch vernahmen die Kranken oder in Sorgen Wachenden, welche in der Norderstraße ihre Schlafkammern nach den Gärten hatten, aus der Ferne die Schläge eines Beiles, die in der grenzenlosen Stille nach der Stadt hinüber schollen. Vielleicht mochte auch ihrer einer sich erheben und vom Bett aus, wie wohl vergebens, durch die flimmernden Fensterscheiben hinauszublicken suchen; aber wen kümmerte es weiter, wer draußen noch so geschäftig wach war?

Als aber Alt-Mariken am Morgen spät erwachte, da sah sie von ihrem Bett aus, daß in dem Beilegerofen schon ein helles Feuer prasselte [100] und ihre Schillinge nicht mehr nöthig waren. In der Kammer stand John neben seinem Töchterlein und sah schweigend zu, wie sie behaglich sich die Kleider überzog und unterweilen mit ihren Händchen an den Ofen klatschte. „O“, rief sie fröhlich und zog sie rasch zurück, „er hat mich ordentlich gebrannt!“

Und allmählich schmolz der Schnee; die Sonne kam immer länger auf Besuch; die Schneeglöckchen hatten ausgeblüht und die Veilchen zeigten dicke Knospen; Vögel und allerlei Wandergäste kamen; darunter auch, die nicht willkommen waren.

John hatte eine Garten-Arbeit unten in der Stadt und bog eines Abends, seinen Spaten auf dem Nacken, aus einer Nebengasse in die breite Straße ein, um durch diese und deren Verlängerung nach seiner Wohnung hinaufzugehen. Alle seine Gedanken waren bei seinem Kinde; sie kam ihm ja immer noch entgegen, wenn auch nicht so ungestüm wie früher; denn auf den Herbst hatte sie schon ihr siebentes Jahr. Da schlug von rückwärts der Schall eines Fußtrittes an sein Ohr, als ob er ihn einzuholen trachte. Er stutzte. „Wer ging [101] doch so?“ – Wie eine unheimliche Erinnerung überkam es ihn; aber er konnte sich nicht entsinnen; ihm war nur, als sei ihm Unheil aus den Fersen. Er sah nicht um; aber er ging jetzt rascher, denn es war ganz hell noch auf den Gassen. Doch auch das hinter ihm ging rascher; er brütete noch: „Wer kann das sein?“, da schob ein magrer Arm sich in den seinen und ein bleiches bartloses Gesicht mit kurzgeschorenem Schädel sah ihn aus kleinen scharfen Augen an.

John erschrak bis in die Fußspitzen. „Wenzel!“ stieß er hervor. „Wo kommst Du her?“

„Wo Du auch einmal sechs Jahr gewesen bist, John! Ich hatte es noch einmal versucht.“

„Laß mich!“ sagte John; „ich darf nicht mit Dir gesehen werden. Das Leben ist schwer genug.“ Er ging noch rascher; aber der andre blieb ihm zur Seite.

„Nur die Straße hier hinauf“, sagte er. „Du trägst das Zeichen der Ehrlichkeit da auf den Schultern; das thät mir gut zu meiner Reputation!“

John stand still und trat von ihm zurück: „Du machst linksum, oder ich stoße Dich hier zu Boden!“

[102] Der schwache Züchtling mochte den Grimm des Mannes fürchten; er zog grinsend seine alte Mütze: „Auf Wiedersehn, Herr John! Du bist heut just nicht höflich gegen einen alten Kameraden!“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ging nach links unter den Rathhaus-Schwibbögen zur Stadt hinaus. In furchtbarer Bewegung setzte John seinen Weg fort; ihm war, als wäre Alles in ihm eingestürzt. Einige Häuser vor dem seinen kam ihm das Kind entgegen und hing sich an seinen Arm. „Du sprichst ja gar nicht, Vater? Fehlt Dir was?“ sagte sie nach einigen Schritten.

Er schüttelte den Kopf: „Ja, Kind; wenn nur, was einmal da gewesen, nicht immer wieder zu uns kommen wollte!“

Die Kleine sah zärtlich, voll unverstandenen Mitleids zu ihm auf. „Kann denn der liebe Gott nicht helfen?“ sprach sie zaghaft.

„Ich weiß nicht, Stine; aber wir wollen zu ihm beten!“

– – Am folgenden Tage hatte John den Gefürchteten nicht gesehen; er war auch nicht durch die Stadt, er war hinter derselben an den Gärten [103] entlang auf seine Arbeit und wiederum nach Haus gegangen. Am Abend darauf sah er ihn hier auf sich zukommen; das bleiche Züchtlingsgesicht, um das jetzt ein Stoppelbart zu wachsen begann, war nicht zu verkennen.

„Ei, Freund John“, rief Wenzel ihm entgegen, „ich glaub’, Du suchst mir auszuweichen; bist Du denn noch so mürrisch?“

John blieb stehen. „Dein Gesicht macht mich nicht fröhlicher“, sagte er.

„Das denn vielleicht?“ entgegnete Wenzel und zog ein paar Mark Geldes aus der Tasche. „Ich wollt’ mich auf eine Woche bei Dir einmiethen, John! Es ist nicht leicht für mich, Quartier zu kriegen!“

„Mieth Dich beim Teufel ein!“ sagte John. Als er aufblickte, kam aus einem Seitenwege ein Gensdarm auf sie zu. John wies auf den Polizeisoldaten; aber Wenzel sagte: „Den fürcht’ ich nicht; meine Papiere sind in Ordnung.“

Noch bevor dieser sie erreicht hatte, zog er sein Taschenbuch hervor und übergab es ihm, der mit amtlicher Würde den Inhalt durchstudirte. [104] Schon streckte Wenzel seine Hand aus, um seinen Schatz sich wieder auszubitten; aber der Geusdarm steckte die Papiere ruhig in seine eigne Tasche. „Er hat sich auf der Polizei noch nicht gemeldet“, sagte er kurz, „Er geht mit mir!“ und einen scharfen Blick auf John werfend, ließ er den Züchtling vorangehen und folgte, die Hand am Säbelgriff.

Der Bürgermeister befand sich auf dem Rathhause in seinem Amtszimmer, als der Gensdarm eintrat und den entlassenen Züchtling Wenzel meldete.

Er lächelte. „Ein alter Bekannter!“

„Ich traf ihn hinten am Kuhsteig; der John Glückstadt stand bei ihm“; berichtete der Gensdarm.

Der Beamte sann einen Augenblick: „Ja, ja, – John Glückstadt, das läßt sich denken.“

„Freilich, Herr Bürgermeister; das Zusammentreffen schien mir sehr verdächtig, hinter der Stadt und um die Vesperzeit, wo Niemand dort zu kommen pflegt.“

„Wie meinen Sie das, Lorenzen?“ frug der Bürgermeister. „Dieser John Hansen ist jetzt ein reputirlicher Mensch, der sich und seine Kleine ehrlich durchzubringen sucht.“

[105] „Sehr wohl; Herr Bürgermeister; aber sie waren vordem zusammen im Zuchthaus; es dürfte nicht ohne Bedeutung sein, daß sie auch hier gleich wiederum zusammenstehen.“

Aber der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Er hatte John im Winter ein kleines Darlehen gegeben und es in diesen Frühlingstagen zurückerhalten. „Nein, Lorenzen“, sprach er, „stören Sie mir den Mann nicht; den kenn’ ich besser; auch hat er Arbeit jetzt, die er nicht aufs Spiel setzen wird. Und nun lassen Sie den Wenzel kommen!“

„Befehlen“, sagte der Gensdarm und drehte sich militärisch nach der Thür.

Aber die Zurückweisung seiner so wohl ausgesonnenen Schlüsse auf John Glückstadt hatten heimlich ihn ergrimmt. Drum erzählte er noch am selben Tage Arbeitern und kleinen Handwerkern, mit denen er zusammentraf, und mit noch stärkeren Accenten die verdächtige Geschichte; die brachten es an die Dienstboten und diese an die Herrschaften, und so war bald die ganze Stadt voll von den gefährlichen Plänen, welche Wenzel und John Glückstadt in erneuerter Kameradschaft mit einander [106] geschmiedet hätten; und obwohl Wenzel schon am folgenden Tage wieder entlassen war und dann von Behörde zu Behörde gewiesen und hier niemals wiedergesehen wurde, so hatte er doch für John des Teufels Spur zurückgelassen. Dieser hatte gehofft, die Arbeit in dem großen Garten drunten in der Stadt den ganzen Sommer, ja gar für künftige Jahre behalten zu können, denn der Besitzer hatte ihm wiederholt die Sauberkeit und Raschheit seiner Arbeit gelobt; jetzt aber kam die Botschaft von demselben, John brauche nicht wieder zu kommen. Bei Anfragen in andern Häusern erhielt er trockenen Abschlag; mit Mühe bekam er endlich in einem nahbelegenen Dorfe eine schlecht bezahlte Feldarbeit; aber auch die ging bald zu Ende. Sein Muth sank, seines Kindes Antlitz drückte ihn noch tiefer, das Elend war schon halb in seiner Kathe; nur der Kleinen wußte die kluge Alte unter immer neuen Vorwänden ein Theilchen von ihren Suppengängen zukommen zu lassen.

So war das Ende des August herangekommen und ein Abend, wo für den andern Tag kein Mundvoll mehr im Hause war. Er saß am Bette seines [107] Kindes, das schon mit dem Schlafe kämpfte, und sah starr auf das liebliche Gesichtlein; aber so still er saß, er wußte vor Angst nicht, wo er mit seinen Gedanken bleiben sollte. Da, als das Kind die Augen zu ihm aufschlug, brach es aus ihm hervor: „Christine!“ aber er stockte einen Augenblick; „Christine“, sagte er nochmals, „könntest Du wohl betteln?“

„Betteln!“ Das Kind erschrak über das Wort. „Betteln, Vater?“ wiederholte sie; „wie meinst Du?“ Die Kinderaugen waren plötzlich erregt auf ihn gerichtet.

„Ich meine“, sagte er langsam aber deutlich, „zu fremden Leuten gehen und sie um einen Sechsling oder noch weniger um einen Dreiling bitten, oder um ein Stück Brot.“

Dem Kinde stürzten die Thränen aus den Augen. „Vater, warum fragst Du so? Du sagtest immer, betteln sei eine Schande!“

„Es kann auch kommen, daß Schande noch nicht das Schlimmste ist. – Nein, nein!“ rief er dann laut und riß sie heftig in seine Arme. „Weine nicht, o weine nicht so, mein Kind! Du sollst nicht [108] betteln; nimmer sollst Du das! Wir essen nur ein bißchen weniger!“

„Noch weniger, Vater?“ frug die Kleine zögernd.

Er antwortete nicht; aber ihr war, als fühlte sie ihn schluchzen, als er seinen Kopf gegen ihren kleinen Körper barg. Da wischte sie sich die Thränen vom Gesicht, und als sie eine Weile wie grübelnd dagelegen, brachte sie ihren kleinen Mund zu seinem Ohr. „Vater!“ flüsterte sie leise.

„Ja, mein Kind?“ und er richtete sich empor.

„Vater, ich glaub’, ich könnte doch wohl betteln!“

„Nein, nein, Christine; denk nicht mehr daran.!“

„Ja, Vater“, und sie schloß ihre Aermchen fest um seinen Hals, „wenn Du krank und hungrig wärest, dann wollte ich es doch!“

„Nun, Kind; Du weißt ja, ich bin kerngesund!“

Sie blickte ihn an; er sah nicht sehr gesund aus; aber er lächelte ja doch. „So, schlaf nun!“ sagte er und löste die Aermchen sanft von seinem Nacken und legte sie in ihr Bett zurück. Und sie [109] that, wie getröstet, ihre Augen zu und war bald entschlafen; nur ihres Vaters Hand behielt sie noch fest in der ihren, bis auch die kleinen Finger sich lösten und das ruhigere Athmen den festen Schlaf bekundete.

Er blieb noch immer sitzen; das erste Viertel des Mondes war heraufgekommen und schimmerte trübe in die Kammer. Der Mann starrte in Verzweiflung auf sein Kind: was sollte er beginnen? Zur Sparkasse? – Aber wer würde für ihn Bürgschaft leisten? Zum Bürgermeister gehen und um ein Darlehn bitten – und das im hohen Sommer? – Im Winter hatte er es gethan; er wußte genau die Zeit: die Bretter des Brunnens waren verbrannt und die Kammer wieder kalt gewesen. Der Bürgermeister hatte es ihm damals auch gegeben; aber die scharfen Augen des alten Herrn hatten ihn so seltsam angesehen. „Damit er nicht wieder in Versuchung komme, John!“ hatte er dabei gesagt; ihm aber hatten plötzlich die Beine unterm Leib gezittert. Ob denn der Bürgermeister von jener Sache wisse oder nur Gedanken habe, frug er sich jetzt; dann fiel’s ihm auf die Brust, er war ein [110] Züchtling, dem wird Alles zugerechnet; weshalb war denn seitdem schon immer wieder keine Arbeit für ihn da gewesen? Wie eine drückende Wolke fühlte er den Verdacht ob seinem Haupte schweben. Das geliehene Geld zwar hatte er zurückgezahlt; aber, nein – nicht noch einmal zum Bürgermeister! – – Nebenan im Garten des Tischlers standen wohl noch ein paar Reihen Kartoffeln, sie schienen ganz vergessen zu sein – aber John biß die Zähne zusammen: er hatte durch ihn sein todtes Weib begraben können. Einen Augenblick entflohen ihm die Gedanken; sie hafteten dort, wo der Ofen stand, wo ein schwacher Mondschimmer auf dem Messingknopfe schimmerte. „Hanna!“ murmelte er, „Du bist schon recht gestorben!“ Wie in unausdenkbarem Elend streckte er die Hände mit ausgespreizten Fingern vor sich hin; aber die Bilder in seinem Kopfe wechselten, und die des Hungers waren doch die stärksten. Da plötzlich streckte sich ein weites Kartoffelfeld vor seinen Augen; es war draußen auf dem Felde neben dem von ihm beraubten Brunnen, der jetzt in einem hohen Aehrenfeld verborgen stand. Die Kartoffeln waren noch [111] immer nicht aufgenommen; andre Feldarbeit war im Wege gewesen. „Nur ein paar Bülte!“ murmelte er, „nur um einmal satt zu werden!“ Etwas von dem Trotz der Ausgestoßenen kam über ihn: „Es kann ja morgen wieder Arbeit kommen – wenn nicht, so muß ich’s mit dem lieben Gott versuchen!“

Er saß noch lange, noch manche Stunde, bis der Mond schon unter war und er Alles schlafend glaubte; da schritt er leise aus der Kammer und aus dem Hause. Die Luft war schwül, nur mitunter fuhr ein Windstoß auf, und fast undurchdringliche Finsterniß lag auf der Erde. Aber John war den Weg schon oft gegangen, und endlich, an dem Kraute, das um seine Beine schlug, fühlte er, er war auf dem Kartoffelacker. Er lief noch weiter hinein, denn ihm war, als müsse er überall gesehen werden; mitunter bückte er sich und wühlte unter den Büschen, mitunter zuckte er erschreckt zurück; aber es war nur das Gezücht, das hier gelegen hatte; ein Tausendfuß, eine Kröte waren über seine Hand geschlüpft. Das Säcklein, das er mitgenommen hatte, war halb gefüllt. Er stand [112] und wog es in der Hand: es war genug; aber …. Er hatte den Sack schon umgekehrt, um Alles wieder auf den Acker auszuschütten, nur unten hielt noch seine eine Hand das Linnen zusammen. Ihm war im Kopfe, als senke eine Wage sich auf und ab; dann sprach er langsam: „Ich kann nicht, lieber Gott! Mein Kind! Es soll ans Kreuz geschlagen werden; laß mich es retten; ich bin ja nur ein Mensch!“

Er stand und horchte, als solle eine Stimme von oben aus der Nacht zu ihm herunterkommen; dann krampfte seine Hand sich um den Sack; er lief nur weiter, immer weiter; kaum fühlte er, daß jetzt hohe Aehren ihm mit ihren rauhen Köpfen ins Gesicht strichen; kein Stern zeigte ihm den Weg, er ging her und hin und kam doch nicht zum Ausgang. Ihn überfiel’s, wie er vor einem Jahrzehnt als Aufsichtsmann so sicher hier geschritten war; es konnte nicht weit sein, wo einst sein Weib, ein sechzehnjährig Dirnlein ihm in die Arme stürzte! In süßem Schauder ging er vorwärts; gleichmäßig rauschten bei seinem Schritt die Aehren, ein Vogel, ein Rebhuhn oder eine [113] Ammer, schwirrte vor ihm auf; er hörte es kaum, er schritt nur weiter, als ob er ewig so zu schreiten habe.

Da zuckte fern unten am Horizont ein schwacher Schein; ein Gewitter schien heraufzukommen. Einen Augenblick stand er und besann sich: er hatte die dunkeln Wolken am Abend schon gesehen; er wußte plötzlich, wo Ost und Westen war. Nun wandte er sich und beschleunigte seine Schritte; er wollte rasch nach Haus, zu seinem Kinde. Da war etwas vor seinen Füßen, er kam ins Straucheln, und eh’ er sich besonnen, that er einen neuen Schritt; aber sein Fuß fand keinen Boden – – ein gellender Schrei fuhr durch die Finsterniß; dann war’s, als ob die Erde ihn verschluckte.

Ein paar Vögel schreckten in die Luft, dann war Alles still; kein Menschenschritt war jetzt noch in dem Korn. Eintönig säuselten die Aehren, und kaum hörbar nagten die Millionen Geziefers an den Wurzeln oder Schaften der Pflanzen, bis die immer drückendere Schwüle in einem starken Wetter sich entlud und in den hallenden Donnern und dem niederstürzenden Regen alle andern Geräusche der Erde verschwanden.

[114] In der Kathe am Ende der Norderstraße fuhr um diese Zeit ein armes Kind aus seinem Schlafe auf; ihm träumte, es habe ein Brot gefunden, aber es hatte in einen Stein gebissen. Halb im Traum noch griff es in das große Wandbett nach der Hand seines Vaters, doch es erfaßte nur den Zipfel des Kopfkissens und schlief dann ruhig weiter.

– – John Glückstadt ist niemals wieder nach Haus und nie zu seinem Kinde zurückgekommen; alle Anstalten der Polizei, eine Spur von ihm zu finden, waren vergebens. Sein Verschwinden wurde einige Tage in der kleinen Stadt besprochen: Die einen meinten, er sei entflohen, um nachher mit seinem Kameraden Wenzel zusammenzutreffen und mit ihm übers Meer zu fahren, wo es den Spitzbuben gut zu gehen pflege; das Geld zur Ueberfahrt würden sie unterwegs nach Hamburg sich schon zu schaffen wissen, und das kleine Dings sei ja in guter Hut bei Küster-Mariken; die andern meinten, am Deich da draußen in der Schleusengrube, neben welcher er und Wenzel ihr Schelmstück einst berathen hätten, habe er den Tod gesucht, und die Ebbe habe ihn ins Meer hinausgetrieben.

[115] Diese Meinungen wurden in einer Tischgesellschaft gegen einander abgewogen. „Nun, und Sie, Herr Bürgermeister“, sagte zu diesem die alte Schwägerin des einstigen Cichorienfabrikanten, die er zu Tische geführt hatte, „was meinen Sie dazu?“

Der Bürgermeister, der bisher kein Wort dazu geredet hatte, nahm erst bedächtig eine Prise. „Hm“, sagte er, „was soll ich meinen? – Nachdem dieser John von Rechtes wegen seine Strafe abgebüßt hatte, wurde er, wie gebräuchlich, der lieben Mitwelt zur Hetzjagd überlassen. Und sie hat ihn nun auch zu Tode gehetzt; denn sie ist ohn’ Erbarmen. Was ist davon zu sagen? Wenn ich was meinen soll, so solltet Ihr ihn jetzt in Ruhe lassen, denn er gehört nun einem andern Richter.“

„Wahrhaftig“, sagte die Alte ganz erstaunt, „Sie haben noch immer Ihre sonderbaren Meinungen von diesem John Glückstadt!“

„John Hansen“, berichtigte der Bürgermeister ernsthaft.



[116] – – – Mir kam allmählich das Bewußtsein, daß ich weit von meiner Vaterstadt im Oberförsterhause an dem offenen Fenster stehe; der Mond schien von drüben über dem Walde auf das Haus und aus den Wiesen hörte ich wieder das Schnarren des Wachtelkönigs. Ich zog meine Uhr: es war nach Eins! Das Licht auf dem Tische war tief herabgebrannt. In halbvisionärem Zustande – seit meiner Jugend haftete desgleichen an mir – hatte ich ein Menschenleben an mir vorübergehen sehn, dessen Ende, als es derzeit eintrat, auch mir ein Räthsel geblieben war. Jetzt kannte ich es plötzlich; deutlich sah ich die zusammengekauerte Todtengestalt des Unglücklichen in der unheimlichen Tiefe. Nachdem ich heute den Namen meiner Wirthin erfahren hatte, wußte ich jetzt auch: noch einmal aus der düsteren Gruft hatte seine lebendige Stimme ein lebendig Menschenohr erreicht; aber es war nur das eines vierzehnjährigen Knaben. Am Abend nach dem Verschwinden des Armen, da ich bei einer befreundeten Familie eingetreten war, kam der Sohn mit seinem Schmetterlingsketscher schreckensbleich ins Zimmer. „Es hat gespukt!“ [117] rief er und sah sich um, als ob er auch hier noch nicht ganz sicher sei; „lacht nur nicht; ich hab’ es selbst gehört!“ – Zwischen den Kartoffeln auf dem Acker neben dem Schinderbrunnen war er gewesen, um sich den Todtenkopf zu fangen, der in der Dämmerung dort fliegen sollte; da hatte es unweit von ihm aus dem Kornfeld seinen Namen „Christian!“ gerufen, hohl und heiser, wie er solche Stimme nie gehört; und da er entsetzt davon gelaufen, sei es noch einmal hinter ihm hergekommen, als ob’s ihn habe greifen wollen.

Ich wußte jetzt, nach über dreißig Jahren: es hatte nicht gespukt, und nicht Christian hatte er es rufen hören: den Namen seiner Tochter „Christine“ hatte der Mann da drunten in hoffnungsloser Sehnsucht ausgestoßen.

Und noch eines wußte ich: ein Arbeiter, mein alter Freund aus der Kinderzeit, hatte einige Tage später draußen an dem Brunnen das Korn mähen helfen. „Da hätten wir bald einen Falken fangen können!“ erzählte er mir eines Abends.

„Einen großen?“ frug ich.

„Das mag der Herr glauben! Er war ein [118] Stück in den alten Schinderbrunnen hinabgestoßen – der Himmel weiß, was drunten liegt – aber seine Fluchten waren zu weit in der Spanne, er schlug damit in dem engen Brunnen und kam nicht gleich heraus. Wir hatten nur keine Knüppel, ihn zu schlagen; auch wehte ein übler Dunst uns an; es war, als hätte schon vordem die Kreatur an Aas gesessen!“

Ich hatte damals dieser Rede nicht geachtet; mich schauderte, da mich die Erinnerung jetzt befiel; der feuchte Nachtwind, der mich anwehte, that mir wohl, vor allem, weil er von heut und nicht von damals war; ich wußte, der Brunnen war vor ein paar Jahren zugeschüttet. „Zu Bett!“ sprach ich halblaut zu mir; „und, Seele, geh du auch zu Bett!“

Ich löschte das Licht und ließ das Fenster offen, damit Alles, was lebendig war, zu mir herein könne; und bälder, als ich gedacht hatte, kam der Schlaf; nur mit einem freundlichen Bilde spielte noch der Traum: ich sah die von der Morgensonne nur noch halb erleuchteten Straßen meiner Vaterstadt; ich hörte einen Wagen heranrasseln, [119] und zwischen zwei lieben alten Leuten auf dem offenen Sitze saß die kleine Christine, und sie nickte mir freundlich zu, als sie bei mir vorbei und über dem Zingel zur Stadt hinausfuhren.

Der alten Mariken dachte ich nicht weiter; ich wußte, daß sie vor langen Jahren in St. Jürgens Stift ein ruhiges Sterbekissen gefunden hatte.

– – Als ich spät am andern Morgen in das Haus hinunter kam, erhob sich der Lohbraune von der Matte vor der Thür des Wohnzimmers und begrüßte mich wedelnd als einen Gast des Hauses; als ich aber eintrat, war Niemand drinnen; nur die Magd öffnete eine Seitenthür, guckte herein, als ob sie bestellt sei, meine Ankunft zu berichten, und lief dann rasch von dannen. Ich beschäftigte mich indeß damit, die Bilder an den Wänden zu beschauen, aus denen deutlich zwei Generationen zu erkennen waren: auf der einen Jagd- und Thierstücke von Steffeck und dem alten Riedinger; über dem Sopha dagegen fand ich eine Kreuzesabnahme von Rubens, und je zur Seite die Bildnisse von Luther und Melanchthon. Am Sopha, auf dem lichtlosen Wandstücke am Fenster, hing, wie im [120] Schatten der Vergangenheit, eine halberloschene Photographie; aber ein Kranz von Immortellen, wie Johns Tochter sie gestern auf unserem Waldgang gepflückt hatte, wohl gar derselbe, umgab den dunklen Rahmen.

Mit Scheu fast trat ich näher: es war das Bildniß eines Soldaten in Uniform, wie dergleichen die jungen Landleute während ihrer Dienstzeit anfertigen lassen und nach Hause schicken. Der Kopf war leidlich ausgeprägt erhalten und zeigte mir das kaum mehr als einmal gesehene aber unvergessne Antlitz des Arbeiters John Glückstadt; nur war in diesen Zügen noch nichts von Kummer oder Schuld; der kleine dunkle Schnurrbart saß unter der kecken Adlernase, und die Augen sahen ernst, doch sicher in die Welt hinaus. Es war John Glückstadt nicht; es war John Hansen, wie er im Herzen seiner Tochter fortlebte, für den sie gestern ihren frischen dauerhaften Kranz gepflückt hatte; mit diesem John hatte der doppelgängerische Schatten noch nichts zu schaffen. Es brannte mich, meiner edlen Wirthin zuzurufen: „Laß das Gespenst in Deinem Haupte fahren; der Spuk und Dein [121] geliebter Vater, sie sind nur eines: er war ein Mensch, er irrte, und er hat gelitten!“

Aber ich hörte die Stimmen meiner Wirthsleute von hinten durch die Gartenthüre ins Haus kommen, und ich wandte mich von dem bekränzten Bilde ihnen entgegen, um ihren Morgengruß und ihre Scherze über meine Langschläferei in Empfang zu nehmen.

– Wir lebten noch einen schönen Frühlingstag zusammen. Als ich aber spät abends mit dem Oberförster und seinem treuen Hunde noch einen Waldgang machte, da schwieg ich nicht länger; ich erzählte ihm Alles, jedes Einzelne, was in der vergangenen Nacht mir in Erinnerung und im eigenen Geiste aufgegangen war.

„Hm“, machte der besonnene Mann und ließ seine Augen treuherzig auf mir ruhen; „das ist aber Poesie; Sie sind am Ende nicht bloß ein Advokat!“

Ich schüttelte den Kopf: „Nennen Sie es immer Poesie; Sie könnten es auch Liebe oder Antheil nennen, die ich rasch an meinen Wirthen genommen hätte.“ Es war zu dunkel, um zu sehen; [122] aber mir war, als ob ein herzlicher Blick von ihm mich streifte. „Ich danke Ihnen, lieber Freund“, sagte er dann; „aber der Vater meiner Frau – ich hatte freilich nur Weniges von ihm gehört, – ist mir nimmer so erschienen.“

„Und wie denn anders?“ frug ich.

Er antwortete nicht mehr; sinnend gingen wir nebeneinander, bis wir das Haus erreicht hatten.

„Ihr seid sehr langsam gegangen“, sagte Frau Christine, als sie uns entgegentrat; „Ihr habt mich schier vergessen!“

– – Als ich am andern Morgen fortging, begleiteten mich beide, bis wo der Waldweg in die Landstraße ausläuft. „Wir schreiben Ihnen einmal!“ sagte der Oberförster. „Ich bin sonst kein Briefsteller; aber gewiß, ich thu’s; wir müssen Sie festzuhalten suchen, damit Sie einmal wieder den Weg zu uns hinaus finden!“

„Ja, kommen Sie wieder!“ rief Frau Christine; „versprechen Sie es; Ihr Abschied würde uns nicht so traurig machen!“

Ich versprach es gern; dann reichten beide mir die Hand, und ich stand und sah sie fortgehen; [123] sie hatte sich fest an ihren Mann geschlossen; er legte sanft den Arm um ihre Hüfte. Dann kam eine Biegung des Weges, und ich sah sie nicht mehr.

„Leb wohl, John Glückstadt’s Tochter!“ rief ich leise; „nur die erste Silbe, nur das Glück ist Dein geblieben; es wird schon treu sein; denn es ist an rechter Stelle!“

– – Schon nach vierzehn Tagen kam der erste Brief des Oberförsters und ließ mich im Aktenlesen eine lange Pause machen. „Ich muß Sie auch noch Ihres Versprechens entbinden“, schrieb er; „gleich am Abend unseres Abschieds habe ich meiner Christine die Geschichte ihres Vaters erzählt, ausführlich, wie ich sie von Ihnen hörte. Sie mögen Recht haben, er wird wohl so gewesen sein, und er war dann doch noch ein anderer Kerl, als wie er bisher weichselig im Herzen seiner Tochter ruhte; auch dürfen Mann und Weib nicht solch’ Geheimniß vor einander haben. Zwar ein leidenschaftlicher Thränensturz war die erste Folge, so daß ich schier erschrak und dachte, es möchte das Temperament des Vaters in meiner sanften Frau erwacht sein. Aber ihr eigenstes Ich erschien [124] bald wieder; und jetzt – mein Freund, das Geißblatt am Waldesrande, das jetzt wieder blüht, so lieblich, dünkt mich, hat es fast niemals noch geduftet; und das Bild des John Glückstadt trägt nun einen vollen Rosenkranz; seine Tochter hat jetzt mehr an ihm; nicht nur den Vater, sondern einen ganzen Menschen. – Den Dank und Gruß, den Frau Christine mir für Sie aufgetragen, versteh’ ich in der frauenhaften Weise nicht zu Papier zu bringen; ich kann Sie nur bitten, sich das Herzlichste zu denken.“

So schrieb der Oberförster damals; aber, wie es so geht, obgleich Briefe ein paar Mal in jedem Jahre zwischen uns hin und her gegangen sind, ich bin nicht wieder dort gewesen. Aber hier links in der Ecke meiner Schreibstube, auf zwei Stühlen steht jetzt mein gepackter Reisekoffer; draußen an den Wallzäunen blüht einmal wieder das Geißblatt, und hier drinnen ist für eine Woche Alles sauber weggeordnet; denn gewiß und wahrhaftig – morgen geht es fort zu meinen Freunden, zu John Glückstadt’s Tochter und zu meinem wackern Oberförster. Sein Brief, der die Antwort auf meine Anmeldung [125] brachte, war ein rechter Jubelbrief. „Wir harren Ihrer mit Freuden“, schrieb er; „Sie kommen just zur rechten Zeit; der Junge ist auch da mit seinem Examenszeugniß in der Tasche; seine Mutter ist schier verliebt in ihn und studirt sein Antlitz, um darin immer einen neuen Zug aus dem ihres Vaters aufzufinden. Kommen Sie also; uns fehlt nur noch der Freund!“

– – Gewiß, wenn Gottes Sonnenschein mich morgen weckt, ich komme!