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Ein Colporteur

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Textdaten
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Autor: G. St.
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Titel: Ein Colporteur
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 602–605
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[602]

Ein Colporteur.

Skizze aus einem italienischen Tagebuche.
Von G. St.[1]

Es war in den letzten Tagen des März vorigen Jahres, da ich früh am Morgen in Mailand die Post besteigen wollte, die mich über Lodi nach Bologna führen sollte, als ich, in den großen Hof tretend, worin der Wagen zur Abfahrt bespannt wurde, zwei Knaben wahrnahm, die bei einem Manne in schlichter Kleidung standen. Er war reisefertig, von mehr kleiner als mittler Statur, etwas hager; von den Knaben mochte der eine fünfzehn, der andere dreizehn Jahre alt sein. Der Mann reichte, als ich eben herzukam, dem ältern die Hand; dieser machte eine Wendung mit dem Gesicht nach mir zu; ich sah eine Thräne über die Wange hinabrollen. Offenbar nahm ein Vater von seinen Kindern Abschied. Thränen erregen Mitgefühl, zumal die eines Kindes, wenn man selbst die seinigen daheim verlassen hat. Also trat ich der Gruppe näher und fragte den Vater, was die Knaben während seiner Abwesenheit in Mailand thun würden. Da langte der Mann aus einem gefüllten Koberchen, das er übergehängt an der Seite trug, ein kleines Buch hervor und reichte es mir mit den Worten: „Sie sollen solche Bücher in der Stadt verkaufen, wie ich nach Toscana und an die Grenzen des Kirchenstaats reise, um sie dort zu vertreiben.“ Ich warf einen Blick in das Büchlein; es war ein Neues Testament in italienischer Sprache mit französischer Uebersetzung daneben. „So sind Sie Protestant?“ sagte ich. „Nein,“ erwiderte er, „weder Protestant, noch Katholik, noch Calvinist, sondern Christ, ein biblischer Christ.“

Er verabschiedete sich dann von seinen Kindern und bestieg mit mir denselben Wagen, in dem sich noch ein junger Mann, wie ein Bauernbursch in kurzer Jacke, zu ihm hielt, von gutmüthigem, ehrlichem Gesichtsausdruck. Wir saßen zu sechs oder acht Personen in der Diligenza. Als ich nun einige Zeit mich still den Gedanken über jene Aeußerung und die Reisezwecke des Mannes mir gegenüber überließ, griff derselbe abermals in seinen Kober und reichte mir „zur Kürzung der Zeit und zur Belehrung“, wie er sagte, ein anderes Buch von mäßigem Umfange dar. Es trug den Titel: „La Confessione, saggio dommatico-storica di L. de Sanctis riveduto ed accresciuto dall' autore. Torino 1858“, d. i. „Die Beichte, ein dogmatisch-historischer Versuch von L. de Sanctis, durchgesehen und vermehrt vom Verfasser. Turin 1858.“ Der Verfasser, fügte mein Reisegefährte bei, sei ein gelehrter Geistlicher, der früher in Rom gelebt habe, dort aber seiner freisinnigen religiösen Ansichten halber verfolgt, in Turin ein Asyl gefunden und nun in reger schriftstellerischer Thätigkeit es sich zur Aufgabe gestellt habe, Italien über die Mißbräuche der Kirche, die unerträgliche Gewaltherrschaft [603] seiner Geistlichkeit, die Irrthümer der päpstlichen Lehrstücke aufzuklären und durch Darstellung der wahren, läutern Bibellehre eine Reinigung des christlichen Glaubens anzubahnen.

Die allgemeinen Angaben wurden durch die dargereichte Schrift selbst vervollständigt, an der mit jeder Seite, die ich weiter las, mein Interesse wuchs. Laut der Vorrede zu der neuen Auflage, die ich in der Hand hatte, ist das Büchlein in vielen Auflagen reißend schnell vergriffen worden, und die Nachfragen danach mehren sich noch immer. „Ich habe,“ sagt der Verfasser über sich selbst, „für’s Volk geschrieben, und das Volk hat mich begriffen; jene (die Gegner) haben für die Theologen geschrieben, und unsere Theologen sind meist Leute, denen Vernunft unmöglich beizubringen ist; daher ist der beste Weg, sich nicht um sie zu kümmern. Das Wort Gottes und nicht der Menschen, das ist unsere große und sichere Regel des Glaubens und der Religion.“ – Hiernach folgt ein Vorwort, „An die Italiener“ überschrieben. „Euch, meine Brüder des Vaterlandes ,“ – so beginnt es – „widme ich diese kleine Arbeit. Religion und Vaterland sind die zwei Gedanken meines Lebens; in Italien diese zwei Gedanken zu einigen und in Fleisch und Blut zu verwandeln, ist die Aufgabe, wozu jeder gute Bürger die Hand anlegen muß, der weiß, daß der Mensch weit erhaben ist über das Thier, daß er sowohl eine Seele zu retten hat, wie ein Vaterland zu vertheidigen. Die Gottesleugner, die Libertins und die aus der Religion einen Handel machen, sind immer die Geißel des Vaterlandes gewesen. Jesus Christus, der göttliche Wohlthäter der Menschheit, hat sein Evangelium des Friedens in die Welt gebracht, um die Menschen auf Erden im Voraus die Seligkeit kosten zu lassen, welche er seinen Erwählten im Himmel vorbereitet hat. Aber Unberechtigte bemächtigten sich der göttlichen Urkunde, die Christus dem Volke gelassen, und gaben sie für ihr ausschließliches Besitztum aus“ u. s. w.

Ohnerachtet aller rücksichtslosen und schneidenden Schärfe in der Sache selbst trennt de Sanctis doch die Personen davon und ist jeder Aufreizung gegen diese letzteren zuwider. „Italiener!“ ruft er aus, „laßt uns nicht einer Nation der Exzesse und der Vergewaltigungen nachahmen. Die Päpste haben uns zu Slaven gemacht; wir, liebreich, wie es sich für Christen ziemt, wollen ihren usurpierten Thron in Staub verwandeln, aber mit christlicher Milde lassen wir in Frieden ihre Personen; wir werden hinlänglich gerächt sein, wenn wir sie erröten und sich verkriechen sehen.“

Um die Wärme, ja Gluth zu begreifen, welche die ganze Schrift durchweht, muß man die Lebensgeschichte des Mannes kennen, der sie verfaßt hat. Er beschreibt sie selbst noch in dem Anruf an die Italiener; er erzählt, auch er sei ein Glied des Clerus gewesen, gegen welchen er jetzt schreibe, und der das Evangelium verdrehenden Kirche; aber noch habe nicht der erste Milchhaarflaum am Kinn gesproßt, da er, ein Jüngling von lebendiger Einbildungskraft, das geistliche Habit in gutem Glauben genommen habe, dadurch erfolgreicher dem Evangelium, der Humanität, dem Vaterlande dienen zu können. Bald genug sei er jedoch aus dem Irrtume erwacht. Während die asiatische Cholera in Italien wütete, versah er die ganze Zeit 1835–37 den Dienst in den Spitälern von Genua und Rom, „die einzige glückliche Zeit seines vergangenen Lebens“. Lange schon hatte er das Priestertreiben durchschaut, aber dies offen zu bekennen, wie er es später getan, hatte er den Muth noch nicht; er sah sich in die schreckliche Alternative versetzt, entweder in die Hände der Inquisition zu fallen oder das theuere Vaterland zu verlassen; in keinem von beiden Fällen konnte er seinen Landsleuten nützen. Er schlug einen Ausweg ein, blieb im Vaterlande und beschäftigte sich mit populärem Predigen, um das Volk sittlich zu bessern und es zu befähigen, die evangelische Wahrheit zu vernehmen. Die Galeerensträflinge, die Gefangenen, die Soldaten, die untern Volksclassen waren die Gegenstände seines Apostelamtes, die Unglücklichen und Schlichten schienen ihm der fruchtbarste Boden, um die evangelische Saat auszustreuen.

Obgleich er mit Vorsicht zu Werke ging, vermochte er doch nicht den Luchsaugen der Inquisition zu entgehen. Ohnerachtet er selbst, unfreiwillig vom Papst Gregor XVI. als Qualificator bestellt, Mitglied der obersten Inquisitionsbehörde von Rom war, konnte er doch einem Proceß und einer Verurtheilung als Verbreiter unehrerbietiger Gesinnungen gegen den Papst, den er nicht für den Statthalter Christi halte, und als italienischer Tendenzen verdächtig nicht entgehen. Auf eine anonyme Anklage, ohne ihn zur Vertheidigung zuzulassen, sollte er seines Amtes als Parochus entsetzt und aus den römischen Staaten verwiesen werden. Nicht auf Antrag des Vertheidigers des Beklagten, der ein Priester war, sondern weil sich der Fiscal, ein Laie, einer so schimpflichen Procedur widersetzte, wurde ihm Gehör verschafft; er hatte nicht die Feigheit zu leugnen, aber auch nicht den Muth, mit seiner Ueberzeugung bestimmt hervorzutreten, sondern weil er gegen die Anklage seine Hingebung und Unermüdlichkeit in der Amtsführung geltend machte, wurde das Urtheil dahin abgeändert, daß ihm unter Androhung schwerer Strafen untersagt ward, ferner wie bisher zu reden, und daß er auf zehn Tage in einem Jesuiten-Convent eingesperrt bleibe. Als er dann den neuen Papst Pio IX. an der Spitze einer Revolution und das Volk mit fanatischem Enthusiasmus ihm folgen sah, erkannte de Sanctis deutlich, daß das kein Anfang sei, in Italien das reine Evangelium und die heilige Religion der Väter wiederherzustellen, und so verließ er mit Thränen in den Augen das theuere Vaterland, brachte seiner religiösen Ueberzeugung das Opfer, sein Amt, seine Ehren, seine Titel, seine Freunde, Eltern aufzugeben und in ein freiwilliges Exil zu gehen.

Er begab sich nach Malta; hier hat er ein offenes Bekenntniß für das Evangelium abgegeben, die Gründe, warum er aus der päpstlichen Kirche ausscheide, in einem Briefe an seinen frühern Superior und in vier Briefen an den Cardinal-Vicar des Papstes veröffentlicht, in einem Journal die Lehre des Evangeliums, die Irrthümer der römischen Kirche, die Geschichte ihrer Päpste dargestellt und nachgewiesen, daß Italien nicht glücklich werden könne, ohne die alte Religion seiner Väter, das reine Evangelium, wieder einzuführen. Weil ihm aber solche Veröffentlichungen zu ungenügend und für das Bedürfniß seiner Landsleute zu langsam erschienen, griff er nun, ermuthigt durch einen frommen Verein, einzelne besondere Verirrungen der römischen Kirche an, worunter die Beichte die erste Stelle einnimmt, daher er mit dieser die Reihe seiner kleinen Tractate begann.

So läßt sich ohngefähr der Verfasser in seinem Vorworte vernehmen, aber Alles viel kräftiger, feuriger ausgeführt, so daß es unmittelbar jedem Italiener an das Herz greifen muß. Die Abhandlung selbst ergeht sich in elf Capiteln über alle religiösen, gesellschaftlichen und politischen Nachtheile und über das historische Unrecht des von der päpstlichen Kirche dem Christenthum aufgedrungenen Ohrenbeichtwesens. In einem schwungvollen Schlußwort vertheidigt sich der Verfasser endlich gegen den Vorwurf der Apostasie, gegen den Verdacht der Bestechung oder daß er seine Landsleute zu dem Bekenntniß eines Luther, Calvin, der englischen, deutschen, genfer Kirche bekehren wolle; nur zu der reinen Lehre des Evangeliums, wie die heiligen Apostel es gepredigt haben, sollen sie zurückkehren.

Dies ist in Kurzem der Inhalt des merkwürdigen Buches, welches Niemand aus der Hand legen wird ohne das Gefühl, daß hier ein Mann voll heiligen Eifers, erleuchteten Verstandes und von der glühendsten Liebe zu seinem Vaterlande und für das Wohl, besonders geistige Wohl seines Volkes die Feder geführt hat. Mag Alles, was hier gesagt wird, längst auch von Andern gedacht und geschrieben worden sein: in dieser Form, so eingehend in die Quellen und doch so faßlich und anziehend selbst für den schlichten Verstand, so scharf und schlagend in seinen Beweisführungen, so aus der Lebenpraxis heraus gesprochen, ist es ein in seiner Art einziges Meisterstück, das zudem durch die persönlichen Thaten und Geschicke des Verfassers einen besondern Reiz und Nachdruck erhält. Daß ein solches Buch in Italien geschrieben ward, wo bis dahin dem kirchlichen Despotismus viel minder gefährliche Schriften auf dem Index der verbotenen Bücher standen und jede Regung kritischer Forschung in Schrift, Wort, ja fast Gedanken dem schwersten Bann unterlag, daß es nahe den Grenzen des Kirchenstaates im Postwagen mir dargeboten werden konnte und Tausende von Lesern und Käufern fand: das ist selbst ein Ereignis; und würde für sich allein schon Zeugniß geben von dem gewaltigen Umschwung, seitdem Piemont einer gesetzmäßigen Freiheit die Bahn gebrochen hat. – Ich konnte das Buch nicht wieder zurückgeben; trotz der Gefahr, in welche mich sein Besitz in den päpstlichen Staaten bringen konnte, kaufte ich es.

Während ich mich immer mehr in die Lectüre vertiefte, war das Männchen, welches es mir dargeboten hatte, alsbald in eine lebhafte Unterhaltung mit den anderen Reisenden gerathen. Auch sein jüngerer Begleiter gab bedachtsam, wenngleich etwas schwerfällig [604] in der Rede, gelegentlich sein Wort mit drein. Denn es ist eine wohlthuende Wahrnehmung, die sich mir überall aufdrängt, daß die Menschen ohne Rücksicht auf Standesunterschiede in Italien zuthunlicher zu einander sind und, wie sie ein Zufall zu einander führt, auch bald in heiterer oder ernster Gesprächigkeit zusammen verkehren. Die Unterhaltung, die ich jetzt, selbst schweigend, mit anhörte, war ernster Art. Den Platz in der Ecke des Wagens mir links gegenüber hatte ein Mann eingenommen von großer Gestalt und wohlhäbigem Ansehen, mit einem Ausdruck von Gravität im gutgenährten Gesicht. Er hatte beim Einsteigen ein Bündelchen junge Maulbeer-Setzlinge neben sich gestellt, woraus ich, wie sich später ergab, richtig schloß, er sei ein begüterter Grundbesitzer.

An ihn vorzugsweise richtete mein evangelischer Apostel seine Rede, die mit ruhiger Würde Erwiderung fand. Jener begann damit, wie doch die Geistlichen jetzt so ganz anders dahergingen, als einstmals Jesus und die Apostel; die Bischöfe und Cardinäle führen in prächtigen Carossen, der Papst habe eine glänzende Hofhaltung, reiche Pfründen und Klöster gewährten üppigen Lebensgenuß, wogegen die Apostel, arm und sich nährend von ihrer Hände Arbeit, unter Entbehrungen jeglicher Art die Welt durchzogen hätten, Petrus, als dessen Nachfolger der Papst gelte, ein einfacher Fischer gewesen wäre, ja der Herr selbst nicht gehabt hätte, wohin er sein Haupt legte. Der Grundbesitzer nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf: jetzt seien ganz andere Zeiten, als die der Apostel, und wie Alles fortgeschritten, nicht in der Einfalt des Alterthums verblieben sei, bedürfe auch die Kirche, die nicht zurückbleiben dürfe, einer den Verhältnissen der Gegenwart entsprechenden Repräsentation; die Geistlichen, die ihre festen Gemeinden hätten, könnten nicht von Stadt zu Stadt mehr umherziehen, gleich den Aposteln. Dies letztere gestand der Piemontese – denn das war der Colporteur – zwar zu, dadurch werde aber nicht, entgegnete er, der Luxus, die Hoffahrt, die Ueppigkeit und die ausschließliche Gewalt der Cleriker in Sachen der Religion gerechtfertigt, wobei er sein Neues Testament aus dem Koberchen langte und einige schlagende Stellen in italienischer Uebersetzung vorlas. Dann ging er auf die Vergebung der Sünden über und die Seelenmessen, die man bezahlen müsse nach ganz verschiedenen Taxen, so daß die Erlösung vom Geldbeutel abhängig gemacht würde, die Reichen gegen die Armen im Vortheil wären, während das Evangelium nur Reue des Herzens und bußfertigen Sinn als Bedingungen zur Erlangung des ewigen Heiles bezeichne und die heiligen Apostel eine Rechtfertigung durch den Glauben lehrten.

Als aber der Gegner sich auf die Autorität der Kirchenväter [605] und Concilienschlüsse berief, nahm jener abermals sein Neues Testament hervor, mit einem Griff hatte er die Stelle zur Hand, daß Gott, der Vater, alle Menschen als seine Kinder mit gleicher Liebe umfasse, Matth. 11, 28.: „Kommt zu mir,“ (nicht zum Papste oder einem andern Menschen, schaltete er ein, sondern zu Christus) „die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch Ruhe schaffen;“ Röm. 8, 24–28, und andere Sprüche, indem er immer stark betonte: „das sagt das Evangelium, das ist der Wille des Herrn selbst, so sprechen die heiligen Apostel, so redet der heilige Geist.“ Und so ging es von einem Glaubenssatz zum anderen; es war immer Bild und Gegenbild, Satzung des Papstthums und Lehre der Schrift einander gegenüber gestellt, und was auch immer der Vertheidiger für Einwendungen machen mochte, der evangelische Prediger in Handwerkerkleidung war immer schlagfertig mit seiner Widerlegung bereit; man sah, jegliche Controvers war ihm schon im voraus bekannt, die treffendsten und schlagendsten Bibelstellen hatte er gegenwärtig, und wenn ihm ja einmal eine nicht sogleich beifiel, so supplirte sie sein bedächtiger jüngerer Gefährte. Der Grundbesitzer vertheidigte seinen Standpunkt in ruhigem, nie versagendem Rede- und Gedankenfluß, den ich bewundern mußte, denn auch die Gabe der Wohlredenheit scheint eine Mitgift des schönen Italiens an seine Bewohner zu sein; aber entgegen der Begeisterung, die unter den grauen Locken des kleinen Mannes hervor aus dessen Antlitz und den leuchtenden Augen strahlte, gegen den Strom feuriger, in einzelnen Momenten wahrhaft hinreißender Beredsamkeit, die, aus einem glühenden Herzen kommend, sich aus seinem Munde ergoß, konnte der Vertheidiger nicht aufkommen.

Ich werde nie das Bild dieses italienischen Colporteurs vergessen, wie ihm Lächeln und Wohlwollen um die Lippen spielte, die Siegesgewißheit im Angesicht leuchtete und seine ganze Gestalt gehoben ward, wenn er sein Neues Testament hoch empor dem Widerpart entgegenhielt und immer auf dem Grunde des geoffenbarten Wortes seine Keulenschläge gegen die Ausartungen und Mißbräuche des Papstthums führte. Es waren Scenen der apostolischen Zeit, die ich mit zu durchleben glaubte. Auch im Aeußerlichen konnte der piemontesische Sendbote des Evangeliums mit Paulus, dem Teppichweber, wohl verglichen werden, dem noch dazu sein Timotheus nicht fehlte. Die Macht aber, welche die zugänglich gewordene, in die Landessprache übertragene Bibelübersetzung auf die Gemüther übte, versetzte nicht minder in Luther’s Zeit. – Die übrige Reisegesellschaft nahm für und wider, jeder nach seinem Vermögen, Theil; etliche Stunden blieben Alle in der Diligenza über denselben Gegenstand in geistiger Erregung, bis an der letzten Station vor Lodi der Grundbesitzer den Wagen verließ, zwar ohne sich eines der neuen Bücher anzueignen und ohne für die reformatorischen Ideen gewonnen worden zu sein, aber sichtbar mit der Erkenntniß von der Ueberlegenheit des Gegners und daß er ihn nicht zu widerlegen vermochte. Täusche ich mich nicht, so sind bei den Uebrigen Eindrücke von dieser Unterhaltung zurückgeblieben, die sich nicht, wenigstens nicht bei Allen, gänzlich wieder verwischen werden.

Auf der noch übrigen kurzen Strecke, die wir beisammen waren, erzählte mir der Zeuge des Evangeliums mancherlei Einzelnheiten über die Verbreitung des gereinigten Glaubens, für den schon 15 bis 20 Kirchen im Piemontesischen erbaut oder im Bau begriffen seien; auch der Anfeindungen und Intriguen der Geistlichen gedachte er, ohne daß er sich aber in seiner rührigen Geschäftigkeit dadurch beirren lasse. Voll gutes Muths und Gottvertrauens, kein Miethling, sondern als ein vom Geiste getriebenes Rüstzeug betrieb er sein nicht gefahrloses Geschäft. – Ich konnte mir nicht versagen, in Lodi, wo unsere Wege sich trennten, den wackern Mann und seinen Gefährten durch ein gemeinschaftliches Mahl zu stärken; ein warmer, inniger Händedruck – ich hätte ihm um den Hals fallen mögen – und wir schieden von einander, ob auch Deutscher und Italiener, doch verbunden als Bruder in gleicher Liebe und Hoffnung des ewigen Heils.



  1. Der Verfasser dieses Artikels ist ein ebenso verdienter als hochgeachteter Universitätslehrer, dessen gediegene Denkungsart ihn vor dem Verdachte sichert, als ob er gegen die katholische Kirche einen Angriff beabsichtige. Die angeführten Thatsachen sprechen deutlich genug dafür, daß er sowohl, wie de Sanctis, nur gegen die Auswüchse des italienischen Pfaffenthums ihre Lanzen einlegen. Wir erinnern an die letzten Wort des sterbenden Cavour: „Pater! Pater! Freie Kirche im freien Staat!“
    D. Red.