Ein Besuch der Goethe-Häuser in Weimar
Zugleich ein Mahnruf zur Tilgung einer alten Nationalschuld.
„Es ist ein Licht erloschen,“ waren die Worte, welche mir beständig auf den Lippen schwebten, als ich kürzlich Weimar besuchte, um die Stätten zu sehen, wo einst Goethe wandelte.
„Glücklicher Goethe!“ wird wohl Jeder ausrufen, der in das heimliche und doch so ausgedehnte Paradies des Goethe’schen Gartens am Parke tritt. Da schmiegen sich die Rosen tausendfältig an der weißen Wand bis an das spitze Schindeldach empor; im frischen Grün strecken sich Plan, Wiese, Terrassen, Baumanlagen und Bergesabhang; die schmalen, wohlgesäuberten Wege schlängeln sich durch blumenreiche Beete hin; die Gardinen blicken hinter den kleinen Fenstern hervor, und die niedrige Hausthür mit der einfachen Eisenklinke sieht aus, als müßte sie sich eben öffnen, der Unsterbliche mit dem Siegerblick, dem festen Schritte, dem alles genießenden Lächeln, den von durchwachten Nächten und überwundenen Leidenschaften sein gemeißelten Zügen hervortreten und dich nach seiner Gewohnheit begrüßen.
Aber er kommt nicht, auch sonst Niemand. Einsam ist’s. „Es ist ein Licht erloschen.“
Man wird inne, daß diese Stätte dem Todten geweiht ist: die Wege sind nur für einen Promenirenden eingerichtet; auch die Plätze, welche sich hier im Schatten des Hauses ausweiten, fassen kaum eine traute kleine Gesellschaft von zehn oder zwölf intimen Bekannten. Unwillkürlich fühlt man sich versetzt in Goethe’s glückliche Zeit. Da heißt es aus Christianens Munde:
„Lieber Wolfgang, Herder’s sind da! Komm’ doch ein wenig heraus!“
„Herder’s, heute? Gleich, Christiane! Beschäftige sie einstweilen!“
Auch der Großherzog schreitet dort über die Brücke der Ilm, bei der Borkenhütte unter der künstlichen Burgruine, wo die hohen Pappeln und Fichte sich zu einer breiten Avenue ausdehnen. Es ist ein feierlicher Empfang.
Als ich so dastand, kamen mir Iphigeniens Worte in den Sinn:
„Ach wie beschämt“ gesteh’ ich Dir, daß ich
Dir nur mit stillem Widerwillen diene.“
Die ganze Scenerie ist die der „Iphigenia“ und des „Tasso“. In der That kann man diese beiden Dichtungen erst dann ganz und voll verstehen, wenn man den Ort besucht hat, wo Goethe’s Geist sie mit sich herumtrug, bis er in ein Land ohne Pedanterie und Kleinlichkeit, entwich, um sie zu gestalten, in das Land Alfieri’s, wo selbst die Feder des Dichters zum Meißel wird.
Endlich entdeckte ich ein lebendes Wesen in dieser Todtenstille, wo die Erinnerungen, lautlos weben. Es war ein alter Mann, der dort mit der Hacke den Weg säuberte; den fragte ich, ob einem wohl Jemand die Thüren öffnete.
„Ei, nee Heren Sie. Der Herr Baron hat das streng verboten. Es is Sie och nichts nich im Stande.“
„Sind Sie schon lange hier?“
„Nu, sah’n Sie, ich nich, aber Springer, der Gärtner, der da droben wohnen thut. Und der Großherzog war och egal hier. Es waren Sie zwei sehre gute Menschen, der Karl August und der Goethe. Sie haben viel für’s Volk gethan und verachteten Keinen nich. Geh’n Sie mal ’nauf! Vielleicht, daß er jetzt da is, der Herr Springer.“
Nun, der Herr Gärtner Springer war nicht da, und eine anmuthige junge Frau gab mir abschlägigen Bescheid.
„Ei ja,“ sagte nachher der alte Gartenarbeiter, „es is so, wie ich Sie sagte. Die Grundstücke gehören dem Herrn Baron. Der bewirthschaftet Sie hier die Gärten, ’s kost Geld, viel Geld, Alles im Stande zu halten, und einbringen thun die Häuser och nichts nichs, säh’n Sie. Wo soll’s Alles herkumme?“
„Und darüber geht unserem Volke einer seiner größten Schätze verloren?“ meinte ich.
Der Alte sah mich verdutzt an.
„Der Herr sind wohl gar ein Engländer?“ fragte er; „wenn das is, na, heren Sie, dann kann’s eher möglich sein, daß Sie ’nein kumme. Sie müssen sich mal in’s Stadthaus bemühen. Das sind sehre freundliche Leute, die beiden alten Mädchens bei Geheimraths. Immer, wenn ich mal hinkumme und Salat bringe oder ein Körbchen junges Gemüse, na, dann geben sie mich ein Töppchen Suppe oder ein Schälchen Kaffee, ja, wenn’s übrig is.“
Ich wanderte also durch den Park zur nahen Stadt zurück – und welch eine entzückende Welt liegt zwischen diesen beiden Goethe-Häusern, dem sommerlichen und dem winterlichen! Der Park ist ein Juwel. Die Ilm schlängelt sich hindurch; zahlreiche Quellen springen ringsum theils aus dem Kalkfelsen, theils aus dem Boden hervor, und vom „Stern“ aus gesehen, spiegeln sich die erleuchteten Fenster des großherzoglichen Schlosses Abends in dem Flusse, den hohe Pappeln halb verhüllen. Diese Pappeln und Fichten! Ein wahres Geheimniß von Poesie liegt zwischen ihnen. Da ist eine Avenue von so hohen Bäumen überragt, daß trotz der Breite des Raumes sich die immer regen Wipfel über demselben zu schließen scheinen. Sie mahnen an ihn, an den Dichter, der auch über alle Schranken hinausragt. Und dennoch ist Goethe ein nationaler Dichter, aus deutschem Holz, auf deutschem Boden stehend, wenn auch sein Angesicht von der Sonne fernster Zeiten und Zonen, gleich dem ewigen Alpenriesen, beleuchtet wird. Man muß nur im Auslande lange genug gelebt haben, um zu erfahren, wie sehr wir um diesen einen Mann beneidet werden, wie in ihm das Deutschthum zu Ehren kommt und wie man in ihm einen Geist erblickt, der viel zu praktisch war, um sogleich und schon damals von einer Nation verstanden zu werden, deren Wesen einen fanatischen Haß in Gemüthern wie Hölderlin, Grabbe, Heine erweckte. Ist dieser schonungsvolle, weltmännische Geist Goethe’s erst in Fleisch und Blut des deutschen Volkes übergegangen, dann wird dieses Volk im edelsten Sinne des Wortes die Welt beherrschen, und das ist – so trüb die Aussichten auch zu sein scheinen, – doch nur eine Frage der Zeit, weil diese frühe Blüthe – die Poesie eines Goethe – auf eine spätere in politischer Sinne hinweist.
[625] Das Goethe-Haus in der Stadt ist nun nicht dasjenige des Weltdichters, sondern des Geheimraths, des Ministers, und zwar eines kleinstaatlichen; es unterscheidet sich hierin wesentlich von dem Gartenhause. Hier schrieb der alte Goethe seine oft recht weitspurigen Recensionen und empfing die zahlreichen literarischen oder officiellen Besuche; hier trieb er Geheimniß-Verskünstelei; hier legte er seine naturwissenschaftlichen und Kunstsammlungen an.
Das Haus am Goethe-Platz ist zweistöckig mit einem Dachstockwerk darüber, hat, wenn ich mich recht erinnere, vierzehn Fenster Front und ist gelb getüncht. Die Façade liegt nicht in einer Flucht, sondern an beiden Flügeln in stumpfem Winkel eingezogen. Rechts und links ein breites, hohes Thor für Reisewagen und Kutsche, in der Mitte ein schmaleres Portal mit drei Steinstufen. Innen flache Steintreppen mit breiten Balustraden und weißgetünchte Wände. Ein paar antike Bronzen lehnen in einer Nische. Links steht die Thür auf; sie ist alt und echt, und läßt dich in ein kleinstädtisch möblirtes, weißgetünchtes Gemach schauen, wo die beiden Frauen sitzen, von denen der Alte im Garten sprach.
Dort trage ich mein Anliegen vor. Meine offenbare Verehrung für diese geweihte Stätte gewinnt mir das Herz der größeren, älteren Jungfer; sie sieht mich gutmüthig an. Braune beredte Augen versöhnen uns mit den Runzeln. Sie begegnete mir mit Wohlwollen, zeigte mir, was möglich war, und ging ein halbes Stündchen im Garten mit mir herum. Geheimrath selber hätte nicht besser, natürlicher, frohmüthiger sich benehmen können, als meine Führerin. Lebte sie doch in der Erinnerung an „das erloschene Licht“ ihre langen Jahre dahin. Es ist ein seltsames Leben, achtzig Jahre alt werden und vom „Geheimrath“ erzählen, als läge er während der ganzen Zeit da oben in seinem Stübchen und müßte sofort herunterkommen, uns zu begrüßen.
Viel konnte diese alte Dame nun freilich nicht zeigen. Die Mansarde bewohnen die Barone; die Hälfte des oberen Stocks ist an einen General vermiethet, und die Herrschaften benützen auch den Garten und die Wirthschaftsgelasse und können bei aller gerühmten Sorgfalt doch den unveränderten Zustand aus Goethe’s Zeit nicht auf die Dauer heilig halten. Das anstoßende Hinterhaus mit dem Goethe-Zimmer, dessen mit Holzläden verbarricadirte Fenster auf den Garten hinaussehen, ist unbewohnt. Ich genirte durch meine Anwesenheit dort eine Dame, welche mit dem Kaffeebrett die alten Goethe-Stiegen herunterkam, und all meine Höflichkeit half mir nicht über einen Blick der Entrüstung hinweg, der mir so en passant zufiel. Was hatte Irgendwer im Goethe-Hause noch zu suchen! Somit begnügte ich mich denn mit einer Revision des hochummauerten Gartens, in welchen die Fenster des vis-à-vis von jenseits einer schmalen Straße hineinblickten. Ich stieg eine alte Treppe hinauf, die zu einem Anbau führt. Dort sah ich in einigen dunklen Ecken eine Mineraliensammlung und einige physikalische Instrumente, welche in einer Mauernische sich befanden. Ich erkannte unter Anderem eine einst sehr elegante, jetzt von Staub bedeckte Elektrisirmaschine ursprünglichster Construction, für welche allein jeder verehrende Engländer sofort hundert Pfund Sterling zahlen würde. Sie lag als Gerümpel da. An der Straße steht außerdem ein Gartenhaus, in welchem unter Anderem ein Mammuthszahn, in Sand gelegt, in einer Kiste sich meinem spähenden Blick durch das verstaubte Fenster offenbarte. Ueberall Spuren des Fleißes, des Forschungs- und Sammeleifers einer frühern Zeit, deren Licht nun in diesem Hause nicht mehr leuchtet. „Es ist ein Licht erloschen.“ Nur aus den Augen der Alten traf mich dessen matter Wiederschein.
Auch von ihr hörte ich nun dasselbe Lied: Das Haus in seinem Urzustande zu erhalten, ist eine Aufgabe, welche den beiden Kammerherren von Goethe, den Enkeln des Dichters, sehr viele Kosten verursacht. Vor Jahren einmal hat der Bundestag, wenn ich nicht irre, dem damaligen Vormund der Erben ein hübsches Sümmchen angeboten, aber ein in diesem Falle wohl nicht ganz berechtigter Familienstolz hat die Nachkommen des Dichters verhindert, auf die damaligen Präpositionen einzugehen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß es kein leichtes Ding ist, die Weimarischen Goethe-Häuser und -Sammlungen ein halbes Jahrhundert lang im Urzustande zu erhalten, und eine Vernachlässigung dieser Aufgabe würde sofort die Verwünschungen der gesammten Goethe-Gemeinde aller Zeiten rings um die Erde gegen die unglücklichen Erben wachrufen. Abgesehen aber von der Last, welche diese Besitzthümer mit sich führen, repräsentiren dieselben auch zugleich einen großen Theil des Vermögens der jetzigen von Goethe’s, und es kommt der Goethe-Gemeinde, jedenfalls dem deutschen Volke, zu, sich einmal zu fragen, ob es sich und den kommenden Geschlechtern die Goethe-Stätten erhalten will und welche Pflichten – wenn diese Absicht besteht – gegenüber den bisherigen aufopferungsvollen Hütern derselben zu erfüllen sind.
Unserer Ansicht nach wäre es Sache des Reichs, diese Stätten ein- für allemal unter seine Obhut zu nehmen. Die anzulegenden Capitalien würden sich reichlich verzinsen; die zahlreichen Fremden, welche nach Weimar pilgern, um ihrer Würdigung unseres größten Dichters Genüge zu thun, würden für den Besuch der Goethe-Häuser gern einen Obolus entrichten, der als Beitrag zu den Erhaltungskosten dieser Heiligthümer für Kinder und Enkel angesehen werden muß.
Goethe ist in unsern Augen der vornehmste Repräsentant des deutschen Geistes, weil er das deutsche Gemüth in Einklang mit den rauhen Wirklichkeiten des deutschen Daseins gebracht, weil er in einer Zeit tiefster nationaler Erniedrigung mit den Waffen des Genius der Welt Achtung für unsern Stamm abgezwungen. Er war ein Prophet und Kämpfer, so lange ihm die Jugendkraft Stand hielt, und im Alter ein liebevoller Lehrer und Berather, der selbst Mißlichem und Lästigem gegenüber Geduld und Nachsicht übte. Sein Wohlwollen nahm zu, je mehr er verketzert und angefeindet wurde, und nichts Gemeines hat über ihn Gewalt geübt, wenn er auch in mehr als einem Sinne Mensch und allen Anfechtungen einer zöpfigen Zeit ausgesetzt war.
Er war ein Mann, der lebenslange Treue und Freundschaft üben konnte und der bei allen Herrschergaben zu dienen verstand, der aller Phrase, Philisterei und Lüge gegenüber in seinen Werken einen Wall errichtet hat, den keine Fluth mehr hinwegspült, so sehr auch Schule, Doctrin und Partei-Eifer dagegen ankämpften. Er ist ein sich selbst und den Stoff bezwingender Geist und bietet als Sohn unseres Volkes seiner Nation die Gewähr endlichen Sieges. Je mehr die deutsche Nation heranreift und sich anderer als blos continental-particularistischer Aufgaben bewußt wird, umsomehr wird sie jene Stätten zu ehren das Bedürfniß fühlen, wo jener Geist seine Nahrung sog. Soll etwa das Wort unseres Goethe: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht“ an ihm selbst zu Schanden werden? Es ist sehr hohe Zeit, daß in dieser Frage der Erhaltung der Goethe-Häuser in Weimar, dieser Denkmäler, die viel werthvoller und inhaltreicher sind als irgend ein Standbild mit verzweifelter Allegorik, die Initiative ergriffen werde. Wie mancher hat die Pilgerfahrt nach der Dichterstadt vergebens gemacht und sich mit der Antwort begnügen müssen: „Der Herr Baron hat’s verboten.“
Reist man darum sechszig Meilen, um sich sagen lassen zu müssen: „Ja, wenn Sie ein Engländer wären, würde sich’s vielleicht machen lassen!“ Wenn irgend jemand, so hat jeder Sohn Deutschlands ein Recht – oder sollte es haben – diese Stätten der Erbauung zu besuchen, auf ihnen zu weilen und nach jener Läuterung zu streben, die Goethe’s Werke dem Strebenden in Fülle bieten. Und darum eben rufen wir die Reichsmacht an, der Nation dieses Recht zu sichern.