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Ein Besuch beim Könige von Aurora

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Textdaten
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Autor: Theodor Kirchhoff
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Titel: Ein Besuch beim Könige von Aurora
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 93–96
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Beispiel investigativem Journalismus
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[93]
Ein Besuch beim Könige von Aurora.
Von Theodor Kirchhoff.


An der Oregon- und California-Eisenbahn, achtundzwanzig englische Meilen südlich von der Stadt Portland in Oregon, liegt die deutsche Colonie Aurora, eine communistische Gemeinde unter der Leitung des Dr. Wilhelm Keil.

Im September 1871 machte ich wieder eine Reise von San Francisco nach Oregon, wo ich diesmal Zeit und Gelegenheit fand, einen schon lange von mir gehegten Wunsch verwirklicht zu sehen, – den, jene in ganz Oregon berühmt gewordene Colonie und den noch berühmteren Dr. Keil, den sogenannten König von Aurora, persönlich kennen zu lernen. Schon oft hatte ich in früheren Jahren während meines Aufenthaltes in Oregon und wiederholt auf meiner letzten Reise von dieser Colonie und ihrem Autokraten reden hören und die unglaublichsten Dinge über die Regierungsweise jenes selbstgeschaffenen Potentaten vernommen. Alle Berichte stimmten darin überein, daß Dutchtown (mit diesem Namen pflegen die Amerikaner allgemein jede deutsche Colonie zu bezeichnen) ein Muster von einem Gemeinwesen sei, das sich vor allen anderen in Oregon durch Ordnung und Wohlstand auszeichne. Das Gasthaus von „Dutchtown“, welches früher an der Ueberland-Stagelinie lag und jetzt ein Stationshaus an der Oregon- und California-Eisenbahn ist, hat in Oregon einen beneidenswerthen Ruf erlangt und wird von allen Reisenden als [94] das vorzüglichste in jenem Staate gepriesen, und von der Colonie erzählte man mir nur Rühmendes. Ueber den Dr. Keil dagegen, den sogenannten „König von Aurora“, waren die sonderbarsten Gerüchte im Umlauf. Man hatte mir denselben in der Stadt Portland als einen ganz unnahbaren Charakter bezeichnet, der sich den Fremden gegenüber außerordentlich verschlossen zeige und Niemandem die geringsten Aufschlüsse über die innere Verwaltung seiner blühenden Colonie gebe, in der er wie ein souverainer Fürst das Regiment führe. Eingeweihte behaupteten, daß jener bedeutende Mann in Deutschland ein Schneider gewesen sei. Er wäre zugleich geistliches und weltliches Oberhaupt der Gemeinde, schlösse Ehen (stets mit Widerwillen, weil er nach den Regeln der[WS 1] Gesellschaft den Neuvermählten ein Wohnhaus anweisen müsse), wäre Arzt und Geburtshelfer, Prediger, Richter, Gesetzgeber, General-Oekonom, Verwalter, unumschränkter und unverantwortlicher Finanzminister der Colonie und hielte alle die sehr werthvollen Ländereien der Ansiedelung mit Zustimmung der Colonisten in seinem Namen; seinen freiwillig ihm gehorchenden Unterthanen, die ihn wie ihren Vater verehrten, verschaffe er allerdings einen guten Lebensunterhalt, behalte aber den ganzen Profit der Arbeit Aller und den Werth des gesammten Eigenthums für sich, trotzdem die Colonie als eine communistische Gemeinde auf breitester Grundlage angelegt sei.

Diesen originellen Mann, einen Geistesverwandten des berühmteren Mormonenpascha Brigham Young, wollte ich von Auge zu Auge sehen und den Löwen so zu sagen in seiner Höhle aufsuchen. Von der Stadt Portland aus, wo ich gerade verweilte, war die Colonie Aurora ohne besondere Schwierigkeit mit der Eisenbahn zu erreichen. An jenem Orte machte ich die Bekanntschaft eines deutschen Lebensversicherungs-Agenten einer Gesellschaft in Chicago, Namens Körner, der wie ich einen Besuch in Aurora machen wollte und in dem ich einen angenehmen Reisegesellschafter fand. Derselbe hatte sich in Portland Empfehlungsschreiben an den Dr. Keil verschafft und den kühnen Plan gefaßt, mit demselben ein „Geschäft im Lebensversichern“ zu machen; er wollte den Versuch wagen, ihn zu überreden, das Leben der ganzen Colonie, das heißt aller seiner freiwilligen Unterthanen, bei der Chicagoer Gesellschaft zu versichern, dafür als unverantwortlicher Schatzmeister der Colonie die gesetzmäßigen Prämien zu zahlen und bei Sterbefällen den Gewinn für seinen Nutzen einzucassiren.

Mein Reisegefährte hatte große Hoffnung, dem Doctor seinen Lebensversicherungsplan als eine vortheilhafte Speculation plausibel zu machen, und sich demzufolge mit den nöthigen Sterbetabellen etc. hinreichend versehen. Uns war in Portland eingeschärft worden, den früheren Schneider Keil, jetzigen „König von Aurora“, stets mit „Doctor“ anzureden, auf welchen Titel er sehr stolz sei, und ihm mit aller uns als souverainen Republikanern möglichen Ehrerbietung zu begegnen; sonst werde er uns gleich den Rücken zuwenden.

Am Morgen des 19. September brachte uns eine Dampffähre von Portland über den Willâmette-Fluß nach dem Bahnhofe der Oregon- und California-Eisenbahn, und bald darauf entführte uns der brausende Dampfzug gen Süden, entlang am rechten Ufer jenes Stromes von der Breite des Rheins, eines Nebenflusses des mächtigen Columbia. Nach einer angenehmen und interessanten Fahrt durch riesige Waldungen und über fruchtbare, hier und da mit Farmen und Ansiedelungen, Obstgärten etc. geschmückte größere und kleinere Prairien und Lichtungen erblickten wir das in romantischer Umgebung hart am Willâmette liegende Städtchen Oregon-City. Später verlassen wir den Fluß, donnern einige Meilen weit durch majestätischen Urwald und treten nun in eine weite waldumsäumte Prairie, in der sich hier und da schmucke Farmhäuser und zerstreute Holzungen zeigen; – und siehe! drüben winkt von schwellendem Hügel und inmitten einer von grünen Bäumen umgebenen wohlgehaltenen Ansiedelung der schlanke weiße Kirchthurm von Aurora herüber, und schon sind wir am Ziele unserer Reise.

Unser erster Weg, nachdem wir den Bahnzug verlassen hatten, war zu dem hart an der Eisenbahn auf einem Hügel erbauten Gasthause, wo sich die Passagiere zum „Lunch“ versammelten. Dieses, wie bereits erwähnt wurde, in ganz Oregon rühmlichst bekannte sogenannte Hôtel in „Dutchtown“ möchte ich mit einer Herberge alten Stils vergleichen. Die lange sauber gedeckte Eßtafel war mit schmackhaft zubereiteten, echt deutschen Gerichten übervoll besetzt, und sauber gekleidete schmucke deutsche Mägde warteten bei Tafel auf. Waren die Speisen nun allerdings nicht mit denen bei einer Mahlzeit im Clublocale des deutschen „San-Francisco-Vereins“ in San Francisco zu vergleichen, so muß ich doch gestehen, daß sie unbedingt das Beste boten, was ich noch in Oregon genossen hatte, in welchem Lande die Köche ihre Gerichte sonst nicht nach einem Hamburger Küchenzettel zuzubereiten pflegen.

Nach beendeter Mahlzeit erkundigten wir uns, wo wir den Doctor Keil finden könnten, dem wir unsere Aufwartung machen wollten. Der Wirth zeigte uns des Doctors Wohnhaus, das von fern wie das Gehöft eines wohlhabenden niederdeutschen Landmannes aussah. Ueber einen langen Bretterstieg schreitend, schlugen wir den Weg nach der uns angedeuteten Wohnung ein. Unterwegs begegneten uns mehrere Arbeiter, die soeben von den Feldern kamen und augenscheinlich ein zufriedenes Leben führten: Mägde mit aufgeschürzten Kleidern, den Rechen in der Hand, und Knechte, die ihre Thonpfeifen gemüthlich rauchten, riefen uns einen deutschen Gruß zu. Alles hatte hier einen deutschen Zuschnitt: die von Bäumen beschatteten freundlichen Wohnhäuser, die Scheunen, Stallungen und wohlgepflegten Aecker, die Blumen- und Gemüsegärten, der weiße Kirchthurm von einer auf einem grünen Hügel erbauten Kirche; nur die Fenzen um die Felder erinnerten daran, daß wir uns hier in Amerika befänden.

Des Doctors Wohnung war von einem hohen weißen Staket eingeschlossen; stattliche breitgeästete Lebenseichen beschatteten sein Haus und der geräumige Hof hatte ein sauberes, nettes Aussehen. Die Hähne krähten und die Hennen zogen mit den Küchlein fleißig körnerpickend hin und her, Gänse schnatterten und einige wohlerzogene Hunde begrüßten uns mit freudigem Gebell. Eine freundliche deutsche Matrone wies uns auf die Frage, wo wir den Doctor finden könnten, nach dem Obstgarten, wohin wir sofort unsere Spaziertour fortsetzten. Eine Pracht war dieser, dessen nach Tausenden zählende Bäume mit den herrlichsten Früchten dermaßen beladen waren, daß man die Zweige vielfach mit Stangen hatte stützen müssen, um ihr Niederbrechen unter der Last des Obstes zu verhindern.

Bald fanden wir den berühmten Doctor, den „König von Aurora“, in nichts weniger als fürstlichem Anzuge eifrig beim Aepfelpflücken beschäftigt. Er stand hoch oben auf einer Leiter in Hemdsärmeln, cattunener Schürze und Strohhut und pflückte das rothwangige Obst in einen Handkorb. Mehrere Arbeiter waren unter dem Baume beschäftigt, die gepflückten Aepfel auszulesen und die besten derselben, wahre Prachtexemplare dieses in Oregon zur Vollkommenheit gedeihenden Obstes, in Kisten sorgsam zu verpacken. Als der Doctor uns bemerkte, stieg er von der Leiter herab und fragte uns ziemlich barsch, was unser Geschäft sei. Mein Reisegenosse überreichte ihm die mitgebrachten Empfehlungsbriefe, welche der Doctor aufmerksam durchlas, und stellte ihm dann meine Wenigkeit als „californischen Literaten und Mitarbeiter der Gartenlaube“ vor, der eigens deshalb nach Oregon gekommen sei, um ihn, den Herrn Doctor Keil, zu besuchen und seine Colonie in Augenschein zu nehmen, von der wir Beide so viel Rühmendes gehört hätten. Ohne des Doctors Antwort abzuwarten, fragte ich ihn, ob er, der Doctor, vielleicht ein Verwandter des Herausgebers der „Gartenlaube“ sei. Eine gelegenere Frage hätte ich offenbar nicht stellen können, denn der Doctor schien durch dieselbe augenscheinlich erfreut und wurde gleich außerordentlich liebenswürdig gegen uns. Die Verwandtschaft, auf welche ich angespielt hatte, bedauerte er jedoch nicht beanspruchen zu können; ich erfuhr von ihm, daß er Wilhelm Keil heiße und aus Bleicherode in Westphalen[1] gebürtig sei. Das Aepfelpflücken überließ der Doctor jetzt seinen Arbeitern und erbot sich, uns das Sehenswürdigste in der Colonie zu zeigen; über das Lebensversicherungsproject werde er zu gelegener Zeit mit Herrn Körner Rücksprache nehmen.

Der Doctor, welcher sich von jetzt an sehr redselig zeigte, war eine recht angenehme Erscheinung, ein Mann, der seine Sechszig zählen mochte, mit weißem Haar, breiter hoher Stirn und intelligenten Gesichtszügen. Kerngesund, groß gewachsen, von [95] kräftiger Natur und mit einer dominirenden Haltung machte er den Eindruck eines Mannes, der zum Herrschen geboren sei. Er schien es sich angelegen sein zu lassen, einen guten Eindruck auf uns zu machen; jedoch bemerkte ich öfter an ihm einen lauernden Blick, als gebe er sich Mühe, unsere Gedanken zu lesen. Der Doctor führte die Unterhaltung fast ganz allein, und es hielt schwer, dem Sinne seiner Rede zu folgen. Er sprach in einem salbungsreichen Predigertone mit einer fabelhaften Suade, meistens in ganz allgemeinen Sätzen, und wich allen directen Fragen geschickt aus. Wenn ich ihm zehn Minuten lang zugehört hatte, so war ich am Ende derselben oft nicht viel klüger als vorher. Besonders gewählt war seine Redeweise nicht, und er bediente sich häufig Wörter, halb englisch und halb deutsch, wie ungebildete Deutsch-Amerikaner zu thun pflegen.

Während wir durch den Obstgarten wanderten, über dessen Schönheit und praktische Anlage ich erstaunen mußte, gab uns der Doctor eine Vorlesung über Colonisirung, Ackerbau, Gärtnerei, Obstzucht etc., die er mit frommen Zwischenbemerkungen zu würzen liebte. Mit Stolz wies er darauf hin, daß alles Dieses sein Werk sei, und beschrieb, wie er die Wildniß in einen Garten verwandelt habe. Im Jahre 1856 sei er mit vierzig Nachfolgern als Abgesandter der communistischen Stammgemeinde von Bethel im Staate Missouri nach Oregon gekommen, um hier in dem damals wenig bekannten äußersten Westen eine Zweigcolonie zu gründen. Jetzt sei er Präsident sowohl von der Gemeinde zu Bethel als von der Colonie Aurora. Jene zähle gegenwärtig etwa vierhundert, die hiesige vierhundertzehn Seelen.

Als er zuerst diese Gegend betreten, hätte er das ganze Land, welches die jetzt so blühende Colonie Aurora besitze, von Sumpf und Urwald bedeckt gefunden. Statt sich aber auf den weiter südlich gelegenen Prairien zwischen fremden Ansiedlern niederzulassen, habe er einen Wohnsitz mit seinen deutschen Brüdern allein im Urwald vorgezogen; hier hätte er, der damals wenig bemittelt gewesen sei, genug freie Ländereien von der Regierung der Vereinigten Staaten als Heimstätten für seine Colonisten umsonst erlangen können und habe zugleich in dem Holze der Bäume ein Capital gefunden, das sich gleich verwerthen ließ. Zunächst hätte er ein Blockhaus gebaut zum Schutze gegen die damals in dieser Gegend feindlich gesinnten Indianer; dann habe er eine Sägemühle errichtet, Bauholz schneiden lassen und theils Häuser für seine Colonisten davon erbaut, theils damit einen einträglichen Handel mit seinen amerikanischen Nachbarn eröffnet, die, auf den Prairien wohnend, bald für ihren ganzen Holzbedarf auf ihn angewiesen worden wären. Das von Bäumen gelichtete Land habe er in Obstgärten und Aecker umgewandelt. Die besseren Obstsorten habe er zum Verkauf nach Portland und San Francisco verschifft, aus den sauren Aepfeln dagegen entweder Essig fabricirt, oder dieselben an die älteren Ansiedler verkauft, die sich bald krank daran gegessen hätten. Dann wäre er als Arzt zu ihnen gegangen und hätte sie gegen gute Bezahlung vom Fieber wieder curirt. Diesen Scherz erzählte der berühmte Doctor mit besonderm Wohlbehagen.

Nach und nach, fuhr der Doctor fort, habe sich die Kopfzahl seiner Colonie vergrößert; er hätte dann mit vermehrten Mitteln und Arbeitskräften eine Gerberei, eine Spinnerei, Webstühle, Mehlmühlen etc. eingerichtet, mehr Wohnungen für die Colonisten gebaut, die Waldungen gelichtet und die Sümpfe trocken gelegt, seine Obstgärten vergrößert, neue Farmen angelegt, für Verschönerungen Sorge getragen, eine Kirche und Schulhäuser gebaut, den in der Nähe der Colonie ansässigen Amerikanern ihr bestes Land für Spottpreise abgekauft etc. Alles betreibe er systematisch. Seine Colonisten verwende er stets zu solcher Arbeit, wozu sie ihm am tauglichsten schienen. Jeder finde für seine Fähigkeiten den angemessensten Platz. Wer nicht thue, was er wolle und wie er es anordne, der müsse wieder fort aus der Colonie. Widerspruch dulde er nicht. Er mache das beste Leder, die besten Schinken und ziehe das beste Obst in Oregon. Die Besitzungen der Colonie, welche er nach Kräften vergrößere, erstreckten sich bereits über zwanzig Sectionen (die Section über sechshundertvierzig Acker, gleich einer englischen Quadratmeile), und überall herrsche die schönste Ordnung auf denselben.

Unter derartigen Gesprächen durchwanderten wir den gegen vierzig Acker großen Obstgarten. Von den achttausend darin stehenden Bäumen werden jetzt bereits jährlich an fünftausend Scheffel ausgesuchte Aepfel und achttausend Scheffel der trefflichsten Birnen geerntet, und der Ertrag wächst von Jahr zu Jahr. Der Doctor wies wiederholt auf den Vorzug seiner Anlagen hin, im Gegensatze zu ähnlichen bei den Amerikanern. Diese ließen überall das Unkraut unter den Bäumen wuchern, wie es wolle, und von Ordnung oder gar von gefälligem Schmuck sei bei ihnen nicht die Rede. Er dagegen halte nicht weniger auf Sauberkeit und Ordnung, als auf Schönheit. Und so war es in der That! Reinliche Wege durchschnitten die Anlagen; frische Rasenplätze, Blumenbeete, reizende schattige Lauben begleiteten uns auf Schritt und Tritt. Lange Beete waren mit den prächtigsten Büschen von Johannisbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren etc. bepflanzt, große Strecken mit Reihen von Rebstöcken besetzt, an denen einladend die saftigen Trauben hingen. Die Fruchtbäume standen alle nach Arten geordnet; hier viele Acker voll von Aepfelbäumen, dort andere mit Birnbäumen, Aprikosenbäumen etc. bepflanzt, darunter das Unkraut ausgerodet und der Boden rein geharkt, – Alles in schönster Ordnung. Ein Hofgärtner eines deutschen Fürsten hätte seine Freude daran gehabt!

Wir nahmen in einer schattigen Laube Platz, wo uns der Doctor seine Religion zum Besten gab. Bei ihm, sagte er, gelte kein besonderer Bücherglaube; er habe Protestanten, Katholiken, Methodisten, Baptisten, Christen von allen Sorten, auch Juden in der Colonie. Jeder könne glauben, was er Lust habe; Er predige aber nur den reinen Naturglauben, und wer darnach handle, der sei glücklich. Dann sprach er mit großer Breite über den Wohlstand der Colonie, der durch den Glauben an die Natur begründet sei, über Demuth, Nächstenliebe, Gemüth, Religion im Allgemeinen, und wieder über Natur und sich selbst, daß mir der Kopf davon zuletzt ganz wüst ward. Meine Zwischenfragen über die innere Organisation der Colonie hatte ich längst in Verzweiflung ganz fallen lassen, da der Doctor entweder gar keine oder ausweichende Antwort darauf gab. Seine Colonisten, betonte der Doctor, liebten ihn wie einen Vater und er sorge für dieselben. Beides war unzweifelhaft der Fall; die hohe Ehrfurcht, mit der die Colonisten, denen wir gelegentlich begegneten, vor dem „Doctor“ den Hut lüfteten (eine Begrüßungsweise, die in Amerika gar nicht Sitte ist), zeugte von ungemessener Hochachtung – uns grüßten dieselben als vornehme Fremde, die der Doctor mit seiner Gesellschaft auszeichnete, mit großem Respect –; und den außerordentlich blühenden Zustand der Colonie mußte Jeder, der dieselbe sah, zugeben. Daß der Doctor bei Alledem hauptsächlich für sich selbst gesorgt hatte, war dabei ein Hintergedanke, der sich Einem von selbst aufdrängte.

Als wir den Obstgarten verlassen hatten, zeigte uns der Doctor mehrere in der Nähe liegende, mit deutscher Ordnungsliebe bebaute ausgedehnte Kornfelder, welche mit freundlichen Wohnhäusern abgeschlossene Farmen bildeten. Der Durchschnittsertrag des Bodens, bemerkte er, betrage fünfundzwanzig bis vierzig Scheffel Weizen und vierzig bis fünfzig Scheffel Hafer pro Acker. Dann führte er uns in den angrenzenden Wald, nach einem Platze, wo, wie er sagte, die Feste der Colonie abgehalten würden. An einem mit Rasen bedeckten Hügel, der von einer Art Baldachin überdeckt und von einem Graben umschlossen war, machten wir Halt. Dieser sogenannte „Tempelhügel“ bildete den Ausläufer für eine Anzahl sich fächerartig von ihm im Walde verzweigender geradliniger Wege. Nicht weit davon bemerkte ich einen Tanzboden unter einem ringsum offenen Dache, auch eine Tribüne für die Musik. „Bei Volksfesten,“ erklärte der Doctor, „lasse ich Nachts alle jene vom ‚Tempel‘ sich fächerartig verzweigenden Wege mit bunten Laternen erleuchten und illuminire den Tempel, der dann in seiner Flammenpracht einen überaus imposanten Anblick gewährt. Wenn wir hier unser Maifest feiern, so ist das nach Dunkelwerden ein Schauspiel wie aus tausend und einer Nacht, und wenn dabei die Musik spielt und fröhlicher Gesang erschallt und das junge Volk sich beim Tanze vergnügt, so ist das eine wahre Freude! Auf den Tempelberg darf aber Niemand hinaufsteigen und kann es auch so leicht nicht thun. Warum, glauben Sie wohl, meine Herren?“ – fügte er fragend hinzu. Mein Freund Körner meinte, daß der Graben wohl die Ursache sei, über den man nicht leicht hinüberspringen könne, welcher Ansicht ich beipflichtete. – „Geradeso!“ – bemerkte der Doctor. „Dieser Tempelberg hat eine sinnige Bedeutung. Er stellt das souveraine Volkshaupt vor, dem Niemand auf den Kopf treten darf; – deshalb ist der Graben da.“

[96] Nach einem Spaziergang von mehreren Stunden langten wir bei des Doctors Wohnung an, wo er uns zu einem Glase selbstgemachten Weines einlud. Da man uns gesagt hatte, daß der Verkauf und Genuß von Wein und Spirituosen in der Colonie streng verboten sei, so war diese Einladung gewiß ein unerhörter Ausnahmefall. Der Wein, von dem er uns zwei Sorten vorsetzte, einen aus wilden Reben und den andern aus Johannisbeeren gemacht, war recht schmackhaft und wurde uns in der Apotheke credenzt. Hier brachte Herr Körner sein Lebensversicherungsproject nochmals geschickt vor. Der Doctor gab ihm Hoffnung, daß er darauf eingehen würde; doch wollte er sich die Sache gehörig überlegen und die Vortheile und Nachtheile der Speculation einer genauen Prüfung unterwerfen, ehe er eine definitive Antwort darauf ertheile. – Und hiemit endete unser Besuch beim „Könige von Aurora“.

Ehe wir die Colonie verließen, stellten wir noch allerlei Erkundigungen bei Mitgliedern derselben über ihre innere Organisation und Leitung an, deren Resultate und was ich sonst darüber vom Doctor Keil erfuhr, ich dem Leser nicht vorenthalten will.

Wünscht Jemand Mitglied der Colonie zu werden, so muß er zunächst sein ganzes Baarvermögen in die Hände des Doctor Keil niederlegen. Er wird dann vorläufig auf Versuch angenommen. Gefällt der Candidat dem Doctor, so kann er bleiben und wird Theilnehmer der Gemeinde; sollte dies nicht der Fall sein, so erhält derselbe beim Austritt sein eingezahltes Capital ohne Zinsen zurück. Wie lange er „auf Versuch“ in der Colonie arbeiten muß, hängt ganz und gar vom Doctor ab. Wenn ein Mitglied aus eigenem Antriebe wieder austreten will, ein Fall, der jedoch sehr selten vorgekommen ist, so erhält er sein eingelegtes Capital ohne Zinsen zurück und bekommt einen Prorata-Antheil von dem Verdienste, den die Colonie während der Zeit seiner Mitgliedschaft erzielt hat. Diesen schätzt wiederum der Doctor ab.

Alle gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens werden den Theilnehmern der communistischen Gemeinde unentgeltlich verabfolgt. Die gemeinschaftliche Casse hat der Doctor in Händen, der daraus alle Einkäufe bestreitet und auch den Verkauf der Ackerbau- und Industrie-Erzeugnisse der Colonie für dieselbe besorgt. Braucht Jemand einen Rock oder sonstige Kleidungsstücke, Mehl, Zucker, Tabak etc., so holt er sich, was er wünscht, unentgeltlich aus dem „Store“ (Vorrathshaus), das Fleisch ebenso vom Schlachter, Brod vom Bäcker etc.; Spirituosen werden nur bei Krankheitsfällen verabreicht. Dafür bestimmt der Doctor, wie sich jedes Mitglied zum Besten der Colonie beschäftigen soll; ob er sich als Ackerbauer, als Handwerker, gewöhnlicher Arbeiter oder wie sonst nützlich machen muß, und die Zeit und die Arbeitskraft des Colonisten gehört ganz dem Besten der Gemeinde – nach dem Dafürhalten des Doctors. Verheirathet sich ein Mitglied, so erhält dieses eine besondere Wohnung und Ackerland angewiesen, so daß die Familien auf den Farmen in der Ansiedelung zerstreut wohnen. Die Aeltesten der Gemeinde unterstützen den Doctor bei seinen Amtspflichten mit Rath und That.

Die Ländereien der Colonie sind sämmtlich in Doctor Keil’s Namen gerichtlich protocollirt worden, um, wie er sagt, Weitläufigkeiten und verwickelte Schreibereien zu vermeiden. Hierin soll jedoch vielleicht in Bälde eine Aenderung eintreten, damit die Mitglieder der Colonie im Falle von des Doctors Absterben ihren Antheil an den Ländereien etc. ohne Schwierigkeiten erlangen können. Würde der Doctor nächstens mit Tode abgehen, ehe die Landtitel umgeschrieben sind, so könnten dessen natürliche Erben das ganze Besitzthum der Colonie für sich in Beschlag nehmen und die Mitglieder der Gemeinde hätten das Nachsehen. Große Eile scheint der Doctor aber nicht zu haben, die Eigenthumsurkunden ändern zu lassen, obgleich dieses längst hätte geschehen sollen. In der Colonie heißt es natürlich, daß der ganze Grundbesitz etc. den Mitgliedern gemeinschaftlich gehört. Ob aber der Doctor im Stillen dieser Ansicht huldigt, möchte denn doch sehr fraglich sein.

Der Doctor Keil ist zugleich Seelsorger und unbeschränkter weltlicher Verwalter der Colonie Aurora und kann anordnen, mit Zustimmung der Aeltesten (die natürlich stets seiner Ansicht beipflichten), wie und was er will. Das sorgenfreie Leben, welches die meistens den niedrigen Ständen angehörigen und wenig gebildeten Mitglieder der Gemeinde führen, in der Niemand als der Doctor die Mühe nachzudenken nöthig hat, ist der Hauptgrund von dem ungestörten Fortbestehen der Colonie. Das eminente Organisationstalent, verbunden mit unbegrenzter Machtbefugniß, welches der mit Recht den Namen eines „Königs von Aurora“ führende Doctor Keil besitzt, und der allen Deutschen innewohnende Fleiß ist dabei die Ursache von der Blüthe dieses Gemeinwesens, das sich ein communistisches nennt, aber eigentlich nichts weiter als eine große Farm ihres talentvollen Gründers ist. Die Colonie Aurora hat ihre Schulen, ihre Kirche etc., – Zeitungen und Bücher, deren Auswahl und Anschaffen der Doctor besorgt, in beschränkter Zahl –, und an geselligen Vergnügungen, Musik, Gesang etc., fehlt es auch nicht. Neben einem leicht zu erwerbenden Lebensunterhalte genügt dies den Ansprüchen der Colonisten vollständig – und der gute Doctor Keil sorgt für den Rest.

San Francisco, December 1871.




  1. Hier scheint ein Irrthum vorzuliegen, da es unseres Wissens nur ein Bleicherode ist der Nähe von Nordhausen giebt. Auf diese Weise wäre dann auch für den Herausgeber der Gartenlaube, dessen Familie in ganz Thüringen verbreitet ist, die Ehre einer Verwandtschaft, mit dem „Könige von Aurora“ nicht völlig ausgeschlossen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: d r