Ein Besuch beim Altmeister Goethe in Weimar
Von Ernst Förster.
Im Sommer 1824 war ich mit meinem Freunde Carl Hermann in Bonn beschäftigt, die Aula der Universität nach den Cartons von Cornelius in Fresco auszumalen. Es war die Zeit der Demagogenriecherei, welche die preußischen Gefängnisse bevölkerte. So wurde denn auch ich eines schönen Vormittags vom Malgerüste weg auf die Polizeidirection citirt und von da hinter Schloß und Riegel gebracht, weil ich, zu meiner nicht geringen Ueberraschung, Mitglied eines geheimen, hochverräterischen Bundes sein sollte. Einer der in Köpenik sitzenden Gefangenen, hieß es, habe mich denuncirt. Zum Glück konnte ich meine völlige Unschuld an dem mir angesonnenen Vergehen den Universitätsautoritäten alsbald darthun, so daß es dem berühmten Niebuhr in Verbindung mit dem Universitätscurator, Geh. Rath Rehfues, gelang, meine Befreiung beim königlichen Landrathe auszuwirken.
Meine Gefangenschaft war also eine sehr kurze, sollte mir aber auch anderweit zu Gute kommen. Als ich, schon am andern Morgen, wieder vor meiner nassen Kalkwand saß, empfing ich viele Besuche von Freunden und Fremden, unter andern auch von dem Professor d’Alton, dem geistvollen Kunsthistoriker. Ihm verdankte ich, als ich Bonn im Herbste 1825 verließ, um Cornelius nach
[421]München zu folgen, und meinen Weg über Weimar wählte, was mir unschätzbar war – einen Empfehlungsbrief an Goethe. Das Gefühl, das mich einst nach der Schweiz und nach den Tyroler Alpen gezogen, durchdrang und durchzitterte mich mit ungleich heftigern Schlägen des Herzens, als ich das Papier in meiner Hand hatte, das mir den Weg öffnete zu der höchsten Geisteshöhe unserer Nation und Zeit. Denn ich gestehe, daß vor meinen Augen ein Mann, der mit solcher Uebermacht auf alle Kreise des Lebens und alle bedeutsamen Bestrebungen eingewirkt, mit einem mythologischen Zauber umgeben und mir stets unnahbar erschienen war. Obschon ich, meiner Gewohnheit gemäß, zu Fuß den Rhein hinauf durch Hessen und Thüringen wanderte und nicht mit Windeseile den Weg zurücklegte, war es mir doch, als hätt’ ich Flügel an den Fersen.
Am 5. November kam ich in Weimar an, meldete mich am 6. früh schriftlich und mit Übersendung des d’Alton’schen Briefes bei Goethe und erhielt die Einladung, um 12 Uhr bei ihm zu sein. Ich nahm eine von mir gefertigte Zeichnung nach dem Frescogemälde der Theologie, das ich mit Hermann und einem andern Schüler von Cornelius ausgeführt, zu mir und ging über die geweihete Schwelle.
Mit einer namenlosen Empfindung, gemischt aus höchster Freude und hochgesteigerter Angst, die selbst durch das „Salve“ des Eingangs nur wenig gemindert wurde, trat ich in das große [422] Empfangzimmer. Wußte ich doch, daß der erhabene Dichter des Faust zugleich der kühle Beurtheiler des Cornelius’schen Faust war, der diesen mit dem von Netzsch, ja fast mit dem von Delacroix auf eine Stufe gestellt, und der an den Nibelungen meines großen Meisters nur „den alterthümlich tapfern Sinn und die unglaubliche technische Fertigkeit“ zu rühmen gewußt. Und doch war er der große, von tausend und abertausend Zungen gepriesene und von mir mit tiefster Ehrfurcht bewunderte Dichterfürst!
Ich hatte erwartet, ihn auf einem Stuhle, wie den König auf einem Throne, sitzend zu finden, und war darauf gefaßt, in bescheidener Entfernung an der Thür stehen bleiben zu müssen. Wie war ich überrascht und plötzlich aller Sorgen ledig, als er mit offenen Armen mir entgegenkam, mich mit beiden Händen erfaßte und auf das Herzlichste willkommen hieß! Nach den Vorfragen über d’Alton’s Befinden ging er sogleich auf die Kunstunternehmung in Bonn über und war hocherfreut, daß ich meine Antwort mit einer Zeichnung begleiten konnte.
Es war ein eigenthümlicher Zug im Charakter Goethe’s, daß er die vornehme Zurückhaltung, die er in Gesellschaft und Fremden von Auszeichnung gegenüber beobachtete, vor jüngern Leuten gänzlich fallen lassen, sich so zu sagen mit ihnen auf eine Linie stellen, ja sogar von ihnen Belehrung erbitten konnte. Auf mich machte dies Verhalten den wohlthuendsten Eindruck, alle Befangenheit war verschwunden, meine Zunge war gelöst.
Ich setzte ihm nun den von Cornelius angeregten, von der preußischen Regierung genehmigten Plan, die Universiläts-Aula in Bonn mit historischen Darstellungen der vier Facultäten – Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Medicin – in Fresco auszuschmücken, auseinander, berichtete, wie mit der Theologie der Anfang gemacht worden, die Cornelius dem Maler Carl Hermann aus Dresden übertragen, wobei er mich und noch einen seiner Schüler jenem als Gehülfen beigegeben, in der Art, daß uns in der Ausführung einzelner Gruppen eine Art Selbstständigkeit gewahrt blieb; ein Umstand, den Goethe mit einem fragenden „So?“ anhörte. Darauf gab ich, zuweilen von Goethe durch ein „Hm!“ oder „So, so!“ unterbrochen, die Erklärung der Zeichnung, wie die allegorische Figur auf dem Postament in der Mitte die Theologie vorstelle mit den Genien des Forschens und Glaubens; wie neben ihr, gleich Säulen, die Evangelisten ständen, an die sich, in zwei Reihen sitzend, die Kirchenväter anschlossen, die ich, wie alle dargestellten Personen, namentlich bezeichnen mußte. Dann zeigte ich auf die hervorragenden Erscheinungen in der älteren Kirchengeschichte, auf Sectirer, auf Ordensstifter, die Repräsentanten der Hierarchie (Gregor VII. und Innocenz III.), auf die scholastischen Theologen und den frommen Thomas a Kempis; dann auf der andern Seite auf die Verbreiter des Christenthums, auf die Vertreter der Kirchenreformation von Petrus Waldus, Huß und Wiklef bis auf Luther und seine Zeit- und Kampfgenossen, und die Theologen des 17. Jahrhunderts. Endlich machte ich auf die beiden Gruppen im Vordergrunde aufmerksam, in welchen die Richtung der Gegenwart auf eine Ausgleichung katholischer Gläubigkeit und protestantischen Forschersinns ausgesprochen sein sollte, wozu der alte Herr die allerfreundlichste, aber auch allerungläubigste Miene machte.
„Ein rühmliches Unternehmen,“ sagte nun Goethe, „und mit Eifer und ernstem Studium angefaßt. Man wird sich um die Kirchengeschichte bekümmern müssen, um Sie zu verstehen. Ich habe aber noch mehr Bedenken,“ und damit wandte er sich, um im Saal auf und abgehend weiter zu sprechen. „Die Allegorie ist in der bildenden Kunst nicht zu entbehren, so wenig wie in der Dichtkunst. Es fragt sich aber doch, ob sie hier an der rechten Stelle, oder wenigstens, ob sie in der rechten Form aufgeführt ist. Ist sie farbig, d. h. mit dem Schein des wirklichen Lebens dargestellt?“ Und als ich dies bejahte, fuhr er fort: „Das würde mich stören. Eine Marmorgruppe an diesem Platze würde den Gedanken aussprechen, ohne in Conflict zu gerathen mit der Gesellschaft wirklicher Personen, die sie umgeben. – Auch bei der Gegenwart habe ich einige Scrupel. Das Werdende entzieht sich der unbefangenen Wahrnehmung; nur das Gewordene fällt in die verläßlichere Anschauung. Die Gruppe der ausgesöhnten Confessionen gleicht mehr einem frommen Wunsche, als einer Thatsache.“
Wohl über eine Stunde war im Sehen, Sprechen und Hören vergangen, als Goethe das Zeichen der eingetretenen Eßzeit und damit der Besuch sein Ende erhielt. Freundlich reichte er mir zum Abschied die Hand und fügte hinzu: „Morgen erlebe ich mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum. Ich weiß nicht, was die Freunde vorhaben, und will es denn in aller Bescheidenheit erwarten. Ich werde mich freuen, Sie unter ihnen zu sehen.“
Wie ich den Gasthof erreicht, wußte ich nicht. Ich war auf einmal in meinem Zimmer und wiederholte mir das Erlebte von Minute zu Minute, um sicher zu sein, es sei kein Traum. Also Goethe gesehen, gesprochen und von ihm sogar zum Wiederbesuch aufgefordert! Für das Glück war mir das Zimmer zu eng: ich stürmte hinaus in und durch den Park, vielleicht der beseligtste Mensch damals in Weimar.
Ich hätte gern meine Freude Andern mitgetheilt, hätte ich nur gewußt, wem. Da fiel mir ein, sie in eine Form zu fassen, in der ich sie auf den Jubiläumstisch legen könnte. Wir hatten – eine heitere Gesellschaft in Bonn - im August d. J. Goethe’s Geburtstag auf dem Drachenfels gefeiert, und davon ließ ich den Vater Rhein dem Altmeister Bericht erstatten und nahm das Gedicht zu mir, als ich am Morgen des 7. November in’s Haus des Jubelseniors ging.
Hier fand ich eine auserlesene Gesellschaft: Frauen und Jungfrauen Weimars im Festkleid, ausgezeichnete Männer aus Weimar und Jena, und in der Tiefe des Saales einen Tisch mit kostbaren Geschenken, vornehmlich weiblichen Arbeiten. Hier sah ich auch Eckermann wieder, der mich während des Sommers in Bonn besucht und mir nun mit großer Freundlichkeit seine Dienste für Weimar anbot. Als Goethe – wenn ich mich recht erinnere, begleitet von seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinen beiden Enkeln – eingetreten, empfing ihn ein vierstimmiger Festgesang, in welchem Frau Eberwein als Ilm die Chorführerin war. Und danach begrüßte er uns Alle einzeln mit Wort und Händedruck und besah mit kindlicher Freude die Bescheerung.
Wo war nur der große, unnahbare Mensch hingekommen, als der er nach so vielen Berichten vor meiner Seele gestanden? Selbst den Zug göttlicher Ironie in Rauch’s Büste suchte ich vergebens im lebendigen Original. Ist es schon hocherfreuend und unter Umständen innig rührend, wenn Menschen, die durch Geburt und Rang weit über uns stehen, sich mit der Aeußerung ihrer Empfindungen und Gedanken, mit Neigungen und Gewohnheiten uns gleichstellen, so steigert sich die Freude zur andächtigen Bewunderung, wenn ein Mann, der durch sein Verdienst, durch seinen selbsterworbenen Werth ein Fürst geworden im Reiche der Geister, dem Alle huldigen, sich giebt wie der Aermsten einer, seines Reichthums wie seiner Vorzüge unbewußt. So war Goethe an diesem Festmorgen, so menschlich liebenswürdig, daß man weder an den Minister, noch an den gefeierten Dichter erinnert wurde.
Dem Festessen im Stadthaus, bei welchem ich zwischen Frau von Ahlefeldt und Eckermann meinen Platz hatte und wo kein Mangel an Gedichten und Toasten war, folgte eine Aufführung der Iphigenie im Theater, wie ich sie allerdings selbst in Berlin nicht gesehen, so vollkommen in Wahrheit und Lebendigkeit des Ausdrucks wie im richtigen Maß poetischer Haltung; die herrlichste Festgabe für den Dichter.
Eckermann hielt Wort. Er machte mich mit mehreren Künstlerinnen und Künstlern Weimars bekannt und führte mich zuletzt in die großherzogliche Kunstsammlung. Ich sollte aber alle Glanzseiten Weimars kennen lernen. D’Alton hatte mir einen Brief an den Großherzog Carl August mitgegeben, auf dessen Übersendung sogleich eine Einladung erfolgte. Das war nun eigentlich, so zu sagen, eine alte Bekanntschaft, wenn auch nur von einer Seite, von meiner nämlich. Ich hatte den fürstlichen Herrn während meiner Studienzeit in Jena oft genug am Fenster seines Freundes, des Hofapothekers, gesehen und mit meinen Genossen ihm Körner’sche Lieder gesungen; ich war auch mit der gesammten Burschenschaft zur Taufe seines Enkels, des jetzt regierenden Großherzogs, sein Gast gewesen – unbekannter Weise! – und hatte ihn, wenn auch nur in bescheidener Ferne, in Bonn gesehen, als er die Aula besuchte. Nun interessirte er sich sehr für unsere Malereien, und ich mußte ihm mit Hülfe meiner Zeichnung ausführlichen Aufschluß geben. Was ich vorher in Bezug auf Goethe gesagt, fand in vollstem Maße Anwendung auf den Großherzog, bei dem der Fürst so hinter dem Menschen verborgen war, daß man ihn nur im eignen Gedächtniß aufsuchen mußte. Sehr große Lust bezeigte er, auch in Weimar ein Werk [423] der Frescomalerei ausführen zu lasten, was ich denn wohl mit einer etwas verfrühten Freude aufnahm.
Für den 9. November war ich von Goethe zu Mittag geladen. „Ich hoffe,“ sagte er mir beim Eintritt, „Sie heute mit den Männern bekannt zu machen, die bei uns die Kunst repräsentiren.“ Und in der That war bald eine zahlreiche und höchst interessante Gesellschaft versammelt. Goethe stellte mich dem Oberbaurath Coudray vor, der den Gedanken des Großherzogs in Betreff der Fresken begierig auffaßte und, von Goethe lebhaft secundirt, alsbald die neue Begräbnißhalle als den Ort bezeichnete, wo der Malerei eine bedeutsame Thätigkeit angewiesen werden könne.
Man setzte sich nach angewiesenen Plätzen zu Tisch. Der meinige war zwischen Oberbaurath Coudray und Hofrath Heinrich Meyer bekannt bei den Künstlern unter dem Namen „Kunschtmeyer“, den ihm seine alemannisch-schweizerische Aussprache zugezogen. Weiter links saß Goethe’s Schwiegertochter Ottilie, mir gegenüber ihre reizende Schwester, eine junge Dame voll Geist und Lebendigkeit im Gespräch, zwischen Goethe Vater und Sohn. Kein Wort und keine Miene des Mannes konnten mir entgehen, der heute mir bald wie der olympische Zeus, bald wie der Musengott erschien, der alle Herzen fesselte und alle Gedanken entfesselte. Er lenkte zuerst das Gespräch auf den Maler Asmus Carstens, und als ich das Entzücken nicht zurückhielt, das mir dessen Zeichnungen eingeflößt, die ich in der großherzoglichen Kunstsammlung gesehen, sagte er: „Es geht Alles seinen geordneten Gang, und so war es gewiß von guter Vorbedeutung, daß dieser Genius, mit dem man so gern die neue Epoche deutscher Kunst beginnt, sich vor Allem an die Dichter und Denker des klassischen Alterthums gehalten hat.“
„Das hat ihn auch,“ fiel der Hofrath ein, „vor der unglückseligen Nachahmung der altdeutschen Manier bewahrt, die seine Nachfolger sich zur angelegentlichen Pflicht gemacht haben.“
„Und doch,“ bemerkte ich, „ward er angefeindet wie seine Nachfolger; ja, er blieb fast unbekannt im Vaterlande, und erst Cornelius wußte das Herz des Volkes zu treffen, indem er ihm den ,Faust’ vor Augen stellte.“
Goethe nahm die Bemerkung sichtbar wohlgefällig auf, doch fügte er hinzu, Cornelius habe recht gethan, die in seinem Faust gebrauchten, der altdeutschen Kunst entlehnten Formen freier zu verlassen, um sich bei seinen jetzigen mythologischen Aufgaben bewegen zu können. – Da Cornelius sich selbst einmal gegen mich dahin geäußert, daß der Styl durch den Gegenstand der Darstellung bedingt sei und daß er Faust und Nibelungen auch jetzt in keiner andern Ausdruckweise wiedergeben würde, als früher, so theilte ich diese Aeußerung mit. Aber Eckermann fiel mir in’s Wort: „Diese Ansicht scheint auf einer Verwechslung der dichtenden und bildenden Kunst zu beruhen. Bei der unmittelbaren Einwirkung der letztern auf die Sinne machen sich doch sicher andere Gesetze geltend, als wenn nur Phantasie und Vorstellungsvermögen beschäftigt werden.“
„Es ist ein Unterschied,“ bemerkte Goethe, „doch muß ich hier Cornelius beistimmen; denn auch ich hatte Iphigenie und Tasso nicht im Styl von Faust und Götz schreiben können – so wenig, wie umgekehrt.“
Das Gespräch wurde auf eine – vielleicht nur mich – überraschende Weise unterbrochen. An dem einen Ende der Tafel wurde es unruhig, man räusperte sich, gab ein leichtes Zeichen am Glas, und ein vielstimmiger Gesang ward angestimmt. Es gehörte die schöne Sitte, das Mahl mit Gesängen zu würzen, wie mir Eckermann vertraute, zu Goethe’s besonderen Tafelfreuden bei festlichen Gelegenheiten, und so folgte auch heute nach jedem Gange ein Gesang. Unter andern war das Lied angestimmt worden: „Mich ergreift – ich weiß nicht wie – himmlisches Behagen etc.“ Nach Beendigung desselben hub Goethe an: „Man schreibt sonst den Gerüchen die besondere Kraft zu, Erinnerungen zu wecken. Musik und Gesang wirken ebenso nachdrücklich in der gleichen Richtung. So steht jetzt lebhaft der Abend vor mir, für welchen ich das Lied, das man eben sang, gedichtet habe. Es war vor der Abreise unseres Erbprinzen nach Paris, als ein Freundekreis um ihn versammelt war. Schiller hatte für denselben Abend sein bekanntes Lied an den Erbprinzen geschrieben, das wir nach der Rheinweinlied-Melodie sangen; und nun steht der Abend, Schiller, der Kreis der Freunde, der Abschied – Alles, bis auf den kleinsten Zug vor meiner Seele.“
Fast hätte diese Erinnerung eine Adagiostimmung in die Gesellschaft gebracht, und dies zu verhüten, wie mir schien, richtete Frau Ottilie von Goethe die Frage an mich: „Sie haben dem Vater recht interessante, auch für uns interessante Mittheilungen über Ihre und Ihrer Freunde Kunstthätigkeit gemacht; nun erlauben Sie mir eine Frage, die uns Frauen doch noch näher an’s Herz geht: wie leben Sie mit Ihrem Meister, ich meine, wie ist das allgemein menschliche Verhältniß zu ihm?“
„Wie das der Söhne zum Vater,“ antwortete ich. „Viele von uns fühlen sich geradezu als Familienglieder. Viele Abendstunden bringen wir in seinem Hause zu; die Kinder hängen an uns, als wären wir ihre Onkel; wir am Munde des Meisters, der mit wunderbarer Klarheit und Schärfe spricht, von Rom erzählt, von seinen Erlebnissen und seiner Bildungsgeschichte, von alten und neuen Meistern, von allem, was das Herz bewegt und den Geist erhebt. Wir hängen Alle an ihm mit der innigsten Verehrung. Da er zu seinem Namenstag (Ende Junius) immer in München war, so haben wir den Tag des H. Sylvester am Jahresschluß gewählt, um ihm ein Zeichen unseres Dankes zu geben. Da sind wir denn jedesmal mit Fackeln, Musik und Gesang vor sein Haus gezogen und haben unser Herz ausgeschüttet, und ganz Düsseldorf hat daran Theil genommen, als wären wir eine Familie. Und jetzt,“ fuhr ich fort, „ist doch dieses Band zerrissen: Cornelius ist fortgezogen; wir Alle ziehen ihm nach, weil wir uns ein Leben ohne ihn nicht denken können, und Düsseldorf wird sich an Andere anschließen, wie es sich an uns angeschlossen hat.“
„Noch eins,“ nahm Frau Ottilie wieder das Wort, „Sie erwähnen die Frau von Cornelius nicht. Sie ist eine Römerin; hält sie sich vielleicht zurück?“
„Durchaus nicht,“ erwiderte ich, „sie ist freundlich und gütig gegen uns Alle, namentlich gegen die näheren Hausfreunde. Sie ist eine glühende Römerin, hat aber doch Deutschland so lieb gewonnen, daß sie jetzt schon ganz leidlich deutsch spricht. Wir verehren sie als die Frau unseres Meisters, und als sie im letztvergangenen Mai von einem langwierigen und sehr gefährlichen Krankenlager erstanden, haben wir ihre Genesung mit einem Waldfest gefeiert, bei welchem es ungewiß bleiben muß, ob poetische Jugendlust, ob freudige Theilnahme oder der Frühling das Haupttriebrad war. Hatten doch Mehrere von uns zur heitern Verherrlichung dieses ländlichen Festes schnell das Reiten gelernt!“
Das brachte denn selbst meinen gestrengen Nachbar, den Hofrath Meyer, in eine heitere Stimmung. Bisher hatte er die feindliche Stellung, die er der neuen deutschen Kunst gegenüber eingenommen, wenn auch nicht aufgedeckt, doch behauptet. Ich weiß nicht, mochte ihm der Gedanke gekommen sein, daß doch nicht Alle, die der neuen Fahne folgen, zu den verhaßten „Nazarenern“ gehören dürften; mochten die letztern Mitteilungen ihn milder gestimmt haben – kurz, als jetzt Champagner eingeschenkt wurde, Goethe das Glas erhob und gegen mich gewendet sagte: „Lassen Sie uns auf das Wohl Ihres Meisters und einen segensreichen Erfolg seines Wirkens anstoßen!“ und nun Eckermann und mehrere der Nahesitzenden dem gegebenen Beispiele folgten, und da Goethe hinzufügte: „Grüßen Sie Ihren Meister herzlich von mir und sagen Sie ihm, daß mich Alles gefreut habe, was ich durch Sie von ihm und seiner Schule erfahren,“ wandte sich auch Meyer mit seinem Glase zu mir, stieß an und fügte – wie mir schien, in einem andern als dem bisher gebrauchten trockenen und harten Tone – hinzu: „Sagen Sie’s Ihrem Meister, daß ich mit Ihnen hier auf sein Wohl ein Glas Champagner geleert, ’s ist ernstlich gemeint!“ (was ich denn natürlich nicht nur versprochen, sondern auch gehalten habe.) Und so hatte es den Anschein, als ob es der Rede und Widerrede gelungen sei, Vorurtheile zu zerstreuen, wo sie am festesten Fuß gefaßt. Nach dem Dessert setzte sich Hummel an’s Instrument und gab dem kleinen Feste mit einer heitern und reichen Phantasie einen glänzenden Schluß.
Goethe hatte mir von seinem Teller eine kleine Paste mit einer Minerva gereicht, „zum Gedächtniß der Gottheit, in deren Tempel wir uns begegnet“; nach Tische aber sagte er: „Ich habe Ihnen ein etwas zerbrechlich Andenken geboten; es dürfte besser lassen, wenn ich es mit einem dauerhafteren begleitete.“ Und damit legte er eine Medaille mit seinem Bildniß (von Bory) in meine Hände.
Schon über Tische hatte es mich vielfach beschäftigt, wie ich mich wohl für so viel auszeichnende Güte dankbar beweisen konnte, [424] und so war ich auf den Gedanken gekommen, die Enkel Goethe’s zu zeichnen. Ich wandte mich deshalb an Frau Ottilie v. Goethe und fand für meinen Antrag die freundlichste Aufnahme; schon am nächsten Morgen konnte ich die Arbeit beginnen.
Der Aufenthalt in Weimar wurde je länger, je schöner. Durch Goethe hatte ich zahlreiche Bekanntschaften gemacht, deren Reihe sich wie von selbst vergrößerte, und ich genoß die gerühmte und mir aus früheren Zeiten wohlbekannte thüringische Gastfreundschaft von Neuem im vollsten Maße. Sollte ich sagen, wo ich am öftersten eingekehrt, so müßte ich vornehmlich Fräulein Seidler und Fräulein Julie v. Eglofstein nennen, Beide nicht nur heimisch in allen Kunstgebieten mit Herz und Sinn, sondern selber ausübende Künstlerinnen und Beide von Goethe hochgeschätzt. Große Gastfreundschaft erwiesen mir die Familien Coudray, Günther, Froriep, Röhr, Stark und viele andere.
Am 13. November war ich wieder zu Goethe an den Mittagtisch geladen. Diesmal war außer mir kein Fremder zugegen, als Oberbaurath Coudray und Eckermann.
Er hatte mich bitten lassen, die Zeichnung der „Theologie“ wieder mitzubringen, und noch einmal mußte ich vor der kleinen Versammlung über das Ganze wie über jeden kleinsten Theil ausführlich Rechenschaft geben. Die Scene steht noch vor mir in heiterer Erinnerung. Coudray mochte mehr das Ganze überschauen, während Eckermann zwischen jedem Strich den Stein der Weisen zu suchen schien. Frau Ottilie, die mit den Knaben herzugetreten war, wußte auf die liebenswürdigste Weise durch Fragen meine Beredsamkeit zu reizen, und Goethe, in besonders behaglicher und höchst gemüthlicher Stimmung, gab dem Gespräche mit Wort und Blick die Richtung und theilte, wie der Geber alles Guten, aus sonnenumglänztem Wolkensitz, mit würdevoller Freundlichkeit, Belehrung und Lob aus.
Coudray bekümmerte sich viel um das Technische der Frescomalerei, die ja damals erst wieder durch Cornelius in Deutschland in Uebung gebracht worden. Eckermann äußerte sich sehr erfreut darüber, daß von einem so kleinen Blatt, wie meine Zeichnung, so viel zu lernen sei, und frug, ob uns wohl überall Bildnisse zu Gebote gestanden hätten, was denn freilich, namentlich in Betreff der Evangelisten und Kirchenväter, verneint werden mußte. Bei historischen Gemälden, meinte er, komme doch sehr viel auf die historische Wahrheit an, weshalb er denn auch eine große Scheu vor Anachronismen und dergleichen Fehlern habe. An die Zusammenstellung von Heiligen aus verschiedenen Jahrhunderten habe man sich allerdings gewöhnt durch die Altargemälde; aber die Reformatoren in Einem Raum zu versammeln mit den Aposteln und Kirchenvätern, komme ihm doch gewagt vor; mehr aber noch, daß man durch die Arcaden des Saales in’s Freie und zugleich auf Rom, auf das Siebengebirg bei Bonn und auf Wittenberg sehe. Aber Goethe fiel ihm in’s Wort und sagte: „Die Herren in Düsseldorf scheinen sich an den Ausspruch Schiller’s zu halten: ,Die Kunst ist eine Fabel.‘ Und sie haben nicht ganz Unrecht! Es würde uns wenig von der Kunst übrig bleiben, wenn wir ausschließen wollten, was sich nicht fassen und begreifen läßt, wie das tägliche Leben.“
Frau Ottilie lenkte jetzt durch eine neue Betrachtung unter dem Beifall des alten Herrn das Gespräch auf eine andere Seite. „Sonst bei Gemälden,“ sagte sie, „bin ich gewöhnt, die dargestellten Personen in Beziehung auf einander zu sehen, unmittelbar oder wenigstens mittelbar. Hier sind so viele Männer in Einem Raum versammelt; hier und da sehe ich zwei, drei, vier zu einer Gruppe vereinigt, aber jede steht für sich, sie lesen und sprechen, ohne sich um den Nachbar zu bekümmern – und doch stört es mich nicht; ich finde es ganz natürlich. Das Bild kommt mir vor wie eine Bibliothek, in der Evangelisten und Kirchenväter, Protestanten und Katholiken mit ihrem ganzen geistigen Gehalt, gut eingebunden, friedlich neben einander stehen und ohne sich gegenseitig in ihren Gedanken zu unterbrechen.“
„Nun,“ meinte Goethe, „das läßt sich hören! Und wenn es sich denn einmal um Gedanken handelt in dem Bilde, so habe ich auch noch eine Frage an unsern jungen Freund. Sie haben mir,“ wandte er sich an mich, „Auskunft gegeben über die beiden Genien zu Seiten der allegorischen Mittelfigur. Ich sehe, daß sie Tafeln in ihren Händen haben. Bei den Evangelisten, den Kirchenvätern, bei Luther ist über den Inhalt der Bücher, die sie halten, kein Zweifel; aber was bedeuten die Tafeln ohne Inschrift in den Händen der geflügelten Knaben?“
„Es sind, wenn ich mich von meinem Besuch in Bonn her recht erinnere,“ nahm Eckermann das Wort, „Sprüche darauf geschrieben; doch weiß ich nicht mehr welche.“
„An den Tafeln,“ sagte ich, „hängt ein Stück lustiger Künstlergeschichte. Die Genien sollen die beiden Elemente der Theologie, Glauben und Forschen, repräsentiren. Um das deutlicher zu bezeichnen, hatte ihnen Hermann Tafeln in die Hand gegeben und Bibelsprüche darauf geschrieben. Auf der einen stand: ‚Selig die nicht sehen und doch glauben;’ auf der andern: ,Prüfet alles und das Beste behaltet.’ Ich weiß nicht, ob von katholischer oder von protestantischer Seite deshalb eine Mittheilung an’s Ministerium nach Berlin gemacht worden war; kurz Hermann bekam, ich glaube durch das Universitäts-Curatorium, den Auftrag, die Sprüche zu löschen. Er weigerte sich, weil, wie Ew. Excellenz eben auch bemerkten, es unverständlich, ja lächerlich herauskäme, wenn die Jungen leere Tafeln hielten. Man ließ es geschehen, bis vor Kurzem der Besuch des Königs von Preußen in Bonn angekündigt wurde. Daß er in die Aula zu gehen gebeten werden müßte, unterlag bei den Häuptern der Hochschule keinem Zweifel. Aber die bedenklichen Sprüche durfte er nicht finden. Der Auftrag sie zu löschen wurde wiederholt. Vergebens! ‚Ich kann meine eignen Gedanken nicht vernichten oder verstümmeln,‘ sagte Hermann. Täglich wurde nachgesehen: die Sprüche standen wie in Erz gegossen. Endlich am Tage der erwarteten Ankunft des Königs kam ganz früh schon Prof. d’Alton, und da er die Sprüche noch vorfand, stellte er ein Entweder Oder, das mich zu einem raschen Entschlusse brachte. ‚Wir können den König nicht zu Ihnen führen,’ sagte unser besorgter Freund, ‚wenn er nicht sieht, daß sein durch das Ministerium ausgesprochener Wille von Ihnen respectirt wird.‘ Hermann blieb unbeweglich. Der Moment war peinlich. Die Herren alle meinten es so gut mit uns, und andererseits war am Besuch des Königs so viel gelegen; auch wußte ich recht gut, daß Cornelius die Festigkeit in diesem Falle nicht gut heißen würde; ich sah Hermann fragend an. ‚Ich kann es nicht thun,’ sagte er. Das gab mir den Pinsel in die Hand, und die Sprüche waren verschwunden. Eine Stunde danach trat, begleitet von dem Curator und den Professoren der Universität, Friedrich Wilhelm III. ein und widmete der Betrachtung unsers Bildes etwa fünf bis sechs Minuten. Die gefährlichen Täfelchen schien er gar nicht zu bemerken, sonst hätte er wohl auch, wie Ew. Excellenz, gefragt: Warum steht nichts darauf? “
Die Geschichte schien Goethe zu belustigen. „Und doch,“ sagte er, „sind wir so oft genöthigt, das Gute fahren zu lassen, um das Bessere zu retten.“
Inzwischen hatte ich meine Mappe mit verschiedenen Bildnissen aufgeschlagen, und Goethe betrachtete sie mit psychologischem und ästhetischem Interesse. Unter diesen sah er plötzlich die Bildnisse seiner Enkel. Es war eine Ueberraschung (wir hatten ja hinter seinem Rücken operirt) und zwar eine gelungene; denn er hatte eine herzliche Freude daran, die sich steigerte, als ich ihn bat, die Zeichnung gütig von mir anzunehmen.[1]
Ich hatte bisher Goethe zuerst mir allein gegenüber gesehen, dann in festlicher, fast feierlicher Versammlung, dann wiederum als freundlichen Wirth unter zahlreichen Freunden und Verehrern; heut sollte ich ihn im trauten Familienkreise kennen lernen. Ueberall und immer derselbe, war mir’s doch, als ob jedesmal der Nachdruck auf einem andern Zug seines Charakters läge. Heute war es die Heiterkeit und gute Laune selbst und ließ sich ganz gehen. Mehr als bei dem festlichen Mahl zog er seinen Sohn in’s Gespräch; gegen die Schwiegertochter war er voll zarter Aufmerksamkeit und mit ihrer Schwester sprach er am liebsten im Tone des leichten, reizenden Humors; äußerst liebreich war er gegen die Enkel. Mich veranlaßte er vom Leben und Charakter der Bevölkerung des Niederrheins, ganz besonders aber von den Carnevalslustbarkeiten in Köln und Düsseldorf zu erzählen; dann lenkte er auf Baiern über, von dem er – „nach den Mitteilungen seiner [425] Freunde“ – im Gegensatz gegen die lebhaften Rheinlande wenig für die Kunst erwartete. „Inzwischen,“ sagte er, „viel kann ein Fürst mit energischem Wollen erreichen.“ Endlich kam er auf sein Lieblingsthema, die Farben, deren Anwendung, Zusammenstellung, Stärke, Mischung, Behandlung und selbst auf die verschiedenen Farbstoffe.
Nach Tische führte er mich noch zu verschiedenen seiner Sammlungen, namentlich den schönen antiken und mittelalterlichen Münzen. Plötzlich sagte er: „Ich will Sie doch noch was zeigen,“ (wirklich, so hat er’s gesagt!) und damit zog er aus einem Fach einige Blätter Radirungen nach Zeichnungen von Carstens. Ich weiß nicht, hatte er mir damit eine Freude machen oder blos wissen wollen, was ich dazu sagen würde, – sie blieben nicht lange Gegenstand der Unterhaltung, da ich sie zu wenig in Uebereinstimmung mit den Originalen fand.
Ich wollte nun Abschied nehmen; da aber Goethe hörte, daß ich den folgenden Tag noch in Weimar bleiben und erst am 15. abreisen würde, forderte er mich auf das Freundlichste auf, ihn noch einmal zu besuchen. Das that ich denn am 14. und ward von ihm mit der gleichen Herzlichkeit, wie bisher, empfangen. Es schien bei ihm Bedürfniß, dem Besuchenden entweder eine Freude zu machen, oder einen wo möglich sichtbaren Stoff der Unterhaltung zu bieten, und so hatte er denn eine Anzahl sehr kunstreicher Papier-Ausschneidereien von der Hand des Fräulein Adele Schopenhauer bereitgelegt und ging sie einzeln, unter Beachtung jeder Kleinigkeit daran, mit mir durch.
Unvergeßlich ist mir der Abschied, bei dem ich noch einmal die ganze Größe des Glücks empfand, in die unmittelbare Nähe dieses Genius gekommen zu sein. Als wäre er der Beschenkte, Bereicherte, sprach er zu mir; er forderte mich auf, ihm von Zeit zu Zeit zu schreiben, und indem er wie bei dem ersten Willkommen, aber noch viel herzlicher, meine Hand mit beiden Händen faßte, gab er mir nebst vielen freundlichen Grüßen seinen väterlichen Reisesegen.
Am 15. November war ich in Jena, am 17. schickte ich ihm das Bildniß seines Freundes Knebel, das ich für ihn gezeichnet. Mir war, als wäre ich vom Gipfel des Montblanc und der weitesten Umschau wieder herabgestiegen in engumgrenzte Thalgründe. Die Erinnerung aber an die Tage in der Höhe hat mein ganzes Leben durchleuchtet.
- ↑ Wolf und Walther v. Goethe sind gegenwärtig Kammerherren im Dienst des regierenden Großherzogs Alexander. Die von ihrem Großvater sorgfältig bewahrte Zeichnung haben auch sie aufgehoben und hatten sie, wie sie mir vor Kurzem freundlich versichert, sehr in Ehren. Aehnlich waren die Bildnisse damals, aber die jetzigen Kammerherren hätte ich freilich darnach nicht erkannt.