Ein Abend in Bremen und im Bremer Rathskeller
Fast zwei Jahrzehnte lang hatte ich Bremen nicht mehr gesehen. In einem solchen Zeitraume ändern sich in unserm Jahrhunderte Städte, deren geographische Lage und mercantilische Rührigkeit ein fortwährendes Wachsen bedingen. Das alte Bremen, der eigentliche Kern der Stadt, sieht heute gerade noch so aus, wie vor zwanzig Jahren. Einige wenige Neubauten ausgenommen, haben die alten schmalen Giebelhäuser ganz und gar ihre Physiognomie behalten. Nur kam es mir vor, als seien sie noch schöner mit Oelfarbe angestrichen, glänzten noch schmucker wie sonst und richteten an jeden Vorübergehenden die Frage: ob sie in ihrem alterthümlich koketten Style nicht ungleich verlockender aussähen, als ihre jüngeren sich viel moderner tragenden Schwestern. Außerhalb der längst abgebrochenen finstern Thore ist in den letzten zehn Jahren eine ganz neue Stadt aus der Erde gewachsen, die sich ausbreitet und vielleicht in abermals zehn Jahren den doppelten Flächenraum ihres gegenwärtigen Umfanges einnehmen wird. Zwischen diesem neuen, höchst eleganten Bremen, gemeinhin Vorstadt genannt, und der alten Stadt des merkantilen Verkehrs liegt der blumige, schattenreiche Wall mit seinen unvergleichlich schönen Anlagen, seinen Ruhebänken, lauschigen Plätzen und sanft im Lufthauche zitternden breiten Wallgraben, mit seinen anziehenden Denkmälern und hoch in die Lüfte greifenden Windmühlen, deren noch immer einige auf den höchsten Punkten vorhanden sind.
Der Abend hatte mich in den vielgekreuzten Straßen der weitläufigen Vorstadt überrascht. Die blanken Spiegelfenster der vornehm aussehenden Häuser, deren blumige Vorgärten durch reiche verzierte Eisengitter gegen die Straße abgesperrt werden, hielten mich fest, bis es dunkelte. Nachdenkend über die unbegrenzte Bremer Freiheit, deren Genuß ich mich in jenen Augenblicken behaglich hingab, schlenderte ich den Wall entlang, bis links die schlanke Spitze des in gothischem Style neuerbauten Stephanithurmes aus dem falbgrünen Laubwalde hervorblickte und der hier ziemlich breite Spiegel des Weserstromes unter mir sichtbar ward. Die graue Welle glimmerte noch matt im Abendrothe, das am westlichen Himmel wie ein verlöschendes Feuer flammte. Ueber der Stadt lag Dämmerung, nur um die Thürme, deren Zinnen leider nicht hoch [536] genug sind, um zu imponiren, leuchteten die letzten Funken den Tages. In den engen, langen Straßen war es auffallend still und wenig geschäftige Bewegung. Sie sahen merkwürdig sauber aus, so sauber, als würden sie allabendlich mit weichen Besen rein gefegt. Nur am Weserquai rollten noch Blockwagen mit Fässern und Ballen hoch beladen. Auch auf dem Flusse selbst gab es Bewegung, obwohl die Weser ihrer geringen Wassertiefe wegen bei Bremen selbst nicht den Eindruck eines belebten schiffbaren Stromes macht.
Mich dünkt, hier an der Wasserseite ist die Stadt bei Weitem am interessantesten. Die alten Giebelhäuser haben etwas Ehrwürdiges und Gemüthliches zugleich. Wohnungen und Balcons laufen über den tiefen Dielenräumen, die an die Comptoire stoßen, fort und gewähren freie Ausblicke auf die Weser, deren Ufer nur gar zu kahl sind, um dem Auge schmeicheln zu können. In den Comptoirs und auf den Lagerböden war noch nicht Feierabend. Ueberall wurde geschrieben, oft an sechs, acht Pulten, und es sah gar nicht aus, als könnten die fleißigen Arbeiter sobald der Erholung sich hingeben. Wahrscheinlich sollte noch eine überseeische Post mit Briefen versorgt werden.
Hier am Hafen nun ist Bremen auch erst ganz Bremen. Man spürt, wodurch es seine Wohlhabenheit erworben hat, welchen Artikeln es vor andern vorzugsweise seine Aufmerksamkeit schenkt, seine Thätigkeit zuwendet. Wohin man tritt, überall riecht es nach Tabak, und in der That ist Tabak ein Hauptartikel im Bremer Handel. Auf allen Straßen begegnen uns Blockwagen mit Tabaksballen. Die Leichterschiffe, welche von Bremerhaven kommend, am Quai anlegen, bringen Tabak. Wo eine Speicherluke sich öffnet und ein Tau herabrollt, da soll es unter hundert Fällen gewiß achtzig Mal um Tabaksfässer geschlungen werden. Daß der Tabakshandel Bremen ganz außerordentlich beschäftigt, hört man auch an dem Gespräch der Begegnenden, in Kaffeehäusern, Restaurationen und Weinstuben. Wohin ich immer kam, die Rede war allerwärts von Prima oder Secunda Brasil und Portorico, Beweis genug, daß dies Gesprächsthema einen sehr nahrhaften Gehalt haben muß.
Die Gaslaternen flimmerten an beiden Ufern des Flusses, hinter dem Dome trat die Mondscheibe hervor. Das steile Dach des Schütting am Markte und das alterthümliche Rathhaus mit seinem Säulengange, seinem Statuenschmuck und verschnörkelten Reliefs macht bei solcher Beleuchtung einen wunderbaren Eindruck. Hätte Bremen auch nichts, als dies schön erhaltene Rathhaus, diesen ganzen nicht eben großen und noch dazu nicht einmal ebenen Platz, es würde deshalb eines Besuches werth sein, wenn dieser auch von keinerlei Geschäft geboten wäre. Rathhaus, Schütting, Stadthaus, Börse und Dom nebst den gegiebelten Häusern am Markt und der imposanten Rolandssäule bilden ein so malerisch eigenthümliches Ensemble, daß man es stets im Gedächtniß behält. Ein gleiches Bild hanseatischen Baustyls hat weder Hamburg noch Lübeck aufzuweisen, wenn auch das Rathhaus der letzteren Stadt in seiner bizarren Styllosigkeit ebenfalls nicht ohne Reiz ist und eine der größten Sehenswürdigkeiten jener berühmten Ostseestadt stets bleiben wird.
Wenn es mehr als Barbarei wäre, verließe ein Fremder, den sein Glück nach Rom führte, die ewige Stadt, ohne den Papst gesehen zu haben, so würde man es jedenfalls wenigstens für arge Mißachtung halten, wollte man Bremen den Rücken kehren, ohne zuvor in seinem weltberühmten Rathskeller ein Glas ächten deutschen Rebensaftes auf deren ferneres Gedeihen geleert zu haben. Oft wird ein solcher Verstoß gegen die Sitte und die edelste Gabe des Bacchus wohl nicht vorkommen. Wer wirklich so ganz in sich oder in seine Geschäfte versunken sein sollte, daß er selbst nicht daran dächte, der wird daran erinnert werden beim Anblick des steinernen Roland, der mit gezücktem Schwert gleichsam Wache hält unfern des Einganges zum Keller und dessen jugendliches Gesicht ganz so aussieht, als habe er Wohlgefallen an den Gaben [537] des Bacchus wie an denen, die ihren Genuß zu würdigen wissen.
Der plattdeutsche Reimspruch auf dem Schilde dieses gewaltigen Roland, welcher im Jahre 1456 errichtet wurde und der Stadt 600 Thaler Gold gekostet haben soll, hat sich bis jetzt an Bremen bewahrheitet. Bremen hat seine Freiheit gerettet aus mancher Bedrängniß, und für den Hort und Beschützer dieser Freiheit gilt noch heute dem Volke die gebieterische Rolandssäule. Dem Volksglauben zufolge nämlich soll und wird Bremens Freiheit so lange fortbestehen, als der Roland auf dem Marktplatze sich erhebt, und es gibt – so versicherte man mir – gar viele Leute in der alten Hansestadt, die fest überzeugt sind, daß in einem geheimen Verschluß des Rathskellers ein kleiner Roland, dem großen steinernen vollkommen ähnlich, aufbewahrt werde, damit im Falle eines möglichen Unglückes dieser sofort hervorgeholt werden könne, um der Stadt Freiheit zu beschützen. Die erwähnte Inschrift auf dem mit dem deutschen Reichsadler geschmückten Wappen, das Roland in der Linken hält, lautet:
„Vryheit do ik nu openbar,
De Carel unn mannig Vorst vorwahr
Deser Stadt gegeben hat,
Des danket Gode is min rath.“
Lichtgeflimmer aus den halbverhüllten Fenstern, die wie Geisteraugen zur Erde heraufsahen, und lustiges Gläserklingen, verbunden mit frohem Gelächter, zogen mich magnetisch hinab in die geweihte Tiefe, in deren kühlen weindurchdufteten Räumen der frühverstorbene Wilhelm Hauff seine unvergänglichen Phantasieen von der Lippe des becherkredenzenden Gottes küßte. Wem der zahlreichen Leser dieser Blätter es gefällt, einen Ort kennen zu lernen, wo Jeder ungestört seinen Wünschen, Träumen und Gedanken nachhängen kann, um die Noth der Zeit, den Harm der ganzen Welt zu vergessen, der wolle jetzt mit mir die Stufen in den Bremer Rathskeller hinabsteigen. Ich kann freilich keine Hauff’sche Phantasieen vor seinen Augen entstehen lassen, wohl aber will ich versuchen, diese berühmten unterirdischen Räumlichkeiten zu schildern, wie sie wirklich sind. In unseren materiell gesinnten Tagen mißtraut man gar zu leicht auch der farbigsten Phantasie, darum wollen wir als echte Kinder der Zeit uns an das Greifbare halten. Vielleicht, daß dann in stiller Betrachtung desselben die Phantasie als Genius uns erscheint und um das irdisch Zerbrechliche eine immergrüne Ranke aus seinen überirdischen Zaubergärten schlingt.
Gegenüber der Börse, unter der letzten der vier Statuen, die auf dieser Seite zwischen den Fenstern des Rathhauses sich befinden und, wenn ich die verwitterten Schriftzüge an derselben richtig gelesen habe, griechische und lateinische Redner vorstellen sollen, führt eine nicht allzubreite Treppe hinab in den Keller. Sobald die Fallthür hinter uns zuschlägt, befinden wir uns in dem gewöhnlichen Besuchsraume. Links zwischen je drei nebeneinander liegenden großen Weinfässern sieht man schmale Bänke und breitere Tische von gewöhnlichem Holz. Sie entbehren jeder Zierrath und die Bänke mit ihren kurzen steifen Lehnen sind nichts weniger als bequem. Im Hintergrunde ziehen fünf oder sechs gewaltige Weinfässer durch die Malerei an ihren Bodenflächen die Blicke des Fremden auf sich. Eins trägt das Bremer Wappen, den Schlüssel, andere zeigen buntfarbige Landschaftsbilder. Es scheint indeß, als hätte man diese so farbig aufgeputzten Stückfässer nur zum Beschauen und gleichsam als Lockvogel hier in den Nischen aufgestellt, denn ihr Klang war ziemlich hohl. Das Gewölbe des Kellers ruht auf fünf oder sechs starken Säulen. Weiß glänzende Gasflammen funkeln da und dort unter dem Gewölbe und erleuchten den sehr umfangreichen Raum, der fast die ganze Länge des Rathhauses einnimmt, gerade so viel, daß nur gemüthliche Dämmerungshelle darin herrscht und zu vertraulichem Geplauder, zu behaglichem Genießen die Herabsteigenden einladet.
Rechts vom Eingange gibt es fünf oder sechs Verschläge mit [538] doppelten Zuschlagthüren. Ihr Inneres besteht aus einem langen schmalen Tische und zwei noch schmäleren Bänken. Diese Kammern, im Bremer Volksdialekte Priölken genannt, sind die eigentlichen Trinkstübchen. Es finden in jedem einzelnen derselben sechs, höchstens sieben Personen Platz, und es mag wohl selten ein Abend vergehen, wo sie ganz verlassen bleiben. Die Ansprüche moderner Genußmenschen, vulgo Schwelger, werden beim Eintritt in ein solches Priölken wahrscheinlich nicht befriedigt. Wir sind durch den übertriebenen Luxus, den man jetzt überall zum Schmuck des Lebens für unerläßlich hält, zu sehr verwöhnt, um gern auf schlichter Holzbank uns niederzulassen, wenn ganz in der Nähe weiche Polsterkissen zum dolce far niente oder zu sybaritischem Genusse einladen. Das Meublement der Priölken ist bäurisch roh. Den oft mit Wein überschütteten sehr massiven Tisch bedeckt kein weißschimmerndes Damastgewebe, die an der Wand hängende Speisekarte hat eine urweltliche Façon und bietet dem Gourmand gar keine Auswahl. Brod und Käse, Käse und Brod, Sardellen, einen Häring, vielleicht auch Caviar kannst Du bekommen, mehr aber wird nicht verabreicht. Dafür jedoch findest Du auf dem schwarzbraunen Getäfel des Tisches eine andere viel umfangreichere Karte, in welche Du Dich mit Vergnügen vertiefen wirst. Ausgebildeten Feinschmeckern soll es beim Durchstudiren dieser Karte passiren, daß sie unwillkürlich mit der Zunge schnalzen, den Mund spitzen und vor Erwartung der Seligkeit, die ihrer harrt, mit den Augen blinzeln. Ungezählte Glückliche haben dann, wenn der schnell herbeigerufene Kellner, der hier wirklich auf den Namen eines Götterboten Anspruch machen kann, mit einer entkorkten langhalsigen Flasche zurückkam, entzückt ausgerufen: Est! Est! Est!
Bekanntlich wird im Bremer Rathskeller nur Rheinwein geschenkt. Die jüngsten wie die ältesten Sorten, die gewöhnlich gangbaren und die seltensten Weine, alle in bester Qualität und zu einem civilen Preise, sind hier zu haben. Bremen macht es sich zur Ehre, nur Ausgezeichnetes den Besuchern seines berühmten Rathskellers zu verabreichen. Es ist daher sehr die Frage, ob irgendwo anders junge und alte Rheinweine besser oder überhaupt so gut zu haben sind, wie in diesen vom Roland behüteten Kellerräumen.
Gesellschaft zu finden in solchem Locale ist nicht eben schwer. Der gelblichgrüne Römer klingt so zutraulich lockend, der goldene Wein funkelt und duftet so verführerisch, daß es unmöglich wird allein zu bleiben. Es gibt kein wahreres Wort, als das vom Wein, den, um des Menschen Herz zu erfreuen, Allvater Noah nach glücklich überstandener Sündfluth eigenhändig pflanzte. Beim Wein will man sprechen und, wenn nicht auch sein ganzes Inneres profanen Augen enthüllen, doch erzählen, sich unterhalten. Dann duftet die Blume des Weines noch einmal so lieblich, und die geheimen Geister des Göttertrankes machen den Mund bereit und fordern auf zu Lust und Scherz. Es klang, wisperte, lachte und jubelte bald in allen Priölken. Der weite dämmerige Raum ward von den vermehrten Gasflammen immer heller, und als vom nahen Domthurme die zwölfte Stunde schlug, herrschte allerwärts die fröhlichste Stimmung.
Im Keller soll man trinken, aber stets mit Maß. Es bleibt immer ein unterirdischer Raum, in welchem der Erdgeist hauset, jener Geist, der dem Menschen gefährlich wird, wenn er sich selbst zu beherrschen vergißt. Sobald daher eine wohlthätige Wärme den Körper durchströmt, der Geist munter, die Füße wie beflügelt erscheinen, dann ist es Zeit sich am Schopfe zu fassen und sich selbst von der harten Holzbank, die uns schon von Eiderdaunen erfüllt dünkt, emporzuheben. Bliebe man länger sitzen und ließe sich etwa verleiten, nach der lieblichen Rebe, deren gekelterte Trauben den milden Saft der Liebfrauenmilch geben, noch den romantischen Berg bei Rüdesheim zu erklettern und dem verwandten Hochheim einen Besuch abzustatten oder gar auf Schloß Johannisberg sich zu verirren, so wäre es gar nicht unmöglich, der steinerne Roland tappte unvermuthet die knarrende Treppe herab und bäte sich zur Begrüßung des neuen Tages auch ein Deckelglas aus der Behausung des Erzschelmes „Judas Ischariot“ aus. Solcher Gefahr mochte ich mich nicht aussetzen, weshalb ich mich der heitern Gesellschaft anschloß, die unter Vortritt des leuchtenden Küpers sich anschickte, die verschlossenen Heimlichkeiten des berühmten Kellers genauer zu inspiciren.
Eine eisenbeschlagene große Thür, die wohl täglich oder allabendlich wißbegierigen Fremdlingen erschlossen werden mag, öffnet sich jetzt und führt uns zunächst in einen Seitenkeller, an dessen Wänden zu beiden Seiten je sechs Stückfässer liegen. Jedes dieser Fässer trägt den Namen eines Apostels, der mit großen rothen Buchstaben darauf verzeichnet steht. Auf die Frage, wie der geldgierige Verräther des Herrn, der mechante Judas Ischariot, unter die Apostel komme, und noch dazu den obersten Ehrenplatz einnehme, bleibt der lächelnde Führer uns die Antwort schuldig. Ein gemüthlicher Oesterreicher würde sich wahrscheinlich mit der Redensart „es ist halt so“ zu helfen wissen, und somit die Wahrheit des weisen mephistophelischen Wortes, daß, wo Begriffe fehlen, sich stets ein Wort zu rechter Zeit einstelle, auf’s Glänzendste erhärten. Genug, die schalkhaften alten Bremer – man sagt der Bremer Rath – die keine Feinde des Humors waren, und als echte derbe Niederdeutsche auch mit Eulenspiegeln dann und wann liebäugelten, haben sich erlaubt, Judas Ischariot unter die Apostel zu versetzen. Da oben, hart an der Wand, thront denn das ehrwürdige Faß. Den vermaledeiten Schelm, dessen Namen es trägt, mag nun zwar kein guter Christ, bekenne er sich zu Papst, Luther oder Calvin, leiden, den Wein aber, den es birgt, nippt man zuweilen gern. Es ist, wenn ich mich recht erinnere, Rüdesheimer vom Jahre 1718, also ein Getränk von ziemlich hundertundfünfzig Jahren. Dunkel von Aussehen und mehr scharf als lieblich von Geschmack, enthält dieser Judaswein doch ein merkwürdiges Feuer.
Wer sich verleiten ließe, viel, d. h. ein paar Römer davon zu genießen, könnte sich wohl in die Vorhöfe der Hölle versetzt fühlen. – Der Leib sowohl des Judas, wie der andern Apostel, wird nicht selten angezapft. Damit nun der darin enthaltene Wein nie verkostet werde, und immer gleich gut und frisch bleibe, und an Alter zunehme in’s Unendliche, füllt man es mit dem nächst alten Jahrgange desselben Weines stets vorsorglich wieder voll. Ein sogenanntes Weinverschneiden also findet in dieser soliden Rathskellerwirthschaft nicht statt.
Unmittelbar neben dem Kellerraume, wo die zwölf Apostel, profanen, aber erquickenden Geistes voll, lagern, befindet sich ein zweiter von gleicher Größe. Auch dieser öffnet sich nur auf besonderes Verlangen. Er birgt das edelste und seltenste Gewächs und zugleich den ältesten aller Rheinweine. Die Rose – so nennt sich diese Kellerabtheilung, von dem Gemälde an der Deckenwölbung, das eine in voller Blüthe prangende Centifolie darstellt – enthält Wein vom Jahre 1624. Um die Rose liest man folgendes Distichon:
Cur Rosa flos Veneris Bacchi depingitur antro?
Causa, quod absque mero frigeat ipsa Venus.
Zu Deutsch etwa:
Warum denn pranget in Bacchus Gewölb’ die Blume der Venus?
Nun, weil ohne den Wein Frösteln selbst Venus ergreift.
Auch an den Wänden finden sich Inschriften in deutscher und lateinischer Sprache. Die über der Thür befindliche sagt uns, weshalb die Rose in diesem Kellergewölbe abgebildet worden ist. Sie soll ein Sinnbild sein der Verschwiegenheit und allen denen, welche diesen Raum betreten, gleichsam zurufen, daß ein hier in glücklicher Weinlaune gesprochenes Wort nicht draußen auf dem Markt ausgeplaudert werden müsse. Die lateinischen Distichen an der einen Wand stellen die Behauptung auf, es möge dieser geweihte Raum nur alten Leuten erschlossen werden, junges Volk aber fern davon bleiben, und zwar deshalb, weil die Rose nur alte Weine enthalte und Bacchus ein alter Gott sei! – Man erzählt jedem Besucher, daß der in der Rose enthaltene Wein nur auf besondere Erlaubniß des Bremer Senates verkauft werden dürfe, und zwar blos an kranke und sehr hinfällige Personen. Diese Erlaubniß wird angeblich aber erst dann ertheilt, wenn ein ärztliches Zeugniß beigebracht werden kann. Ob man es wirklich immer so genau nimmt, möge dahin gestellt bleiben. Wenigstens ist die frühere Beschränkung, nach welcher auch der Zutritt in den Keller der Rose nur mit bürgermeisterlicher Erlaubniß gestattet ward, gegenwärtig aufgehoben.
Wer dem Bremer Rathskeller einen Besuch abstattet, möge nicht versäumen, auch das größere, dem Dome zugekehrte Gesellschaftszimmer zu betreten, und sich hier die sogenannte Flüsterecke zeigen zu lassen. Diese Stelle besitzt die Eigenthümlichkeit, daß man in ihr auch das leiseste Wort versteht, das an der entgegengesetzten Seite des Zimmers gesprochen wird.
Interessant und überaus lebendig, oft sogar zu geräuschvoll, soll sich der Verkehr im Keller am sogenannten „Freimarkt“ gestalten. [539] Dann füllen sich alle Priölken mit fröhlichen Zechern, sämmtliche Tische zwischen den Oxthoften und Stückfässern sind besetzt, und ein dichtes Gewühl schiebt sich ununterbrochen durch die geräumigen Gänge des weiten Raumes. An solchen Markttagen kann oft selbst die Verlängerung des eigentlichen Kellers, welche unter der Börse fortläuft, und an ihren ebenfalls zwischen gewaltigen Fässern placirten großen viereckigen Tischen Platz für ein paar hundert Gäste hat, die Menge nicht fassen. Dann spielt ein Musikcorps früh und spät bis tief in die Nacht hinein mitten im Qualm der rauchenden und lärmenden Menge. National- und andere Lieder werden angestimmt, und Alles athmet Lust und Fröhlichkeit. Es ist ein echt Bremisches Fest, wo Jeder genießen will und selbst ein Ueberschreiten der üblichen Grenzen nicht gerügt wird. Der Bremer Freimarkt gleicht in dieser Beziehung ganz dem Lübecker Weihnachtsmarkt, der ebenfalls die einzige Zeit im Jahre ist, wo der ehrsame Bürger ein wenig schwärmen und – findet er Vergnügen daran – auch tolles Zeug treiben darf.
Am äußersten Ende der erwähnten Kellerverlängerung, die mit ihren blitzenden Gasflammen einen sehr angenehmen Eindruck macht, und einem endlosen erleuchteten Tunnel ähnelt, hat gegenwärtig Bacchus auf einem der größten Stückfässer seinen Sitz genommen. Der muntere Gott lächelt fröhlich jedem Gaste zu, und streckt ihm einladend den hoch erhobenen Becher entgegen. Ihm zu Füßen ist ein allerliebster Sitz zum Träumen, zum Schwärmen und zu heiterm Gespräch. Gestört wird man hier für gewöhnlich nicht. Die Stimmen der Gäste im übrigen Keller brechen sich an dem endlosen Gewölbe. Das Klingen der Gläser surrt wie fernes harmonisches Getön, das ein phantasiereicher Kopf leicht für Geflüster der Geister halten kann, die hier ihr geheimnißvolles Wesen treiben. Nur von oben herab schallt dann und wann ein lauter Ruf, und das Gepolter der Welt, die über unserm Haupte die profane Klapper des Materialismus handhabt, der uns Alle beherrscht, wenn nicht gerade die Geister des Weines uns über das Flach-Alltägliche emporheben, erinnert uns an die irdische Unvollkommenheit.
Die rein gefegten Straßen der Stadt waren menschenleer, als ich gegen Mitternacht leichten Fußes und froh gestimmt die Treppe wieder hinan stieg. Eine weiche, helle, duftige Mondnacht blitzte über den spitzen Dächern der Häuser am Markt, und der klare Himmel mit seinen Sternen faltete sich wie ein dunkeler Baldachin um Dom, Rathhaus und Rolandssäule. Ein kurzer Gang in solcher Nacht durch die Straßen einer fremden Stadt ist immer belohnend. Er lehrt sie uns kennen im Schlummer, wie der Tag sie uns zeigt in der Thätigkeit des Wachens. Ich umwandelte den Dom, dessen bunte Fenster der Mond mit flimmernden Silberfunken bestreute. Da hob sich vor mir eine dunkele, colossale Statue auf einfachem Granitsockel. Die vier Laternen um die Statue beleuchteten weniger als das helle Mondlicht das Erzbild. Ich stand auf Domshaide neben der Statue des protestantischen Glaubensstreiters Gustav Adolph. Die Bremer sind zu beneiden um dieses prächtige Standbild, das die stürmische Nordsee an Helgoland’s Küste warf und das, da Schweden den verlangten Bergungslohn nicht zahlen wollte, für einige Tausend Thaler ein Eigenthun, Bremens ward. Das eherne Bild, die Linke an den Schwertgriff gelegt, sieht offenen Auges hinüber nach der Johanniskirche, welche den Katholiken gehört, während die ausgestreckte Rechte mit dem Zeigefinger auf den alten Dom hindeutet, als wolle sie sagen: hier ist der wahre Glaube, die geistige Freiheit und das Leben! Das Gustav Adolph-Denkmal, obwohl es in keiner besonderen Beziehung zu Bremen steht, gehört doch zu den schönsten Zierden der Stadt, und wer einen recht angenehmen Eindruck mit fortnehmen will, der sehe zu, daß es ihm gelingt, in stiller Mondnacht sein Auge einige Zeit auf dem Meistergebilde ruhen zu lassen.