Egeria
SAMMLUNG ITALIENISCHER VOLKSLIEDER,
AUS MUENDLICHER UEBERLIEFERUNG UND FLIEGENDEN BLAETTERN,
BEGONNEN
VON
WILHELM MUELLER,
VOLLENDET, NACH DESSEN TODE HERAUSGEGEBEN UND MIT ERLAEUTERNDEN ANMERKUNGEN VERSEHEN
VON
Dr. O. L. B. WOLFF,
PROFESSOR AM GYMNASIUM ZU WEIMAR.
LEIPZIG:
ERNST FLEISCHER.
1829.
[IV]
[VII]Das wehmüthige Gefühl, das sich meiner Seele bemächtigt, nun da ich die ganze Sammlung für den Druck fertig vor mir liegen sehe, und die Feder ansetze, um ihr einige Worte zur Begleitung mitzugeben, erlaubt mir nur mit wenigen Zeilen das Wichtigste, das hier besprochen werden muss, zu berühren; denn es dringt sich mir zu lebhaft der Gedanke auf: um wie Vieles besser und geistreicher würde nicht der liebe Verstorbene selbst diese, mit so viel Lust und Liebe von ihm begonnene, aber leider durch seinen zu frühen Tod zu schnell unterbrochene, Sammlung bei den Freunden italienischer Poesie und italienischen Volkes eingeführt haben!
In Allem, was Wilhelm Müller that, war ein überaus schöner, heiterer Ernst, der jeder Seite das Edelste abzugewinnen wusste, und es mit zarter Hand auf die ihm bestimmte Stelle führte. Er vergass nie den Gelehrten über den Dichter, nie den Dichter über [VIII] den Gelehrten. – Beide wandelten Hand in Hand, und zu ihnen gesellte sich die reinste Humanität, die das Beste hervorhob, wenn es gleich der Schutt von Jahrhunderten, oder, was noch schlimmer wirkt, Neid, Scheelsucht und Egoismus bedeckt hatten. Wohl und mit Recht, und wahrhaft ohne alle Uebertreibung, die dem Verstorbenen doch nicht nützt und dem Lebenden nur schadet, darf ich mit Klopstock ausrufen:
O schöne Seele, die ich mit diesem Ernst
So innig liebte! Aber in Thränen auch
Verehr’ ich ihn – –
Wilhelm Müllers ganzes Leben liefert den Beweis zu diesem Zeugnisse. –
So hatte er auch seinen Aufenthalt in Italien zwiefach benutzt, für die Wissenschaft und für das Leben. – Was ihm das letztere in diesem schönen Lande brachte, hat er seinen deutschen Freunden, und wahrlich Viele, sehr Viele waren ihm befreundet worden, wieder gegeben, und als ein theures Vermächtniss hinterlassen in dem 1820 erschienenen Buche: Rom, Römer und Römerinnen u. s. w., das ich wohl nicht weiter zu berühren brauche, da es Allen, die diese Blätter in die Hand nehmen, bekannt seyn wird. –
[IX] Die hier erscheinende Sammlung italienischer Volkslieder war von ihm als Supplement zu dem eben genannten Werke bestimmt. – Er hatte nur die ersten Lieder (ungefähr dreissig an der Zahl) ordnen können; alles Andere in dem mir von seinen Hinterlassenen anvertrauten Manuscripte bestand nur in Materialien zum künftigen Baue, und es fanden sich natürlich noch grosse Lücken, die ich, um ein Ganzes zu liefern, ausfüllen musste; was mir einerseits leicht ward, da ich selbst eine ziemlich reiche Sammlung von Volksliedern aller Art besitze, und mir liebe Freunde sehr gütig entgegenkamen, andererseits mich aber sehr bedenklich machte, indem ich es mir zur strengen Richtschnur gesetzt hatte, so viel wie es mir bei ungleich geringeren Kräften möglich war, in seinem Geiste fortzuarbeiten.
Die italienischen Volkslieder haben das mit den Einwohnern Italiens (ich rede hier nur vom Volke) gemein, dass sie beide nur gleich Ephemeren leben. – Nur das Gegenwärtige hat Reiz, und das Neue verdrängt das Alte. Wenn daher ein Lied sich länger erhielt, so verdankte es dies mehr einer gefälligen Melodie, als seinem Inhalte, der bei den meisten sich auch nur mit der Liebe beschäftigt. Die Volkslieder der Italiener weichen desshalb auch um desto mehr von denen anderer Völker, wie z. B. der Schotten, [X] Deutschen, Serben u. s. w., ab, da in dem zerstückelten Lande keine Thaten der echtesten Vaterlandsliebe mehr geschehen können, und also eine Hauptquelle für die Volkspoesie versiegt ist. – Dagegen aber erfreuen sie sich einer seltenen Unbefangenheit, eines schlagenden Witzes und eines ausgezeichneten Wohllauts. – Es kann jeder Augenblick neue gebären, die sogleich die Rechte der älteren erben, und nur solche, die für alle Zeiten treffend erscheinen, erhalten sich durch ihre tägliche Anwendung. – Dagegen sind sie aber auch ganz Volkseigenthum; der welsche Gelehrte bekümmert sich in seiner vornehm thuenden Pedanterie nicht um dieselben, und würde sich für sehr beleidigt halten, wollte man ihm zumuthen, sich mit der scienza plebea zu befassen; vom Volke bekommen sie ihr Daseyn, in ihm leben sie fort, bis andere sie ablösen.
Anders ist es mit den Volksbüchern. – Diese erhalten sich fort durch das Ausserordentliche, Uebernatürliche, Wundervolle, das grösstentheils ihren Inhalt ausmacht. – Der Italiener gleicht hierin einem lebhaften Kinde, dem das Alltägliche Langeweile macht; Vater, Mutter, und wer sonst sich mit ihm beschäftigt, soll ihm etwas Ausserordentliches erzählen, das seine ganze Phantasie aufregt, und ihr für längere Zeit Nahrung giebt. – Es hört dasselbe immer [XI] wieder gern von Neuem, denn es kann immer wieder neue Ideen daran knüpfen, wodurch der Grundstoff ihm nie veraltet. – So auch die Liebe des Italieners zu seinen Volksbüchern: Orfeo dalla dolce lira, I reali di Francia, Guercino il meschino, La crudele Violante, Bertoldo u. s. w., die alle das Kecke, Uebergewöhnliche, Wundervolle und Verwegenste mittheilen, und also immer ihm neue Nahrung für den hungrigen Geist geben.
Die Auswahl nun, sowohl aus den Volksliedern, als aus den Volksbüchern, war schwer. Nach dem Wunsche des Herrn Verlegers sollte das Ganze nur einen mässigen Band füllen. – Ich machte es mir daher zum Gesetze, Alles, was Müller gesammelt hatte, mitzutheilen, und aus den eigenen Vorräthen nur das Nöthige für die Ergänzung zu wählen. – Aus diesem Grunde habe ich das von dem theuren Verstorbenen Hinterlassene mit seiner Chiffre, das Uebrige mit der meinigen bezeichnet. – Die Erklärungen in reinem Italienisch rühren grösstentheils von mir her, da Müller, wahrscheinlich nur für sich, hin und wieder einige Erläuterungen an den Rand geschrieben hatte.
Zum bessern Verständnisse habe ich die Uebersicht für die Hauptabweichungen der verschiedenen Mundarten hinzugefügt, wobei mir Fernows vortreffliche Abhandlung in den „römischen Studien,“ und [XII] die von ihm gesammelten Schätze, welche sich jetzt auf der hiesigen Grossherzoglichen Bibliothek befinden, sehr zu Statten kamen. –
Schliesslich muss ich den freundlichen Leser bitten, so manches Irrige, das sich vorfinden kann, freundlich zu verzeihen. – Der gute Wille war mein Führer; aber bis jetzt hat mir das Schicksal noch nicht die Freude vergönnt, das schöne Italien zu besuchen. – Privatstudien mussten mir diese Entbehrung ersetzen; und so kann es leicht kommen, dass ich, wie jeder Autodidakt, Manches mit vieler Mühe Angeeignete hoch stelle, das ein Anderer gering achtet, weil er es spielend erwarb.
Weimar, am Sylvestertage 1827.