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Durchaus unpassende Geschichten

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Durchaus unpassende Geschichten
Untertitel:
aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 255-262
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Weltbühne, 2. Februar 1926
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Durchaus unpassende Geschichten

Wenn einer von Pariser Apachen zu schreiben beginnt, kann man darauf schwören, daß er aus Prag oder aus Charlottenburg stammt – es gibt auch Fälle der Idealkonkurrenz. Kommen solche Reporter nach Paris, dann ist kein Halten mehr; ihre Frechheit wird nur noch von der Dummheit ihrer Redakteure überboten, die diesen ausgemachten Lügenbrei über „Kokain auf dem Montmartre“, „In den Salons des Faubourg Saint-Germain“ und „Nachts auf La Vilette“ mit Behagen drucken. „Unser Publikum will das.“ Bedauerlich ist nur, daß dieser Kram einer anständigen Verständigungsarbeit zuwiderläuft – die verfälschten Berichte von den „japanischen Dirnen in Paris“, von den „Stadtgesprächen in London“, von dem gesamten verlogenen Stadtbild werden gelesen und, wenn sie illustriert sind, gefressen. Und sie bleiben haften – im Gegensatz zur Wahrheit, die grauer ist, nicht immer amüsant, manchmal langweilig. Aber das Paris der Schmöcke, das Paris Carl Sternheims gibt es nicht: die einen müssen mit ihren Unwahrheiten Zeilengeld verdienen, der andre verfällt in epileptische Zuckungen, wenn er nur auf der Gare du Nord ankommt – und alle drei beide soll der Teufel holen.

Wenn es schon schwer ist, die Verbrecher des eignen Landes wirklich zu kennen – um wieviel mehr wachsen die Schwierigkeiten für den Fremden, die Zuhälter und Dirnen und Einbrecher von Paris aus der Nähe zu betrachten, sie zu begreifen, sie nicht zu verkennen. Man müßte mit ihnen leben.

Ich habe einiges aus diesem Milieu gesehen, aber ich halte einen ephemeren Beobachter nicht für legitimiert, andres als nur kurze Eindrücke darüber auszusagen – denn ich muß mir so vieles erst mühsam übersetzen, was sie da heraussprudeln; [256] ich höre nicht die Unterschiede in den Dialekten der Arrondissements, und während ich ziemlich genau angeben kann, ob ein Berlinisch aus der Klosterstraße oder vom Wedding stammt, fehlt mir vorläufig eine solch genaue Kenntnis von Paris.

So kann ich nur sagen, daß mir die Schilderungen in einem Buch, das ich hier anzeigen will, nach allem, was ich gesehen und gehört habe, ziemlich richtig erscheinen, wenn auch um eine Kleinigkeit zu pointiert. Es handelt sich um „Histoires de Filles et d’Affranchis“ von Edouard Ramond (Les Editions de France, 20 Avenue Rapp, Paris). Schon für das Wort „Affranchis“ gibt es kaum ein deutsches Analogon. Es heißt nicht, wie im Lexikon steht: „Freigelassene“; es hat vielmehr den Sinn von „affranchi de préjugés“, einer, der über Gewissensbedenken hinaus ist, der den Rummel kennt, der weiß, was gespielt wird, etwa: „Der Junge ist richtig.“

Das Buch, das Geschichten aus dieser Sphäre enthält, ist von Francis Carco eingeleitet, dem Mann von „Jésus-la-Caille“, einem in Deutschland als Bibel gebundenen dichterischen Schmöker. Carco wohnt im ersten Stock, aber mit Mansardenfenster – er ist wohl einer jener nicht seltnen Fälle, wo das Publikum nach einem Anfangserfolg den Autor zwingt, nun ewig dieselbe Walze zu spielen. Will er Geschäfte machen, muß er es tun; und er tuts.

Carco sagt in seiner Einleitung etwas über die Seelen der „mecs“ (der Luden) und der „mômes“ (etwa: der Trinen, der Nutten). Von der gesellschaftlichen Struktur sagt er gar nichts, von den wirtschaftlichen Notwendigkeiten, die diese Zustände herbeigeführt und begünstigt haben, kein Wort; auch seine Kenntnis von den medizinischen Untergründen ist etwas kümmerlich. Man hat den Eindruck eines romantischen Stahlstichs, der eine amerikanische Automobilfabrik darstellt.

[257] Von den nun folgenden Geschichten sind viele auch nicht annähernd zu übersetzen; wie nicht ganz unbekannt, eignet sich die französische Sprache dazu, die unglaublichsten Dinge zu sagen, zu drucken, zu schreiben – nein, es ist nicht die Sprache. Es ist die Grundanschauung eines Volkes, das keine Brillen trägt, das nicht überall „Probleme“ und „Tendenzen“ sieht, sondern das natürlich geblieben ist. Keine Geschichte zwinkert, keine.

Es finden sich – wie bei Zille – schreckliche Inzestberichte, Bilder der grausigsten Familienprostitution, die ein klein wenig, ein ganz klein wenig moralisch-witzelnd herausgestellt werden; das unübersetzbare „Alors dis, môme, on s’mélange?“ ist natürlich auch da; merkwürdige Anklänge an die Kirche: Jesus spielt mitunter eine Rolle, zu der wir in der ganzen deutschen Literatur, außer bei Panizza, keine Analogie haben. Außerordentlich echt sind die Kleinbürgerlichkeit, die Wohlanständigkeit in den „Häusern“ getroffen, wo etwa beim Mittagessen eine der Damen ein hartes Fachwort oder „Merde!“ sagt und sofort der Herr oder die Frau des Hauses eingreift: „Sie scheinen nicht zu wissen, wo Sie hier sind …?“, und das ist durchaus keine Ironie. Die rohesten Witze der Päderastie sind in Formen gekleidet, die sie erträglich machen; und wer Franzosen kennt, weiß, daß diese „mots“ nicht erfunden zu sein brauchen. Der ganze Jammer enthüllt sich einmal in einem einzigen Satz, den ein Mädchen zum Kunden sagt. Sie sprechen vom Weibergefängnis in Saint-Lazare, das nun endlich aufgehoben werden soll. „Saint-Lazare! Saint-Lazare! vaut mieux que je te dise pas ce que c’est.“ Warum nicht? fragt er. „Parce que c’est tellement dégueulasse (abscheulich) que tu voudrais plus toucher aux femmes.“ Wie kann man die Männer so überschätzen … Und wie natürlich reagiert jene andre, die sich [258] über die harte Arbeit in einem Haus beklagt – nein, da kann sie nicht mehr bleiben. „Habt ihr denn so anspruchsvolle Kunden, Spezialisten …?“ wird sie gefragt. „Nein, das macht nichts“, sagt sie. „Aber das verfluchte Treppensteigen –!“

Ich habe versucht, ein paar Geschichtchen zu übertragen. Die Aufgabe ist nicht lösbar. Hochdeutsch gäbe es ein falsches Bild – denn dies Französisch steht in keinem Lexikon. Ein deutscher Lokaldialekt gibt ein falsches Bild – denn in dem Augenblick, wo die Anekdote berlinert, erweckt sie einen Haufen von Assoziationen, die nicht hergehören. Hier und da habe ich ein paar berlinische Ausdrücke gesetzt, nur um in Gänge zu gelangen, die unterhalb der offiziellen deutschen Grammatik entlanglaufen – und ich habe Berlin und nicht München oder Leipzig gewählt, weil es eine große Stadt mit den Ansätzen zu ähnlichen Schichten ist, wie sie hier geschildert werden. Eine Übertragung in Hamburger Platt käme der Sache gleichfalls nahe.

Die kleinen Anekdoten, die hier folgen, scheinen mir eine gute Eigenschaft zu haben. Mit Ausnahme von vielleicht einer oder zweien schmecken sie nach Wahrheit. Das kann man nicht erfinden.

* * *

Im Weibergefängnis Saint-Lazare herrscht Ordnung.

Eine ganz junge Gefangene, die man bisher zu den leichten Fällen zählte, bittet eines Morgens, dem Direktor vorgeführt zu werden.

„Nun, mein Kind, was gibts denn?“

„Herr Direktor,“ sagt die junge Person mit sanfter und leiser Stimme, „ich wollte Ihnen nur sagen: wenn die Schwester [259] Maria von den Heiligen Drei Engeln mich weiter so behandelt wie bisher, dann werde ich ihr wohl mein Kochgeschirr in die Fresse schlagen –!“

*

Auf dem Boulevard de Sébastopol bereden zwei Zuhälter, wie es so ist im menschlichen Leben.

„Mensch!“ sagt der eine. „Mir ist heute mächtig …“

„Und mir erst!“ sagt der andre. „Aber wie! Je crois que je serais capable de prendre un chien …“

Da geht die Sappho, ein weiblicher Knabe, vorbei und hat es alles mitangehört und sagt ganz leise:

„Wau-wau –!“

*

Carmen hat eine hübsche Stimme, und obgleich sie seit fünfzehn Jahren die Insassin vieler Häuser gewesen ist, ist sie so hübsch zurechtgemacht, daß sie allgemein verlangt wird.

„Du hast ja eine reizende Stimme“, sagt eines Tages ein Besucher zu ihr. „Warum bist du nicht zum Theater gegangen? Du hättest sicherlich Karriere gemacht.“

„Zum Theater? Ah, la la!“

„Warum nicht?“

„So siehst du aus, Kleiner!“ sagt Carmen. „Zum Theater? Das hätten meine Eltern niemals erlaubt!“

*

„Der Krieg? Sind die Weiber dran schuld“, sagte Niemen, der Boxer, verächtlich. „Ich wer dir das beweisen …“

„Nämlich?“

„Ich wer dir das beweisen“, sagte er. „Wie sie mobil gemacht haben, was haben die Mädchen da gesagt? Da haben [260] sie gesagt: Na, denn machs gut, Junge! Hier hast du noch Strümpfe mit und Schokolade und einen Füllfederhalter und ’ne Buddel von wegen innerlich zu gebrauchen! Nich wahr? So war das gewesen. Ohne die Mädchen wären wir niemals gegangen!“

„Wahrscheinlich!“

„Ja, nu stell dir aber mal vor, die Weiber hätten in die Generalpappkartonstraße gemußt. Hä? Was hättst du gesagt, wenn deine Trine auf ein Mal erzählt, sie muß zur Musterung? Nu sahre mal …!“

„Ich …“

„Also ich hätt ihr gesagt: „Marie, hätt ich jesacht, hau ab! Drück dich! Dicke Luft! Und da kannste Gift drauf nehmen: sie wärn alle hier geblieben –!“

*

Ich saß in der kleinen Bar, nachts; am Nebentisch ein Betrunkener, ein gutmütiger Kerl, der viel sprach. Er hieß Felix.

Nach einer einstündigen Verhandlung und je drei Schnäpsen wollte ich bezahlen. Felix warf sich förmlich über meine Brieftasche, aber nicht, um sie mir wegzunehmen.

„Pardon!“ sagte er. „Ich weiß, was sich gehört.“

Steht auf und geht zur Tür, öffnet sie, steckt zwei Finger in den Mund und pfeift. Pause …

Es erscheint eine Frau, dann noch eine.

Felix hebt den Daumen und deutet über seine Schulter auf die Untersätze, die auf unserm Tisch stehen, jede Frau legt stillschweigend einen Zehnfrancsschein auf die Theke, Felix nickt zur Tür hin, sie dürfen wieder gehen. Es wird kein Wort gesprochen.

Darauf Felix, zu mir:

„Et voilà, Monsieur, ça, c’est de l’amour –!“

*

[261] Frau Soundso ist nicht davon abzubringen gewesen, mit mir das aufzusuchen, was sie etwas pompös „die Lasterhöhlen der Großstadt“ nennt.

Man kann sich denken, wo wir hingegangen sind: ich führte sie in die besten Häuser an der Ecole Militaire und sagte, sie sei meine Sekretärin.

Alle Mädchen bemühten sich um uns, und es wurde ein reizender Abend. Alles sprach in gewähltem Ton, höflich; alle benahmen sich anständig, und wenn ein Mädchen einmal mit einem Klienten für kurze Zeit nach oben gehen mußte, dann verbeugte es sich erst vor meiner Dame von Welt und sagte:

„Sie gestatten doch, gnädige Frau –?“

*

„Gras-du-Genou“ war eine allererste Nummer. Als Soldat an der Yser und bei Verdun hat er die ganze Todesverachtung, die ganze Verve und das Draufgängertum gehabt, für die er in Belleville berühmt und berüchtigt war. Er ist gefallen.

„Seine“: eine kräftige blonde Person mit einem schweren Chignon, hochgeschnürt. Sie heißt allgemein „die spanische Fliege“. Zur Zeit sitzt sie im Frauengefängnis Saint-Lazare.

„Siehste,“ sagt sie während des Rundgangs auf dem Hof zu einer Freundin, „ich will nich mehr. Der da, das war meiner. Das war mein einziger; danach kommt nischt mehr. Dich hab ich gerne; ich mag sonst keine Frauen … aber du bist nicht wie die andern, deshalb erzähl ich dir das.

Also, wie ich in der Zeitung gelesen hab, daß man sich die aus den Soldatengräbern zurückholen kann, da hab ich bloß noch das im Kopf gehabt: ihn von da oben herbringen lassen, und denn mit ihm in einen Kirchhof bei Berry-au-Bac. Ja. Und dann wollte ich ihm ein schönes Grab spendieren. Aber [262] schnieke! Dazu brauchste Zaster, verstehste … Na, und du weißt doch, unsereiner kann sich nichts sparen..

Da hab ich versucht, ein Ding zu drehen … Wegen Pinkepinke. Ich hatte mächtjes Schwein: ich hab da einen Dummen gefunden, der hat eine dicke Marie bei sich gehabt … Dafür hab ich meinen gleich in Sarg packen lassen, un denn is er zurückgekommen, und denn hab ichn sein Grab bauen lassen … Aber knorke, sag ich dir! Mit ’ner großen Platte obendrauf, alles aus Marmor, do! so mit feinen Ketten und Blumentöppen and alles …

Der Kunde hat mich angezeigt. Sie konnten mir nischt beweisen, aber natürlich bin ich hochjegangen. Ich hatte mächtig ville Geld ausgegeben, aber es war doch noch was übrig jebliehm. Diß hab ich ins Grab jestochen. Diß finden se nich. Da könn se suchen, bis se schwarz wern. Na, und denn solln se man imma machn, det se hinjehn und sich den Zaster holn …

Er paßt auf.“