Dräger
[583] Dräger erzählt in seinem vor Kurzem erschienenen Buche: „Die Natur des Hochgebirges“ den s. Z. auch in einigen Zeitungen besprochenen entsetzlichen Tod den Doctor Bürstenbinder aus Berlin folgendermaßen: Eines Abends – es sind wohl nun 10 Jahre her – kam ein fremder junger Herr mit einem kleinen Knaben, der ihm als Wegweiser gedient hatte, in den Pfarrhof zu Gurgl (im Gurglthale in Tyrol) und bat den gastfreundlichen Curaten Bernhard Schöpf um Aufnahme und Verwendung, damit er des andern Tages Wegweiser erlange, um über den Ferner zu gelangen.
Beides wurde dem Fremden von dem menschenfreundlichen Curaten zugesichert, der die zwei besten Männer an Kraft und Führerkunde aus allen Männern von Gurgl auswählte.
Der Fremde und der Curat saßen bis zehn Uhr Abends an einem Tische in heiterem Gespräche beisammen, wobei der Curat von dem Fremden erfuhr, daß er der Dr. Bürstenbinder von Berlin sei, eine Unterhaltungsreise mache, in fremden Welttheilen gewesen und Verschiedenes erfahren habe. Er begab sich um fünf Uhr früh nach dem Ferner, begleitet von den zwei Führern Nikodemus Santer und Angelus Scheiber. Um sieben Uhr gelangten sie zum Ferner, wo sie sich während einer kurzen Ruhe labten. Der Fremde nahm nur ein kleines Stück Brod zu sich. Von da stiegen sie zwei Stunden lang den Ferner hinan und langten um neun Uhr am „steinernen Tische“ an. (Dies ist ein großer Moränenblock mitten auf dem Gletscher, gewöhnlich als Ruhepunkt benutzt.) Nach einer viertelstündigen Rast setzten sie sich nach Mitterkamp (einem schneebedeckten Abhange zur Rechten) in Bewegung. Bevor sie aber diese gefährlichn Strecke betraten, befestigten sich beide Führer mit einem fünf Klafter langen Stricke um die Mitte des Leibes und setzten sich der Art in Verbindung, daß, wenn einer in eine verborgene Kluft versinken sollte, der andere ihm helfen und ihn zurückziehen könnte. Die Führer boten die gleiche Vorsorge auch dem Fremden an, der solche jedoch ablehnte. Auch bestanden sie nicht auf der Ausführung ihres Rathes, weil nur die Vorangehenden diese Maßregel anzuwenden, die Nachfolgenden aber frei denselben Fußtapfen zu folgen pflegen. Die Führer gingen mit ihren breiten Bergschuhen voran; der Fremde, nur mit schmalen Stiefeletten bekleidet, folgte ihnen. Nach einer halben Stunde und bevor sie noch den Mitterkamp erreicht hatten, vernahm der zweite Führer Santer hinter sich plötzlich ein kleines Geräusch. [584] Er sah sich um und erblickte mit Entsetzen statt des Fremden, der ihnen bis dahin Schritt für Schritt gefolgt war, eine Oeffnung durch den Schnee in den Ferner hinein und nebenbei seinen Stock liegen. Schauder ergriff auch den ersten Führer, dem der Schreckensschrei des anderen das Unglück kund gab. Beide legten sich auf den Schnee nieder und riefen durch die grause Eiskluft hinab nach dem Fremden, den sie jedoch nicht erblicken konnten, weil, wie es sich in der Folge zeigte, die Kluft Anfangs bei sieben Klafter senkrecht hinab, dann schief einwärts lief. Der Fremde rief aus der tiefen Spalte zu den Führern empor, ob keine Hülfe möglich sei; jene entgegneten, daß sie das Aeußerste versuchen wollten, und fragten, ob er sich im Wasser oder wo er sich befinde. Er antwortete, daß er trocken, aber ganz eingezwängt in der Spalte des Eises stecke. Die Führer nahmen hierauf den Strick, mit welchem sie sich verbunden hatten, und senkten ihn in die Tiefe. Da aber dieser nicht zureichte und der Fremde versicherte, er sehe keinen Strick, so riefen sie ihm zu, daß er unter solchen Umständen nicht allsogleich gerettet werden könne, daß sie aber um andere Hülfe nach Hause eilen wollten und daß er sich inzwischen gedulden möge. Da ein Einzelner aus Besorgniß eines gleichen Schicksals sich nicht fortwagen durfte, so entschlossen sich beide Fübrer, rasch nach Hause zurückzueilen. Sie banden sich also wieder zusammen und sprangen bis zum steinernen Tisch zurück. Von dort ab war kein Eis, also keine Gefahr des Versinkens in die Klüfte; daher blieb Santer zurück und Scheiber lief nach Gurgl; um zwei Uhr Nachmittags langte Simon Santer, der Knecht des ganz erschöpften Angelus Scheiber, und Wendelin Santer, Bruder des obigen, mit Stricken bei dem steinernen Tisch an. Alle drei eilten nun vorwärts an die Stelle des Unglücks und schrieen hinab in den fürchterlichen Schlund des Eises. Nur mit äußerst schwacher Stimme erwiderte ihnen der Fremde, daß er noch lebe. Nun begannen die Versuche, den von halb zehn bis vier Uhr eingeklammerten Fremden zu retten, mit einer Aufopferung, einer Verachtung der Gefahr, wie solche wohl selten vorkommen dürfte. Nikodemus Santer band vorzüglich den mitgebrachten Strick seinem 24 Jahre alten Bruder Wendelin um die Leibesmitte und so wurde dieser in die Tiefe gesenkt. Nach sechs bis sieden Klaftern stieß er auf einen kleinen Eisvorsprung und faßte hierauf Fuß. Von dort schrie er zurück, daß er den Fremden nicht sehe und daß die Eisschlucht weiter hinab so eng sei, daß er dieselbe kaum zu befahren vermöge. Auf den Zuruf, beberzt vorwärts zu dringen, da es ja ein anderes Mittel zur Rettung nicht gebe, ließ sich Wendelin weiter in die Tiefe senken. Nach einer Versenkung von etwa funfzehn Klaftern (neunzig Fuß) schrie er, daß er den Fremden erfaßt habe; das Seil wurde hierauf angezogen, allein die Last war dem Retter zu schwer, der Unglückliche entfiel seinen Händen und Wendelin selbst prallte dabei mit beiden Knieen der Art an die Eisrisse an, daß ihm das Eis durch das Fleisch an die Knochen drang. Unfähig gemacht die Rettung auszuführen, langte er oben wieder an. Nun entschloß sich Simon Santer, das Wagestück zu bestehen: auch er ließ sich in die Tiefe senken und gelangte zu dem Fremden. Er band ihn am Arme an, allein beim Anheben hielt der Strick nicht fest. Simon wurde deshalb bis zu jenem Eisvorsprunge herausgezogen, wo er ausruhete; dann senkte man ihn noch zwei Mal hinab, allein vergebens. Auch er mußte zurückgezogen werden und brachte nur die Kunde mit, daß der Fremde zwar noch am Leben, aber schon ganz bewußtlos sei.
Nun entschloß sich auch Nikodemus Santer, das Möglichste zu versuchen; auch er passirte die gefahrvolle Schlucht, zwängte sich mit großer Anstrengung durch die enge Kluft. und es gelang ihm, den Fremden zu erreichen. Er schlang ihm ein Seil um einen Arm, schob das andere Ende um dessen Oberleib und bemeisterte sich seiner. Nun wurde der Strick auf den erfolgten Zuruf bis zum Vorsprunge angezogen. Dort angelangt, ließ Nikodemus den Fremden etwas mehr in die Höhe ziehen, um ihn erfassen und den Strick fester um seinen Leib schlingen zu können. Nunmehr wurde der Fremde allein in die Höhe gezogen, allein gerade an der Mündung der Kluft steigerte sich die Gefahr auf den höchsten Grad, denn die zwei Männer, welche den Strick anzogen und festhalten mußten, vermochten lange nicht, den Verunglückten auf die Oberfläche des Gletschers schaffen, und denselben am Rande der Schlucht zu erfassen. So schwankte er noch eine ewig lange Viertelstunde 7 Klaftern tief wie eine angezogene Glocke gerade über Nikodemus Santer, und drohete mit jedem Augenblicke sich abermals sammt diesem in die schauerliche Tiefe zu stürzen. Nach vielen Versuchen gelang es endlich den beiden Cameraden, den Körper des Fremden zu ergreifen, und auf die Oberfläche des Eisberges zu ziehen. Nun gelangte auch Nikodemus Santer herauf in Gottes freie Welt; der Zweck der Befreiung aus der Schlucht war erreicht und die Hoffnung, das menschenfreundliche Unternehmen durch den Erfolg belohnt zu sehen, war noch nicht geschwunden. Diese drei beherzten Männer begannen nun aber (es war beiläufig vier Uhr Nachmittags) den Fremden näher zu besichtigen, und fanden ihn zu ihrem Entsetzen ganz blau an den Händen und im Gesichte, beinahe erstarrt; nur ein leises Athmen war noch bemerkbar, er bewegte die Arme und die Augen in krampfhaften Zuckungen. Alle Versuche zur größeren Belebung blieben fruchtlos. Nach einem Aufenthalte von einer Stunde mahnte die Zeit zur Rückkehr. Nikodemus trug den Fremden auf seinem Rücken so fest gebunden, daß er sich in sitzender Stellung befand, um 61/2 Uhr erreichten sie den steinernen Tisch. Dort stellten sich bald die Vorboten der nahen Auflösung ein. Schon während der letzten Momente seines Lebens zog sich ein dichter und finsterer Nebel über die weiten Eisfelder herauf, die Führer waren noch vier Stunden weit von der Heimath auf dem hohen, lebensgefährlichen Gletscher. Unmöglich und bei unvermeidlichem Tode zwecklos war es, den Unglücklichen noch bei Nacht bis Gurgl zu bringen. Die Führer mußten nun auf ihre eigene Rettung denken, wenn sie nicht durch längeres Verweilen auf diesen unwegsamen Höhen dem sicheren Tode entgegengehen wollten. Sie hüllten daher den Entseelten in seinen Mantel und in ihre Mäntel sorgsam ein, und legten ihn neben einen großen Stein hin. Erst um 11 Uhr Nachts kamen sie ganz erschöpft zu Hause an.
Des anderen Tages, am Morgen, gingen 13 Mann von Gurgl an die bezeichnete Stätte, von wo sie den Verunglückten erst am Abend zurückbrachten. Bedauert von der ganzen Gemeinde, wurde er dort am 13. Juli beerdigt. – Solche Anstrengungen, Aufopferungen und Nächstenliebe hätte mit der Belebung des Verunglückten belohnt zu werden verdient. Es ist einem glücklichen Zufalle zuzuschreiben, daß sich gerade zur Zeit des erfolgten Unglückes der Beamte des 15 Stunden entlegenen Landgerichts Silz, Joseph Hörtnagl, in Gerichtsangelegenheiten nahe bei Gurgl aufhielt, durch welchen der vorerwähnte Thatbestand ganz umfassend aufgenommen wurde.
Nikodem, Wendelin und Simon Santer haben wegen ihrer Verdienstlichkeit bei der versuchten Lebensrettung des Dr. Bürstenbinder von ihrem Kaiser die große silberne Civil-Ehrenmedaille am Bande erhalten. Auch der König von Preußen hat sie durch ein Geschenk von je 20 Stück Ducaten belohnt.