Don Pedros Kopf
An einem schwülen Septemberabend des Jahres 1356 brach über Sevilla und dessen Umgegend eines jener Unwetter herein, von deren Heftigkeit sich nur die Bewohner südlicher Breiten einen Begriff machen können. Der Himmel glich mitunter einem einzigen Flammenbündel, durch das der ununterbrochen grollende Donner seine dumpf dröhnenden Schallwellen sandte, während Ströme von Regen wie der Anfang einer zweiten Sintflut aus diesen Feuergarben herabstürzten.
Zwei von ihrem Gefolge getrennte Jäger, die matten Pferde am Zügel hinter sich herziehend, stolperten einen steinigen Pfad hinab, der in vielfachen Windungen vom südlichen Abhang der Sierra Morena in das Tal des Guadalquivir hinabführte. Öfters hielten die Verirrten an, um in die nur durch die Blitze unterbrochene Dunkelheit zu lauschen. Aber alles schien auf Erden verstummt, um die gewaltige Stimme des Himmels zu hören. Endlich blitzte tief unterhalb des Standortes der Jäger ein heller Lichtschein auf. Auf diesen zustrebend, erreichten die müden, bis auf die Haut durchnäßten Wanderer ein kleines Pachtgut, neben dem der Guadalquivir seine hochgeschwollenen Wasser schäumend dahinwälzte. Ein einfach gekleideter Mann von vielleicht fünfundvierzig Jahren, mit scharfen, aber freien und offenen Zügen, kam ihnen, eine Kienfackel in der Hand, entgegen und geleitete sie mit höflichem Gruß bis zur Tür, wo ihnen dann ein junger Mensch, anscheinend der Sohn des Hauses, die Pferde abnahm und unter einen Schuppen brachte.
Wenige Minuten später befanden sich die beiden Jäger allein in einem kleinen Zimmerchen, um ihre nassen Kleider gegen die groben, aber sauberen und trockenen auszutauschen, die der vorsorgliche Wirt für sie herausgesucht hatte.
„Meinst du, Ferrand, wir wären von den Leuten hier besser empfangen worden,“ sagte jetzt der jüngere der beiden gutgelaunt, „wenn ich mich ihnen als ihr König zu erkennen gegeben hätte?“
„Vielleicht mit mehr Ehrfurcht, aber kaum mit mehr Herzlichkeit!“ erwiderte der graubärtige Graf Ferrand zustimmend.
„Eben diese Herzlichkeit erfreut mich. Ich habe häufig auf meinen heimlichen Ausflügen großen Vorteil aus dem Rate gezogen, den man dem Unbekannten gab, niemals aber aus den Schmeicheleien, die man dem Könige zollte. Ich will unseren wackeren Wirt zum Reden bringen. Also laß dir nicht anmerken, daß König Pedro von Kastilien unter diesem Dache weilt.“
Da der Kleiderwechsel beendet war, kehrten sie in das Wohnzimmer zu dem inzwischen aufgetragenen Abendessen zurück.
„Ich sehe nur zwei Gedecke auf dem Tisch,“ sagte Don Pedro zu Juan Pasquale, dem Pächter, als er kaum eingetreten war. „Habt denn Ihr und Eure Familie schon zur Nacht gegessen?“
„Nein, gnädiger Herr. Allein es ziemt sich nicht für unsereinen, sich neben so vornehme Herren zu setzen.“
„Vornehm ist der, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Und daher gehören wir zusammen um diesen Tisch,“ meinte der König herzlich.
Keine Widerrede half. Pasquale und die Seinen mußten neben ihren Gästen Platz nehmen, die dann den Speisen mit echtem Jägerhunger zusprachen.
„Meister Pasquale,“ begann Don Pedro während der Mahlzeit, „Ihr gefallt mir. Ich könnte Euch wohl eine gute Stelle am Hofe besorgen, wo Ihr nicht mehr nötig hättet, dem steinigen Boden hier mühsam Euren Lebensunterhalt abzuringen.“
„Ich danke, gnädiger Herr! Ich bin lieber der letzte der freien Bauern hier, als der erste der königlichen Diener. Außerdem – hier lebe ich in Ruhe und Frieden, und in Sevilla soll auf den Straßen niemand mehr seines Lebens sicher sein.“
Der König biß sich auf die Lippen und stellte sein Glas, ohne es geleert zu haben, wieder auf den Tisch. „Wer sagt Euch, Don Pasquale, daß es mit der Sicherheit in Sevilla so schlecht steht?“ fragte er.
„Alle sagen’s, alle wissen’s, gnädiger Herr, nur der nicht, der für das Leben seiner Untertanen sorgen sollte – der König.“
„Und weshalb mag er’s wohl nicht wissen?“
„Weil die, die nachts in den Straßen Sevillas Händel suchen und ihre Degen gegen friedliche Bürger zücken, zum Hofstaate des Königs gehören und der Oberrichter sie als seine guten Freunde ungestraft laufen läßt.“
„Also der Oberrichter tut nicht seine Schuldigkeit, meint Ihr?“
„Angeblich kann er die Verbrecher nie entdecken. Er will’s eben nicht! Der König sollte ihn nur für jeden Mord derart verantwortlich machen, daß der Oberrichter für die Entdeckung des Mörders mit seinem eigenen Kopfe haftet. Das würde schon helfen.“
„Aber da würde sich der Oberrichter für seine Stellung schön bedanken. Niemand möchte wohl unter der Bedingung das Amt übernehmen.“
„Jeder ehrliche Mann, gnädiger Herr.“
„Ehrlichkeit ist in unseren Zeitläuften eine seltene Ware,“ sagte lachend Don Pedro.
„Weil man sie in den Städten sucht.“
„Bei Gott!“ rief der König, „Ihr habt gewiß die Haupteigenschaft, die Ihr für die Stelle des Oberrichters fordert: rückhaltlose Offenheit und Ehrlichkeit. Ihr müßtet das Amt übernehmen!“
„Ihr scherzt, gnädiger Herr. Allein wenn ich von so hoher Herkunft gewesen wäre, daß ich ein solches Amt hätte erreichen können, so würde mich keine Rücksicht an der Erfüllung meiner Pflicht verhindert haben, und hätte ich dem verbrecherischen Treiben nicht vorbeugen können, so wären wenigstens die Schuldigen nach der Tat von mir verfolgt worden, gleichgültig ob sich’s um Baron, Graf oder König handelte.“
„Ihr sprecht mit ehrlichster Begeisterung, mein guter Meister Pasquale,“ sagte Don Pedro freundlich. „Wer weiß,“ fuhr er nachdenklich fort, „ob Ihr’s doch nicht noch bis zum Oberrichter bringt!“
Darauf erhob er sich, verabschiedete sich von den Wirtsleuten und suchte mit dem Grafen Ferrand die ihnen zugewiesene Schlafkammer auf.
Am folgenden Morgen hatte das Unwetter sich ausgetobt, und der König und sein Begleiter konnten ohne weitere Fährnisse den Rückweg nach Sevilla antreten.
Acht Tage später überbrachte ein Bote Juan Pasquale die Nachricht, er solle sofort vor dem König erscheinen. Verwundert folgte Juan dem Befehle, und nach scharfem Ritt langten die beiden spät abends vor dem Stadttor von Sevilla an. Dort harrte ihrer ein Offizier, der den Pächter nach der königlichen Residenz in ein prächtiges Zimmer geleitete, wo er ihm zu warten befahl.
Nicht ohne Unruhe sah Pasquale dem Kommenden entgegen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb Don Pedro ihn vor sich gefordert haben könnte. Aber stark durch die Überzeugung, nichts Übles getan zu haben, behielt er jene ernste, ruhige Fassung, die nur einem guten Gewissen entspringt.
Bald öffnete sich auch eine geheime Tür, und der Pächter sah sich einem seiner Gäste an jenem Gewitterabend gegenüber.
„Juan Pasquale,“ sprach Don Pedro wohlwollend, „Ihr erinnert Euch wohl noch der Unterredung, die wir in Eurem Hause beim Nachtessen führten, und die die Art und Weise behandelte, wie in Sevilla die Polizei gehandhabt werden müsse. Nun, ich bin der König, und von heute an seid Ihr Oberrichter von Sevilla. Aber wohlverstanden unter der Bedingung, die Ihr selbst für dieses Amt aufgestellt habt: Ihr haftet mit Eurem eigenen Kopf dafür, daß jeder Mörder entdeckt wird. Ich will den Bürgern meiner Hauptstadt durch Euch die Sicherheit wiedergeben.“
Darauf ließ Don Pedro die Beisitzer des obersten Gerichts herbeirufen.
Die Türen öffneten sich, und in ihrer Amtstracht erschienen vier ältere Richter, verneigten sich tief und verharrten in ehrfurchtsvollem Schweigen.
„Meine Herren,“ redete der König sie an, „Don Telesforo, der Oberrichter, hat bei verschiedenen Anlässen durch strafbare Nachsicht seine Pflicht schwer verletzt. Don Telesforo ist nicht mehr Oberrichter. Hier ist sein Nachfolger. Niemand soll es einfallen, etwa zu sagen, dieser edle Don Juan Pasquale besitze keine genügenden Kenntnisse, um ein solches Amt zu führen. Ich selbst, der König, habe mich davon überzeugt, daß er allein würdig ist, eine derart verantwortungsvolle Stellung einzunehmen. Jedes Haupt, das nicht fallen mag, bücke sich vor ihm! Ich selbst werde diesem neuen Oberrichter gegenüber allen ein Beispiel vertrauensvollen Gehorsams geben.“
Don Pedro winkte, und ein Diener legte in die Hände Juan Pasquales die Vara, den Stab der Gerechtigkeit, während ein anderer ihm den roten, mit Hermelin gefütterten Mantel, das Abzeichen seiner neuen Würde, umhing.
„Und nun, meine Herren,“ sagte Don Pedro verabschiedend, „gehen Sie und führen Sie Ihr neues Oberhaupt in sein Amt ein. Stehen Sie ihm bei in seinem schweren Beruf, lernen Sie aber auch von ihm seine beste Tugend: Offenheit und Ehrlichkeit!“
Im ersten Monat der Amtszeit Juan Pasquales war nur ein einziger Mord vorgefallen, dessen Verüber jedoch sehr bald gefänglich eingezogen und trotz seines edlen Namens und des großen Einflusses seiner Familie hingerichtet wurde. Dieser Fall gab einen hohen Begriff von der Unbestechlichkeit und Gewandtheit des neuen Richters.
Er hatte sein Amt damit begonnen, daß er fast sämtliche Polizisten entließ, da sie von den großen Herren bisher eine weit höhere Summe für ihr Blindsein, als vom Staate für ihre wachsamen Augen erhalten hatten. An ihre Stelle waren von ihm Bergbewohner seiner Heimat angeworben worden, die in kleinen Abteilungen jede Nacht die Straßen durchziehen und auf Ordnung sehen mußten. Weiter hatte Pasquale eine genaue Vorschrift für die ganze Stadt herausgegeben, wie jeder sich während der Nachtzeit auf den Gassen und Plätzen zu verhalten habe. Niemand durfte vor einer Tür oder einem Fenster längere Zeit stehen bleiben oder durch Lärmen die Ruhe stören. Ebenso war es verboten, fernerhin mit schwarzen Masken vor dem Gesicht nächtlich umherzustreifen.
Da eine Übertretung dieser Befehle mit schweren Strafen bedroht war, verwandelte sich das nächtliche Sevilla wie mit einem Schlage aus einer lauten, von Nachtschwärmern unsicher gemachten Stadt in eine friedliche, vornehme und ruhige Residenz.
In einer finsteren Novembernacht sah nun Antonio Mendez, einer der neuen Scharwächter, an einer entlegenen Straßenkreuzung einen in einen weiten Umhang gehüllten Mann auf sich zukommen. Der Unbekannte wollte, ohne Antonio weiter zu beachten, vorübergehen. Da trat plötzlich der Vollmond hinter einem der schwarzen Wolkenfetzen vor, die über den nächtlichen Himmel wie finstere Schatten dahinjagten. Bei dem silbernen Lichte, das jetzt die Straße erhellte, bemerkte der Wächter, daß jener einsame Wandler dem strengen Verbot entgegen eine das ganze Gesicht verhüllende Maske trug.
Antonio, der es mit seiner Pflicht sehr genau nahm, verstellte dem Unbekannten nunmehr den Weg, trotzdem jenem ein langer Degen an der Seite klirrte und sein reiches Federbarett darauf schließen ließ, daß er den vornehmen Ständen angehörte.
„Señor,“ redete er ihn an, „Ihr werdet entschuldigen, wenn ich Euch mit aller Achtung, die ich vor Euer Gnaden habe, darauf aufmerksam mache, daß nach neun Uhr abends niemand mehr mit einer Maske die Straßen Sevillas passieren darf.“
„Wer bist du?“ fragte der Vermummte stolz, indem er die Rechte leicht auf den Korb seines Degens legte.
„Ich bin Antonio Mendez, einer der Alguazils, und zwar bestellt für das Viertel der Giralda.“
„Nun, Antonio Mendez, so gehe schleunigst deiner Wege und laß mich ungeschoren!“
Damit wollte der vornehme Herr eiligst weitergehen.
„Halt!“ rief der Wächter streng und faßte den anderen an einem Zipfel seines Mantels. „Ich fordere Euch auf, ungesäumt die Maske abzunehmen und mir auszuhändigen – im Namen des Oberrichters!“
Da riß sich der Unbekannte heftig los. „Gib Raum, Antonio Mendez,“ rief er drohend und lockerte seinen Degen in der Scheide.
„Zwingt mich nicht, Gewalt zu gebrauchen,“ warnte der Wächter.
„Gegen mich!“ sagte spöttisch der Kavalier.
„Gegen Euch so gut wie gegen jeden, der den Befehlen des Oberrichters nicht gehorcht,“ entgegnete Antonio gereizt, indem er das um seinen Hals an einer Schnur hängende Signalhorn zur Hand nahm, als ob er die nächste Wache zu seiner Hilfe herbeirufen wollte.
Mit einem blitzschnellen Griff hatte der Maskierte, der die Dazwischenkunft weiterer Alguazils fürchten mochte, dem ebenso unerschrockenen wie hartnäckigen Antonio das Horn entrissen und es über die nächste Mauer in einen Hof geschleudert.
Jetzt aber war des langmütigen Wächters Geduld erschöpft. Hart packte er den Frechen, der derart das Gesetz zu verhöhnen wagte, an der Schulter. Der Vermummte wehrte sich, und ein lautloses, aber desto erbitterteres Ringen begann in der dunklen Gasse, die der längst wieder von Gewölk verdeckte Mond nicht mehr in sein mildes, friedliches Licht tauchte.
Am nächsten Morgen erhielt Juan Pasquale zu ungewöhnlich früher Stunde den Befehl, sofort vor Don Pedro zu erscheinen, und als er das Gemach [186] des Königs betrat, kam ihm dieser mit finsterer Miene entgegen.
„Herr Oberrichter,“ begann der jugendliche Herrscher, dessen Charakter aus den seltsamsten Widersprüchen zusammengesetzt war, „in der letzten Nacht ist in der Candilstraße ein Mord verübt worden. Euch dürfte das bekannt sein – nicht wahr?“
„Ein Mord? Nein, ich weiß noch nichts davon.“
„Da scheinen Eure Wächter ja bereits sehr in ihrem Pflichteifer nachgelassen zu haben.“
„Die Vorfälle der Nacht werden mir gemeldet werden, sobald ich wieder daheim bin,“ erklärte Pasquale ohne jede Empfindlichkeit.
„Ich wünsche binnen drei Tagen Bericht von Euch darüber, ob der Mörder entdeckt ist,“ sagte hierauf Don Pedro kurz und entließ den Oberrichter.
Dieser war kaum zu Hause angelangt, als auch schon mehrere Alguazils auf einer Bahre einen verhüllten Leichnam in den Hof trugen. Der Führer der Wächter berichtete, eine Patrouille sei vor etwa zwei Stunden durch die Candilstraße gekommen und dort auf die Leiche des Wächters Antonio Mendez gestoßen. Der Körper des Toten weise eine tiefe Stichwunde mitten in der Brust auf. Von dem Mörder habe man keine Spur gefunden, und auch die Nachfragen in den umliegenden Häusern seien ohne Erfolg geblieben. Niemand habe in der Nacht auffallenden Lärm oder sonst etwas Besonderes bemerkt.
Als Juan Pasquale nach drei Tagen wieder vor Don Pedro erschien, um ihm die befohlene Meldung zu machen, empfing ihn der König mit einem nichts Gutes verratenden Lächeln.
„Nun, Herr Oberrichter, wo habt Ihr den Mörder?“ fragte er.
„Es ist mir noch nicht gelungen, ihn zu entdecken,“ war die offene Antwort.
„Und Ihr habt auch keine Spuren gefunden, die Euch auf die Person des Täters hinführen könnten?“
„Bisher nicht.“
„Nun, Herr Oberrichter, so gebe ich Euch noch eine Woche Zeit,“ sagte der König. „Ist der Mord bis dahin noch nicht aufgeklärt, so fällt Euer Kopf! Ihr kennt ja die Bedingungen, unter denen Ihr Euer Amt übernommen habt.“
Damit war Juan Pasquale entlassen.
Sinnend schritt er durch die Straßen dahin. Er ahnte, daß die Höflinge, denen er mit seiner Unbestechlichkeit und strengen Gerechtigkeitsliebe ein Dorn im Auge war, Don Pedro gegen ihn aufgehetzt hatten, und daß der wankelmütige Sinn des jungen Herrschers längst vergessen hatte, welche Vorgeschichte die Ernennung seines neuen Oberrichters gehabt. Trotzdem war Pasquale keineswegs mutlos.
Wieder stand der Oberrichter vor seinem König.
„Nun,“ fragte dieser kalt, „wißt Ihr Neues über den Fall Antonio Mendez?“
„Ich kenne den Mörder,“ entgegnete Juan Pasquale.
Für einen Augenblick herrschte tiefe Stille in dem Gemach. Dann fragte der König weiter: „Und wer ist’s?“
„Ihr selbst, Don Pedro, König von Kastilien!“
„Habt Ihr Beweise?“ entgegnete der also Beschuldigte, der diese Antwort erwartet zu haben schien, höhnisch.
„Ich habe,“ erwiderte der Oberrichter, „mir die Frage vorgelegt, woher wohl Ihr selbst an jenem Morgen, als Ihr mich rufen ließet und mir von dem Verbrechen in der Candilstraße Nachricht gabt, schon zu so ungewöhnlich früher Stunde etwas davon erfahren haben könntet. Diese Frage erschien mir bedeutungsvoll genug, ihr mit aller Vorsicht, um Eure hohe Person nicht irgendwie bloßzustellen, auf den Grund zu gehen. Ich forschte Eure Dienerschaft in meiner Eigenschaft als Oberrichter aus und erfuhr so, daß Ihr in jener Nacht Euren Palast ohne Begleitung verlassen hättet. Weiter brachte ich heraus, daß Ihr in letzter Zeit häufig dem in der Candilstraße wohnenden Don Estreso nächtliche Besuche abgestattet habt. Die Möglichkeit, Ihr selbst könntet damals durch die betreffende Straße gegangen und dabei mit Antonio Mendez in Streit geraten sein, lag hiernach schon vor. Nun wurde zudem, wie Euch bekannt sein dürfte, das Signalhorn des ermordeten Wächters in einem mit einer Mauer umfriedeten Hofe gefunden, der dicht bei der Mordstelle liegt. An dem Haken dieses Hornes, der die Schnur zum Umhängen hält, hatte ich bereits am Tage nach dem Verbrechen ein Stück feiner, seidener Spitze entdeckt, das nur von dem Ärmelbesatz eines vornehmen Herrn herrühren konnte, und nach meiner Überzeugung dem Mörder beim Ringen mit seinem Opfer abgerissen worden war. Und dieses Stückchen Spitzenbesatz gehört zu demselben Gewand, das Ihr, Don Pedro, in jener Nacht nach der Aussage Eurer Diener getragen habt. Weiter stellte ich fest, daß keiner Eurer Bedienten und auch sonst niemand, mit dem Ihr an dem Morgen nach jenem Morde zusammengekommen wart, Euch etwas von dem verabscheuungswürdigen Vergehen erzählt hatte, auch nichts erzählt haben konnte, da nur meinen Wächtern das Geschehene bekannt war, und die Tat sonst keine Zeugen gehabt hatte. Woher also stammte Eure Wissenschaft – Die Antwort war hiernach gegeben: Ihr selbst hattet mindestens mit eigenen Augen gesehen, daß Antonio Mendez erstochen wurde, hattet es gesehen und doch keine Anzeige erstattet, zu der Ihr als König mehr denn jeder andere verpflichtet gewesen wäret! Und nun frage ich Euch, Don Pedro, auf Ehre und Gewissen: wenn Ihr selbst all dieses Belastungsmaterial gegen einen Mann zusammengetragen hättet, würdet Ihr diesen so schwer Verdächtigten nicht auch für den Täter halten?“
Don Pedro schaute finster zu Boden. Er schien mit sich zu kämpfen. Dann aber sagte er fest: „Ja, ich habe den Wächter getötet, aber nicht wie ein feiger Meuchelmörder, sondern in gesetzlicher Selbstverteidigung.“
„Es gibt keine gesetzliche Selbstverteidigung gegen einen Diener der Gerechtigkeit, der in Ausübung seiner Pflichten handelt!“
„Er trat mir in den Weg, weil ich eine Maske trug. Das ist richtig.“
„Also wußtet Ihr, daß Ihr Euch der Ausübung eines Gesetzes entgegenstelltet, das Ihr selbst genehmigt habt. Euer königlicher Rang, weit entfernt in diesem Falle eine Entschuldigung zu sein, hätte Euch belehren müssen, daß, je höher Ihr steht, um so erhabener Euer Beispiel sein sollte.“
Der König, getroffen von der Wahrheit dieser Worte, verharrte in finsterem Schweigen.
„Ich fordere Euch hiernach auf, Don Pedro von Kastilien,“ fuhr der Oberrichter würdevoll fort, „Euch morgen mittag auf dem Platze der Giralda einzufinden, um dort das Urteil zu vernehmen, das die Gerechtigkeit über Euch auszusprechen für gut finden wird.“
Die Hand Don Pedros zuckte nach dem Degen. Aber unter den auf ihn gerichteten ehrlichen Augen Juan Pasquales wandelte sich der Grimm bald in Bewunderung. Das Bewußtsein, in diesem unerschrockenen Richter einen seltenen Charakter entdeckt zu haben, ward um so stärker in Don Pedro, als er sich sonst nur von schmeichlerischen Höflingen umgeben sah, die dieser einfache Mann in seiner schlichten Größe weit an wahrem Wert überragte.
„Ich werde Eurer Vorladung Folge leisten, Herr Oberrichter,“ sagte er. „Ihr habt Euren eigenen König besiegt. Was Ihr mir vorwerft, ist berechtigt.“
Die Nachricht von diesem sonderbaren Vorgang hatte sich wie ein Lauffeuer in ganz Sevilla verbreitet. Die Vorladung des Königs vor das höchste Gericht, deren Ergebnis niemand voraussehen konnte, der Gehorsam Don Pedros gegen einen seiner Beamten, ganz besonders aber die Frage, in welcher Weise Juan Pasquale von dem königlichen Angeklagten Sühne verlangen würde – all das rief die lebhafteste Spannung hervor.
Schon von Tagesanbruch an versammelte sich eine ungeheure Menschenmasse auf dem Platze der Giralda, wo auf einem erhöhten Gerüst hinter einem schwarzverhangenen Tische der Gerichtshof Platz nehmen sollte, während rechts davon eine Holzstatue stand, die mit den Insignien des Königs bekleidet war und deren Gesichtszüge eine deutliche Ähnlichkeit mit denen Don Pedros zeigten.
Pünktlich zur Mittagstunde erschien zuerst der Gerichtshof in voller Amtstracht, umgeben von der Leibwache des Oberrichters, dahinter der Henker mit seinen Gehilfen. Mit ehrfurchtsvollem Schweigen empfing die Menge den Zug. Kaum hatten die Richter auf der erhöhten Bühne Platz genommen, als auch schon der König in Begleitung von zwei unbewaffneten Höflingen den Platz betrat. Man hatte allgemein erwartet, Don Pedro würde eine große bewaffnete Macht mit sich führen. Wie er nun so ohne alles Gepränge nahte, begrüßte ihn sein Volk mit jubelndem Zuruf, wie ihn Don Pedro noch nie so begeistert und anhaltend gehört hatte.
Aber ein dumpfer Trommelwirbel gebot Schweigen, als der König die Stufen zu dem Gerüst emporstieg.
Der Gerichtshof hatte sich von seinen Sitzen erhoben, als Don Pedro vor den schwarzverhangenen Tisch hintrat.
„Ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid, Don Pedro von Kastilien,“ sprach Juan Pasquale mit weithin vernehmbarer Stimme. „Und ebenso werden Euch alle Eure Untertanen Dank wissen, weil Ihr Euch ebenso der Gerechtigkeit beugen wollt, wie der geringste Bettler es tun muß.“
Wieder lief lautes Beifallsrufen durch die Massen der Zuschauer wie das Branden einer starken See.
„Don Pedro von Kastilien,“ fuhr der Oberrichter fort, „Ihr seid angeschuldigt und überwiesen, an der Person des Scharwächters Antonio Mendez, während er sein Amt ausübte, einen Mord begangen zu haben. Und dieses Verbrechen verdient nach dem einmütigen Ausspruch des Gerichts – den Tod.“
Lautlose Stille folgte. Aller Augen waren auf den König gerichtet, der in zwangloser Haltung, aber bleichen Antlitzes dastand.
„Ich spreche folglich,“ fuhr Juan Pasquale nach kurzer Pause fort, „über Euch das Todesurteil aus. Da aber Eure Person geheiligt ist und niemand außer Gott, der Euch die Krone aufs Haupt setzte, Hand an dieses Haupt legen darf, so soll dieses Urteil an Eurem Bilde vollzogen werden. – Henker, tue deine Pflicht!“
Ein Schwertstreich – und der Kopf der mit den königlichen Insignien geschmückten Holzstatue fiel dumpf polternd auf das Gerüst herab.
„Jetzt,“ sprach Juan Pasquale weiter, „Soll dieses Haupt an der Straßenecke, wo Antonio Mendez getötet wurde, während eines Monats aufgestellt bleiben zur Erinnerung an einen König, der selbst gegen seine eigene Person der Gerechtigkeit freien Lauf ließ. – Ihr aber, Don Pedro, möget nunmehr in Euren Palast zurückkehren. Die Gerichtsitzung ist aufgehoben.“
„Halt!“ rief da der König, sich an das Volk wendend. „Hört, ihr Bürger von Sevilla, was ich euch noch zu sagen habe. – Juan Pasquale, würdiger Oberrichter, tretet hier neben mich und reicht mir die Hand. Ich habe eingesehen, daß ich die Leitung meiner Rechtspflege in der Tat keinem Würdigeren als Euch übertragen konnte. Ich bestätige Euch also in dem Amt, daß Ihr bisher so treu und unparteiisch verwaltet habt. Euer Spruch ist gerecht. Er werde vollzogen, wie Ihr befahlt, nur soll an jener Straßenecke mein in Stein ausgehauenes Haupt für alle Zeiten ausgestellt werden, damit die Nachwelt stets an den Gehorsam erinnert sei, den jeder, ob König oder Knecht, dem Gesetze schuldig ist!“
Noch heute kann man an der Ecke der Straße del Candilejo in Sevilla einen in einer Nische stehenden, aus Marmor gemeißelten Jünglingskopf sehen, von dem das Volk versichert, daß es derselbe sei, der im Jahre 1357 auf Geheiß König Pedros von Kastilien dort aufgestellt wurde.