Die verlorene Tochter
Die verlorene Tochter.
Kutscherchen, der Braune spitzt immer so verdächtig die Ohren. Sehen Sie doch einmal nach, was ihm fehlt!“
„Dem Braunen fehlt gar nicht, Madamken, er hat bloß de Fliegen zu viel.“
„Aber wenn ein Pferd die Ohren spitzt ... man sagt doch, das sei ein Zeichen, daß es durchgehen will.“
„Der Braune geht nich durch, Sie können ihm noch en gutes Wort geben. Er is stockblind – es liegt nich in seine Gewohnheiten.“
„Blind! Aber dann sieht er ja gar nicht!“
„Wat braucht er auf de glatte Schosseh zu sehen? Hüh!“
„Schlagen Sie ihn doch nicht!“
„Ik kitzele ihm man de Fliegen weg. Haben Sie keene Sorge.“
„Ich bin so ängstlich beim Fahren!“
Diese Unterredung wurde zwischen einer ältlichen Dame, die auf dem mittleren Sitz eines Kremsers zwischen zwei jüngeren Damen saß, und dem Rosselenker gepflogen, der vorn rechts die Schulter gegen die Verdeckstange lehnte und das Bein über das Querbrett des Wagenkastens ausgestreckt hatte, während die Zügel lose in seiner linken Hand hingen und die Peitsche in seiner rechten von Zeit zu Zeit über die knochigen Rücken der beiden „Andalusier“ hintupfte. Sie sahen nicht danach aus, als ob sie der Haber stäche, im Uebermut mehr als notdürftig ihre Pflicht zu thun. Es wäre bei dieser Julihitze nachmittags zwischen drei und vier Uhr auch selbst für einen Pferdeverstand zu unvernünftig gewesen. Aber die alte Dame – man konnte sie trotz der frischen Farben ihres gutmütigen Gesichts schon eine alte Dame nennen – verfolgte doch, etwas nach vorn gebeugt, mit gespannter Aufmerksamkeit jeden Schritt und hob gleich ängstlich die Hand, wie um in den Zügel zu fallen, wenn der blinde Gaul einmal stolperte oder der andere bei zu lebhafter Abwehr der abscheulichen Stechfliegen die Leine unter den Schwanz klemmte. So breit die noch neue Chaussee [352] war, schien es ihr doch jedesmal Unbehagen zu verursachen, wenn ein Fuhrwerk entgegenkam, dem ausgewichen werden mußte. Schon hundert Schritte vorher machte sie durch ein „Kutscherchen, Kutscherchenl“ auf die drohende Gefahr aufmerksam. Sie saß wie jeden Augenblick zum Sprunge bereit, wenn doch das Unglück unabwendbar sein und der Wagen auf einen Stein auffahren oder in den Graben fallen sollte. Uebrigens hatte sie, obgleich die Sonne auf das Verdeck brannte und die jungen Bäumchen zu beiden Seiten durch keinen Lufthauch aus dem Schlaf geschüttelt wurden, ein Taschentuch um den Hut geknüpft. „Die rasche Bewegung verursacht immer Zugwind,“ behauptete sie, „und man muß die Ohren schützen, um sich vor Zahnweh zu bewahren.“
Neben dem Kutscher hatte ein junger Mann seinen Platz – eigentlich nicht neben dem Kutscher, sondern möglichst weit von ihm getrennt in der anderen Ecke des Vordersitzes. Er saß meist quer, das rechte Bein auf das Polster hinaufgezogen, um der hübschen jungen Dame hinter sich bei der Unterhaltung in die Augen sehen zu können. Auch das schien die ängstliche Frau zu beunruhigen. „Wenn Sie doch lieber auf die Gegend achten möchten, lieber Herr Opitz,“ sagte sie. „Bekommt der Wagen einen Ruck, so fallen Sie hinunter und geraten unter die Räder. Mir wird schon bei dem Gedanken ganz heiß.“
„Da ist gar nichts zu befürchten, Frau Sekretär,“ antwortete er lachend, „die Anziehungskraft von Frau Ida ist zu groß – ich kann beim besten Willen nicht verloren gehen.“
„Sie müssen auch immer Ihren Spaß machen,“ schalt die Hübsche nicht ungnädig, aber doch etwas spitz verweisend. „Es ist gar nicht meine Art, einen anzuziehen, und meinetwegen können Sie die Chausseebäume rechts und links bis zum ‚Eulenkrug‘ zählen.“
„Aber Sie können ja nichts dafür, Frau Ida,“ entschuldigte er. „Es ist eine angeborene Gabe. Jedenfalls hoffe ich, in Ihrer Gunst genügend fest zu sitzen. Dagegen wird die Frau Sekretär nichts haben können. Was?“
„Störe doch die verehrte Frau Sekretär nicht, Schwager,“ ließ sich eine fette Stimme vom hintersten Sitz her vernehmen, „sie muß ja kutschieren.“
Dieser Witz wurde durch ein fröhliches Lachen belohnt, in das auch Frau Sekretär Streckebein einstimmte. „Spotten Sie nur, Herr Schöneberg,“ sagte sie, ohne doch das runde Kinn mehr als einen knappen Zoll seitwärts zu drehen. „Es ist immer gut, wenn einer aufpaßt, und Vorbedacht, behauptet man, hat noch keinem Leid gebracht. Mein seliger zweiter Mann lachte mich auch immer aus, bis einmal ... aber das erzähle ich Ihnen lieber, wenn wir gemütlich beim Kaffee sitzen und sicheren Boden unter den Füßen haben. Beugt sich Lieschen auch nicht aus dem Wagen heraus, Frau Schöneberg?“
„Das Kind sitzt ganz artig zwischen uns,“ versicherte die wohlbeleibte Dame hinter ihr schmunzelnd.
„Aber das ist recht langweilig, Großmama,“ äußerte die Kleine unzufrieden. „Ich möchte lieber zum Kutscher.“
„Daß ich keine Minute Ruhe hätte! Nein, Du bleibst, wo Du bist. Und wenn wir ankommen, wartest Du ab, bis die andern ausgestiegen sind. Herr Opitz wird die Freundlichkeit haben, Dir die Hand zu reichen.“
„Lieschen ist doch ein bißchen zu jung für mich,“ plänkelte er, den Hut aus der Stirn schiebend, auf der große Schweißtropfen standen, „sonst . . .“
„Mein Bruder hat nur immer Heiratsgedanken,“ ließ sich Frau Schöneberg vernehmen. „Das kommt dann so unpassend heraus.“
„Es wäre ganz in der Ordnung, wenn er endlich einmal Ernst machen wollte,“ meinte ihr Mann. „Er muß unter strengere Zucht genommen werden, sonst schlägt er ganz aus.“
„Na, na! Verleumde mich nicht,“ wendete Opitz ein. „Ich denke, einen solideren Menschen zwischen dreißig und vierzig als mich kann es gar nicht geben. Was sagen Sie dazu. Frau Ida?“
„Ihr Herr Schwager muß Sie doch kennen,“ bemerkte sie kichernd.
„Da hast Du’s,“ sagte Schöneberg. Er schob seinen gelben Staubrock ein wenig zur Seite und zog die Uhr an der dicken goldenen Kette aus der prall anschließenden weißen Piquéweste. „Weit vom Ziel können mir übrigens nicht mehr sein.“
„Meinst Du?“ fragte Opitz anzüglich, mit einem Blick auf Ida. „Ach so –“ berichtigte er sich, „Du siehst nach der Uhr.“
„Dem Glücklichen schlägt keine Stunde,“ citierte Schöneberg. „Na – ich für meine Person könnt’s noch ganz gut auch zwei aushalten. Ueberhaupt so eine Landpartie mit dem Kremser, das ist doch erst das richtige Vergnügen. Nicht, Alte?“
„Wenn du mich meinst ...“
Er klopfte ihr über Lieschen hinweg auf die runde Schulter. „Natürlich meine ich Dich, Rosinchen. Herr Gott, meine Frau will noch immer nicht alt werden! Ich denke, wenn man eine erwachsene Tochter hat –“
„Ach! Martha ist noch das reine Kind. Warum sprichst Du denn eigentlich gar kein Wort, Martha?“ Sie stieß das junge Mädchen an, das vor ihr neben Frau Sekretär Streckebein saß, den Kopf mit dem großen gelben Strohhut gesenkt hatte und vor sich hin träumte.
„Es ist so heiß, Mama,“ antwortete sie.
„Ja, heiß ist es,“ bestätigte Schöneberg, „aber das gehört dazu. Was ich sagen wollte: so eine Kremserfahrt, Kinder – das ist ’was! Die Eisenbahn kann man ja eine recht gute Erfindung nennen, aber zum Spazierenfahren taugt sie herzlich wenig. Wie schwer bekommt man ein Coupé für sich! Die Gesellschaft muß sich trennen. Und dann dritter Klasse mit Krethi und Plethi zusammensitzen – zweiter sieht doch zu protzig aus. Paßt mir nicht. Ich möchte auch ’mal wissen, wie’s kommt, daß die Eisenbahn gerade immer an den großen ungemütlichen Restaurants vorüberführt. Sonntags bekommt man keinen Platz und alltags ist man da oft unter Tausenden von Stühlen die einzig fühlende Brust. Und dann die Drängelei bei der Abfahrt! Es wird ja manchmal lebensgefährlich. Hat man nur einen auf den Schoß zu nehmen, so kann man von Glück sagen. Mit dem Kremser – da bin ich mein eigener Herr. So und so viel gehen auf den Wagen herauf – gut! Und nachher: Kutscher, spann’ an! Hat man’s mit dem Hinkommen nicht so eilig, so trifft man auch noch immer ein reelles Wirtshaus vom alten Schlage. Hast Du ’was dagegen, Opitz?“
„I – ich?“ rief der junge Mann. „Sie müssen mir’s bezeugen, Frau Ida, daß ich während der ganzen langen Rede nicht gemuckst habe. Uebrigens, wenn ich meine Meinung sagen soll – mir kommt es meistenteils auf die Gesellschaft an. Ist die danach, so laß ich mir für mein Vergnügen viel gefallen.“
„Und der Kremser hat doch auch seine Schattenseiten,“ gab die Frau Sekretär zu bedenken. „Wenn nicht die Pferde vorgespannt wären! Und es kann doch auch ein Rad abfallen“ – eben wurde einer von den Steinen gestreift, die im Zickzack auf die neue Chaussee gelegt waren. um den Fuhrwerken eine bestimmte Linie vorzuschreiben. „Uh!“ schrie die ängstliche Dame auf, als ob das Unglück schon eingetreten wäre.
„Aber wer wird sich denn alle Möglichkeiten schwarz ausmalen!“ bemerkte Schöneberg.
„Mama hat eine so lebhafte Phantasie,“ sagte Ida lächelnd, indem sie der alten Dame das bei der Bewegung verschobene Tuch unter dem Kinn zurechtrückte.
„Was meinen Sie, Männeken,“ wendete Opitz sich an den Kutscher, „wenn wir uns einen Tobak ansteckten? Beim Rauchen schläft man nicht so leicht ein.“
„Det kann stimmen,“ antwortete der Rosselenker, steckte die Peitsche in die Lederscheide und griff in die ihm vorgehaltene Cigarrentasche. Nun aber erhielt die Frau Sekretär neuen Grund zur Beunruhigung. Um die Cigarre anzuzünden, nahm der Kutscher die Leine zwischen die Knie und rieb Streichhölzchen an, die er lose aus der Westentasche hervorholte und deren ausgesprochene Neigung es war, immer wieder auszugehen, obschon er beide Hände vorhielt. Ihr wurde ganz heiß. „Geben Sie mir doch lieber die Leine,“ bat sie wiederholt. Aber Pieseke meinte bei jedem neuen Versuch „es geht schon“ und setzte endlich auch sein Stück durch. Daß er nun wie eine Dampfmaschine paffte und die Luft hinter sich verräucherte, konnte für das erträglichere Uebel gelten.
Endlich näherte man sich dem Ziel. Erst im letzten Jahr war dieser Teil des großen Forstes dürch die neue Chaussee erschlossen und der „Eulenkrug“ gewissermaßen entdeckt worden, ein Wirtshaus ältesten Stils, mitten im Walde gelegen und auch jetzt von der Kultur noch so wenig beleckt, daß hier sogar Familien [354] Kaffee kochen konnten, was denn auch durch ein geschriebenes Plakat an der Ortstafel angezeigt war. Dem Vergnügen der Gäste boten sich eine zwischen zwei alten Kiefern aufgehängte Strickschaukel und ein Ringspiel nicht weit von dem einstöckigen, mit einer Einfahrt versehenen Hause. Tische und Bänke unter den Bäumen waren aufs einfachste durch vier in den Boden geschlagene Pfähle und ein darüber genageltes Brett hergestellt. Wer idyllische Zustände liebte, fand sie hier vollauf.
Rentier Schöneberg pflegte von sich selbst zu sagen: „Ich bin nun einmal so ein Mensch.“ Sein Vater war Bauer in einem später zur Stadt gezogenen Vorort gewesen und hatte vorteilhaft verkauft. Noch lange nicht so vorteilhaft freilich als zehn Jahre darauf mancher Nachbar, aber er konnte seinen Kindern doch ein recht hübsches Vermögen hinterlassen. Sein ältester Sohn hatte keine besondere Schulbildung genossen, ein Handwerk gelernt, eine kleine Fabrik begründet und ein wohlhabendes Mädchen seines Standes geheiratet, sich dann nach der Erbschaft früh zur Ruhe gesetzt, ein Haus gekauft und fortan recht anständig von seinen Zinsen und Mieten gelebt. Er that sich auf seine vernünftigen Lebensanschauungen etwas zu gute und konnte wirklich als das Muster eines wohlsituierten Bürgers gelten, den nicht der Ehrgeiz plagte, über seine Verhältnisse zu gehen, während er anderseits seine Wohnung hübsch eingerichtet hatte, sein Gärtchen pflegte, den Kegelklub nicht versäumte, auch nach dem eigenen, nicht anspruchsvollen Geschmack Theater und Konzerte besuchte und mitunter auch Vergnüglichkeiten mitmachte, bei denen es „auf die Kosten nicht ankommen“ durfte. Was ihm eine unbequeme Verpflichtung auflegte, schob er von sich ab, und er wählte danach auch seinen Umgangskreis. Er mußte „sich gehen lassen“ können, wollte „nicht geniert sein“. Die Frau paßte gut zu ihm, nur daß sie einen kleinen Stich ins Vornehmere hatte und auf würdige Repräsentation achtete. Man sollte doch jederzeit wissen, mit wem man’s zu thun hätte. Martha war das einzige Kind, jetzt eben siebzehn Jahre alt geworden, bis zur Einsegnung im vorigen Sommer in einer höheren Mädchenschule unterrichtet, deren zweite Klasse sie aber nur erreicht hatte. Selbstverständlich erhielt sie auch Musikstunden und klimperte ganz geläufig einige Tänze; ein Journal-Lesezirkel wurde für sie gehalten, dessen illustrierte Zeitschriften wenigstens sich auch der Beachtung der Eltern erfreuten. Die Mama hielt darauf, daß Martha auch in der Wirtschaft half und sich auf ihren Beruf als Hausfrau vorbereitete. Sie sollte, wenn auch den Anforderungen der Neuzeit entsprechend, so „solide“ erzogen werden, daß sich ein „gebildeter solider Mann“ zu ihr finden könnte, der nicht nach einer Modepuppe verlangte und durch sich selbst etwas hätte und wäre. Das stand freilich für ihre Gedanken noch in ziemlich weiter Ferne. Man hatte bisher mit dem Kinde noch nicht einmal einen richtigen Ball besucht; das sollte nächsten Winter kommen. Schönebergs Liebhaberei war, kleine „gemütliche“ Landpartien zu veranstalten. Mit seiner sonst trockenen Sinnesweise vertrug sich’s ganz gut, daß er gern grüne Bäume, Felder und Wiesen sah – das mochte ihm so angeboren sein – und am liebsten ein stilles Plätzchen im Walde oder am Wasser aufsuchte, wo man sich behaglich einrichten konnte. Kündigte sich so eins in den Zeitungen an, so gehörte er gewöhnlich zu den ersten, die den Versuch wagten. Hermann Opitz, der jüngere Bruder seiner Frau, mußte stets mit von der Partie sein, schon damit er jemand zu necken und zu hänseln hätte, der’s ihm nicht übelnahm. Nur war dieser an den Wochentagen von seinem Agenturgeschäft schwer abkömmlich. Anch andere gute Bekannte wurden zugezogen. Zu ihnen gehörten seit etwa einem halben Jahre die Modistin Ida Döbler, eine junge Witwe, die im Schönebergschen Hause den einen Laden gemietet hatte, und deren Mutter, die Frau Steueramtssekretär Streckebein, welche die dazu gehörige Wohnung mit ihr teilte, die Wirtschaft führte und das kleine Lieschen beaufsichtigte, liebe bescheidene Menschen, mit denen sich’s bequem verkehren ließ. Leider waren auch sie immer viel beschäftigt. Heute, an einem Donnerstag, hatten sie sich nur ausnahmsweise freigemacht, weil Lieschens Geburtstag gefeiert werden sollte.
Der hinterste Wagensitz war für allerhand Gepäck bestimmt worden. Trotz des schönen Wetters hatte Frau Streckebein darauf gedrungen, daß Mäntel, Tücher und Regenschirme mitgenommen würden. Man könnte doch nicht wissen! Nun beim Aussteigen wollte Schöneberg sie auf dem Wagen lassen. Aber die alte Dame stellte nachdrücklich vor, das wäre doch sehr leichtsinnig gehandelt. Man behielte ja das Fuhrwerk hinter dem Hause nicht unter den Augen, und auf den Kutscher sei kein Verlaß, wenn er erst in die Wirtsstube gegangen sei. Die Sachen wurden deshalb abgeladen und in den Garten mitgenommen. Nachdem man einen Tisch aufgefunden hatte, der für die Gesellschaft ausreichte, fanden sie ihren Platz auf dem benachbarten Gestell und wurden von der Frau Sekretär wohl geordnet. Ihren Kober mit Eßwaren ließ sie nicht von der Hand. Frau Schöneberg nahm aus dem unter dem Sitz stehenden Korbe nur ein Päckchen mit Kuchen und das Säckchen mit gemahlenem Kaffee. „Die Wirtin erschrickt sonst,“ meinte sie, „wenn wir gleich alles auspacken.“
Sie begab sich dann ins Haus und in die Küche, um ihre Anordnungen zu treffen. Man hatte auf den Kaffee ziemlich lange zu warten, was aber nur den Appetit steigerte. Dann erschien er in einer großen braunen Kanne, die von der Frau Wirtin nebst dem erforderlichen Geschirr eigenhändig herangetragen wurde. Sie hatte zu Ehren der Gäste eiligst noch eine reine Schürze vorgebunden und ein buntes Tüchelchen umgesteckt.
Indessen hatte man sich’s in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, an dem langen Tisch so bequem gemacht, als die harten Holzbänke ohne Lehne es erlaubten. Schöneberg gehörte zu den Menschen, die sich, wenn ihnen einmal der Wille geschehen ist, in einen Zustand von glücklichem Behagen hineinzureden vermögen. Opitz saß der wirklich sehr hübschen jungen Witwe gegenüber und konnte ihr nun in die Augen sehen, ohne sich den Körper verrenken zu dürfen, und Frau Sekretär Streckebein ruhte von ihren Anstrengungen aus und sammelte neuen Stoff zu Besorgnissen. Auf zwei Teller, die Frau Schöneberg vorsorglich selbst aus der Küche mitgebracht hatte, wurden die Kuchen abgeladen. Das kleine Lieschen, zu Ehren des Geburtstages in einem weißen Kleidchen mit breiter Schärpe von rosa Seide, durfte von jedem Teller ein „Schmeckstückchen“ wählen und noch ein zweites Mal zugreifen.
„Nein, aber ist das ein Wetterchen!“ rief Schöneberg.
„Unberufen, Herr Schöneberg, unberufen!“ fiel die Frau Sekretär eifrig ein.
„Na! Oben das reinste Azur-Ultramarin-Blau.“
„Man kann nie wissen. Hier im Walde sieht man nicht den Horizont.“
„Das ist ja gerade das beste dran. Nichts als grüne Bäume rundum und oben blauer Himmel. Es wird einem ganz grün und blau vor Augen.“
„Und ums Herz,“ setzte Frau Ida mit einem leisen Anflug von Schwärmerei hinzu. „Wenn man so heraus ist ‚aus der Straßen quetschender Enge‘, wie unser Schiller so schön sagt –“
„Ja,“ bestätigte Opitz, „obgleich es eigentlich nicht auf Berlin paßt.“
„Man hat ein bißchen Natur um sich und fühlt sich wieder als ein Mensch. Es ist eine rechte Verrücktheit, daß man sich so ein Vergnügen nicht öfter gönnt.“
„Ja, Du kannst gut reden,“ neckte sein Schwager. „So ein Rentier, der bloß Coupons abzuschneiden hat! Aber wir im Geschäft . . . was, Frau Ida? Aber die Partie ist gelungen.“
„Na, na, nicht den Tag vor dem Abend loben,“ mahnte die Frau Sekretär. „Als wir fuhren, lag unten ein breiter Dunststreifen. Und die Sonne stach so! Daraus entwickelt sich leicht etwas. Es ist doch gut, daß wir die Regenschirme mitgenommen haben.“
„Mama ist immer so vorsorglich,“ sagte Ida lachend.
„Lieber sich zehnmal unnütz schleppen als einmal naß werden.“
„Heute kommt nichts mehr,“ versicherte Frau Schöneberg. Sie handhabte die große Kanne mit viel Geschick und goß rundum wieder und wieder ein. „Darf ich um Ihre Tasse bitten, Frau Steueramtssekretär?“
Die alte Dame reichte sie ihr etwas zaghaft. „Aber auf den Grund verzichte ich, liebe Frau Schöneberg,“ lispelte sie. „So ein ländlicher Kaffee . . .“
„Er ist recht gut, finde ich,“ bemerkte Frau Rosine. ein wenig gekränkt. „Was man an seinen eigenen Bohnen hat, weiß man doch.“
„Ach, ach, ach!“ meckerte die Frau Sekretär. „Sie haben ja doch nicht am Herde gestanden. Was da wirklich in den Topf hineinkommt –“
[355] „Mit Cichorie lasse ich mir kein X für ein U machen, meine Liebe,“ versicherte Frau Schöneberg.
Ihr Mann goß den Rest aus seiner Tasse ins Gras. „Das letzte war wirklich schon dick,“ sagte er.
„Dort kommt auch schon die zweite Portion,“ begütigte Rosine, nach dem Hause zeigend.
Martha, die kaum ihre erste Tasse ausgetrunken hatte, war schon aufgestanden und an das Ringspiel getreten. Sie schien sich aber keine besondere Mühe zu geben, den Ring in den Haken zu werfen, sondern ließ ihn nur hin und her pendeln. Lieschen war ihr gefolgt und sah aufmerksam zu. „Laß mich auch einmal werfen – ja?“ bat sie.
„Du triffst nicht.“
„Du triffst auch nicht!“
„Die Schnur ist zu kurz. Nun versuch’s doch.“ Sie gab ihr den Ring in die kleine Hand, wartete nun aber nicht auf den Treffer, sondern ging von einem Baume zum andern bis in die Nähe der Chaussee und blickte diese entlang, als ob sie jemand erwartete. Sie erwartete auch wirklich jemand, an den sonst keiner dachte.
Lieschen kam ihr bald nachgelaufen. „Warum guckst Du denn immer dorthin?“ fragte sie.
„Das geht Dich nichts an!“
„Ich will’s ja auch bloß wissen“ schmollte die Kleine. Da Martha sie gar nicht beachtete, gab sie ihr einen Schlag auf den Rücken – „den letzten“ – und lief nach dem Tisch zurück. Dort kletterte sie auf die Bank und sprach kniend dem Kuchen zu. Die Großmama zupfte das Kleidchen zurecht.
Die Wirtin hatte an der zweiten Kanne nicht leicht zu tragen. „Wohl bekomm’s den Herrschaften,“ sagte sie.
„Na, wenn das nicht ausreicht!“ rief Schöneberg. Seine Frau hob den Deckel auf und sah hinein. „Und ganz voll!“ sagte sie verwundert. „Sie haben doch das zweite Mal nicht –“
„Das Wasser kostet ja nichts,“ meinte die Wirtin ganz vergnügt.
„Ein schöner Trost,“ zischelte Opitz zu Frau Ida hinüber.
„Trinkt unser Kutscher auch nicht zu viel, liebe Frau Wirtin?“ fragte die Frau Sekretär besorgt.
„Wasser? Ne, das is nie nicht seine Leidenschaft – ich kenn’ ihn. Ach so!“ Sie merkte, was das Kopfwiegen der alten Dame bedeuten sollte. „Ja, die Herren haben ihn doch aufgemuntert, auch ’mal ein Glas zu trinken. Viel bitten läßt so einer sich nicht.“
„Wenn’s nur nicht zu viel wird! Man muß doch auch an die Rückfahrt denken.“
„Jetzt schon?“ rief Schöneberg lachend.
Die Wirtin blickte über den Tisch hin. „Kann ich den Herrschaften mit sonst etwas dienen? Schöne frische Butter –“
„Nachher,“ unterbrach Frau Schöneberg. Sie goß wieder Kaffee ein. „Den Wein haben Sie doch kalt gestellt?“
„Im Brunneneimer.“
„Ich komme hinein.“
„Wird mir eine große Ehre sein.“ Die Wirtin knixte und entfernte sich.
Opitz schien die neue Auflage sehr gut zu munden. „Von unserem Kuchen haben Sie sich noch gar nicht bedient,“ sagte Ida, ihm den Teller hinhaltend. „Darf ich Sie auf diesen Windbeutel aufmerksam machen?“
„Wenn das nicht eine Anspielung ist, schöne Frau –“
„O, was denken Sie! Mit richtiger Schlagsahne.“
Lieschen hatte beide Hände voll. „Aber so laß doch das Kind sich nicht mit dem Kuchen vollstopfen, Ida!“ warnte Frau Streckebein. „Es ist schon das fünfte Stück.“
„Das vierte, Großmama!“
„Du wirst Dich an Deinem Geburtstag noch krank essen.“
„So eine Kremserfahrt macht hungrig, Frau Steueramssekretär,“ entschuldigte Opitz.
Schöneberg hatte seine Tochter vermißt. „Aber was thut das Mädel denn dort?“ fragte er. „Martha!“
Martha kehrte sich erschreckt um. Eben glaubte sie in weiter Ferne mit ihren scharfen Augen etwas entdeckt zu haben. „Papa?“
„Setz’ Dich doch zu uns an den Tisch! Die Chaussee ist ja langweilig.“
Während sie langsam heranschlenderte, meinte Ida: „Junge Mädchen schwärmen gern recht weit mit ihren Gedanken aus. Ich weiß das aus meiner Jugend.“ Opitz schnitt dazu eine Grimasse. „So eine Chaussee hat eine endlose Perspektive.“
„Du bist ja so still, Martha. Fehlt Dir etwas?“ erkundigte sich Frau Schöneberg nach einer kleinen Weile.
„Ach, nichts, Mama!“
„Ich schlug Dir vor, Bethmanns Laura aufzufordern, damit Du Gesellschaft hättest. Du wolltest ja nicht. Merkwürdig! Immer am liebsten allein.“
„Ich unterhalte mich mit Lieschen sehr gut,“ versicherte Martha und rückte zu ihr.
„Iß nicht mehr, Lieschen!“ befahl die Frau Sekretär und zog ihr den Teller fort.
Im nächsten Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine schreckhafte Erscheinung abgelenkt. Ein Bettler hatte sich vom Walde her dem Tisch genähert, nach dem langen schwarzen Haar und den dunkeln Augen zu schließen ein Zigeuner. Er hielt, dicht hinter ihr, den breitkrempigen Filzhut vor sich hin und bat um eine milde Gabe. Sie rückte eiligst fort. „Was ist denn das für ein Mensch?“
„Armes Zigeuner – bitten um eine milde Gabe, gnädige Herrschaften.“
„Hier wird nicht gebettelt,“ wies Schöneberg ihn ab.
„Haben Mitleid mit armes Zigeuner. Frau und Kinder hungern sehr.“
„Zigeuner im Walde!“ rief Ida. „Das ist ja romantisch. Könnt Ihr auch wahrsagen?“
„Laß ihn doch!“ bat Frau Streckebein ängstlich.
Der Zigeuner blinzelte in seinen Hut. „Kann ich wohl wahrsagen, gnädigstes Fräulein,“ sagte er, „äber weiß ich doch nicht, ob zutrifft. Gnädige Herrschaften sein zu klug – glauben doch nicht armes Zigeuner.“
Ida ließ sich so nicht vertrösten. „Es kommt darauf an. Hier meine Hand – nun?“
„Aber nicht doch, Ida!“
Der Zigeuner sah in die ausgestreckte Hand. „Kann ich gnädiges Fräulein versprechen eine schöne junge Mann, serr reich, serr fein –“
„O weh!“ rief Opitz.
„Weshalb?“ fragte Schöneberg.
„Ich hoffe, er lügt.“ Opitz warf eine Silbermünze in den Hut. „Für das schöne Fräulein!“
„Er vertrinkt’s doch nur,“ meinte Schöneberg, fügte aber doch einen Nickel hinzu. „Nun macht aber, daß Ihr fortkommt!“
Der Zigeuner zog sich mit lebhaften Dankbezeigungen zurück.
Die Frau Sekretär stand sogleich auf und trat an den Tisch, auf dem die Sachen lagen. Sie hob Mäntel, Tücher und Schirme einzeln auf.
„Was suchst Du, Mama?“ fragte Ida.
„Ich sehe nur nach, ob nichts fehlt,“ antwortete die vorsorgliche Dame. „Wenn ein so verdächtiger Mensch in der Nähe ...“ Sie kehrte weiter Stück für Stück um.
„Aber er ist gar nicht an den andern Tisch getreten.“
„Wir können vorher nicht aufgepaßt haben. Zigeuner sind Diebe, das ist bekannt. Hast Du Deinen Sonnenschirm, Ida?“
„Ja, Mama!“
„Aber Lieschens Handschuhe – ach, da stecken sie im Mäntelchen. Es scheint alles da zu sein.“ Sie setzte sich wieder.
Indessen hatte sich auf der Chaussee ein Radfahrer genähert. Vor dem Wirtshause sprang er geschickt ab, leitete sein blitzendes Zweirad zu Fuß um das Haus herum bis zur hinteren Thür und stellte es dort an die Wand. Er trug das bekannte Kostüm der Radfahrer: kleine Schirmmütze, blaues enganschließendes Wams mit Außentaschen, Kniehosen, Strümpfe und Schnürstiefel. Er war mittelgroß und wohlgewachsen, das schwarze, an den Spitzen aufgedrehte Bärtchen gab ihm ein keckes Aussehen. Mit einem Taschentuch klopfte er sorgfältig den Staub von den Kleidern ab.
Martha hatte ihn sogleich bemerkt und ein leises: „Ach, da ist er!“ nicht unterdrücken können.
„Wer?“ fragte Schöneberg, sich umsehend. „Ein Radfahrer! Die Kerls machen auch alle Straßen unsicher.“
[367] Frau Schöneberg hielt ihr Augenglas über die Nase und sah nach dem Radfahrer aus, der schon ganz nahe war. „Ist das nicht – wahrhaftig! Sieh doch einmal, Martha! Der junge Maler, der uns gegenüber das Atelier hat.“
„Meinst Du, Mama?“ fragte Martha, schüchtern sich abwendend. Sie war feuerrot geworden.
„I, da ist doch kein Zweifel! Er hat uns ja schon ein paarmal unaufgefordert seinen Besuch gemacht.“
Nun erkannte ihn auch Schöneberg. „Mich hat er neulich ganz dreist angesprochen,“ sagte er, „und gefragt, ob ich Dich nicht malen lassen will. Du lieber Himmel, wo man jetzt die schönsten Photographien für billiges Geld haben kann!“
„Nu – es zeugt doch von gutem Willen,“ meinte seine Frau geschmeichelt. „Uns fehlt auch eigentlich noch ein großes buntes Bild über dem grünen Plüschsofa. Uebrigens ein ganz netter Mensch.“
Martha wendete sich rasch zurück. „Nicht wahr, Mama?“
„Er hat Absichten,“ sagte Schöneberg.
Rosine zuckte die Achseln „Auf wen?“
„Na!“
„Ach, Unsinn!“
„Thun wir so, Kinder,“ sagte er, „als ob wir ihn gar nicht bemerkt hätten. Vielleicht steigt er wieder aufs Roß und reitet ab.“
„Aber es schadet doch nichts,“ meinte sie, „wenn wir ihm –“
„Es hilft auch nichts mehr,“ unterbrach Opitz lachend. „Er steuert hierher.“
Wirklich näherte sich der Nadfahrer auf geradestem Wege, zog die Mütze ab und rief sehr vergnügt: „Sehe ich recht, meine verehrten Herrschaften – sind Sie’s? Herr Schöneberg – gnädige Frau – Fräulein Martha . . .“ Er reichte ihnen nach der Reihe die Hand. „Ist das aber ein glücklicher Zufall, der mich in den ‚Eulenkrug‘ dirigiert hat! Wollte mich einmal einen Nachmittag gründlich von der Arbeit ausruhen, im Freien erholen und denke mir: wo fährst Du hin? Natürlich dem großen Häuserhaufen möglichst aus dem Wege. Da fällt mir ein, daß kürzlich hier die neue Zweigchaussee eröffnet ist. Wie geschaffen für mein Zweirad – noch glatt wie der Tisch. Ich also hierher, wo ich heut’ am Wochentage keinen Menschen zu treffen erwarten kann, und – finde Sie. Das nenn’ ich Glück haben!“
„Na, wie man’s nehmen will!“ knurrte der Rentier.
Frau Schöneberg empfand dieses zufällige Zusammentreffen gar nicht so lästig, war durch die „gnädige Frau“ geschweichelt und zeigte dem ungebetenen Gast das freundlichste Gesicht. „Wollen Sie sich nicht zu uns . . .“
Schöneberg zupfte sie am Rock. „Du wirst doch nicht?“
„Aber wir haben ja so viel Kaffee übrig,“ zischelte sie ihm zu.
Der Gast überließ es den Eheleuten, sich über die schwierige Frage zu einigen, und wendete sich dem andern Teil der Gesellschaft zu. „Ah, Herr Opitz – hatte schon das Vergnügen. Darf ich Sie bitten, mich Ihren Damen vorzustellen?“
Opitz verneigte sich wiederholt etwas linkisch. „Gern, gern. Herr Vanhusen, wenn ich nicht irre, Maler und Lackierer –“
[368] „Entschuldigen Sie, akademischer Maler.“
„Frau Steueramtssekretär Streckebein –“
„Sehr angenehm,“ versicherte die alte Dame.
„Frau Ida Döbler, ihre Tochter,“ fuhr Opitz fort. Er hielt die Hand vor den Mund und flüsterte beiseite: „Witwe.“
„So jung! Ist’s möglich?“ antwortete Vanhusen ebenso.
„Hm, hm – die Partie hat sich so gemacht!“
Der Maler verstand Opitz falsch, weil dieser verliebt zu Ida hinüberschielte. „Gratuliere.“
Opitz wurde ganz verlegen. „Ach nein, so ... die Landpartie mein’ ich.“
Indessen hatte Frau Schöneberg die Bedenken ihres Mannes beseitigt. „Wollen Sie nicht ein Täßchen Kaffee mit uns trinken, Herr Vanhusen?“ fragte sie.
Er setzte sich sogleich neben Martha. „Aber ich beraube Sie, gnädige Frau.“
„Durchaus nicht.“ Sie stieß ihren Mann an, um ihn zu einem freundlichen Wort zu nötigen.
„Wir haben noch eine ganze Menge übrig,“ brummte er denn auch, „bleibt doch nur stehen.“
Vanhusen nahm die Tasse. „Wenn Sie denn so liebenswürdig einladen – danke bestens.“
„Martha, reiche dem Herrn Maler den Kuchen!“ sagte die Mama. Martha gehorchte sofort. Sie war plötzlich ganz munter geworden, ihr hübsches Gesicht hatte sich belebt. Indem sie den Teller hinreichte, flüsterte sie. „Das ist aber reizend, daß Sie gekommen sind!“
„Verstand sich ja von selbst,“ versicherte er leise, „nachdem ich von Ihnen einen Wink –“
„St!“ machte sie und errötete wieder. „Wollen Sie dieses Herz –“
„Mit dem größten Vergnügen. Wenn Sie das andere da nebenbei –“
„Ich bin eigentlich schon ganz satt, aber Ihnen zur Gesellschaft esse ich –“
Der Mama schien die Auswahl etwas lange zu dauern. „Es ist alles von demselben Konditor,“ bemerkte sie.
„Der Maler und Martha verzehrten die beiden süßen Herzen mit innigstem Behagen, wie von ihren Gesichtern abzulesen. Was ließ sich nicht alles dabei denken!
Schöneberg meinte, eine Unterhaltung beginnen zu müssen; zugleich wünschte er seiner Ueberlegenheit einen launigen Ausdruck zu geben. „Na, wie geht’s denn so im allgemeinen mit der Pinselei, wenn ich fragen darf?“ warf er von oben her hin.
„Das kommt auf den Pinsel an,“ antwortete Vanhusen schlagfertig. „Wenn der Pinsel kein Pinsel ist –“
„Ha ha ha!“ lachte Opitz. „Da hast Du’s.“
„Schwärmen Sie auch für Freilicht?“ mischte Ida sich ein. Es war ihr lieb, mit ihrer Bildung glänzen zu können.
Schöneberg nahm den Ausdruck wörtlich. „Warum soll er nicht?“ fragte er. „Wenn er’s haben kann –“
„Die Sonne scheint ja zum Glück noch immer umsonst,“ bemerkte der Maler trocken.
Ida kicherte in ihr Tuch. Frau Schöneberg merkte, daß da etwas nicht in Ordnung sei. Sie stieß wieder ihren Mann an und flüsterte ihm zu: „Du blamierst Dich.“
Vanhusen sprang mitleidig ab. „Waren die Damen schon in der Ausstellung?“ fragte er. Sie schüttelten den Kopf. „Sie müssen sich ’mal meinen ‚Verlorenen Sohn‘ ansehen.“
„Den aus der Bibel?“ erkundigte sich die Frau Sekretär.
„Gewissermaßen. In moderner Auffassung natürlich. Vater Millionär, Geheimer Kommerzienrat, Ritter hoher Orden – Mutter im Vorstand von einem Dutzend Wohlthätigkeitsvereinen – sehr respektable Leute. Der Herr Sohn ein blutjunger Mensch, der schon mit liederlichem Volk ein Vermögen durchgebracht, Wechsel gefälscht, Ehrenscheine verbummelt hat, jetzt verstoßen, gänzlich abgebrannt –“
Frau Streckebein nickte zustimmend. „Ja, ja – und nährt sich nun von den Träbern.“
Der Maler zuckte lächelnd mit der Lippe. „Gerade das! Merken Sie auf! Asyl für Obdachlose, Volksküche, zwei Gänge für fünfzehn Pfennig, Jammergestalten im Halbdunkel, schattenhaft – alles genau nach der Natur. Durch die vordere Thür links tritt eben der verlorene Sohn, den eingedrückten Cylinder schief auf dem Kopf, elegant schäbig, Ruine eines Stutzers – kolossal wirksam, versichere ich Sie. Die eine Figur, nichts weiter –“
In diesem Augenblick schrie die Frau Sekretär laut auf und hielt sich die Augen zu. Die ganze Gesellschaft fuhr erschreckt zusammen. „Was giebt’s, was giebt’s?“
„Lieschen!“
„Aber was denn?“
„Sie ist an der Schaukel. Komm fort da, Lieschen!“
„Aber lassen Sie das Kind doch ein bißchen schaukeln,“ sagte Schöneberg. Die alte Dame winkte immer. „Es ist dabei schon so viel Unglück vorgekommen! Die Stricke sind gewiß alt und die Ringe durchgescheuert. Und nichts als ein kahles Brett! Wenn das Kind schwindlig wird!“ Sie stand auf und ging nach der Schaukel.
Ida folgte. „Aengstige die Großmama nicht, Lieschen!“ sagte sie. Auch Frau Schöneberg und Opitz erhoben sich und begaben sich dorthin. „Komm, spielea wir ‚greifen‘,“ sagte er. Man beschäftigte sich mit dem Kinde. Schöneberg hatte sich auf der Bank umgekehrt und sah zu. Diese günstige Gelegenheit benutzte Vanhusen, mit Martha ein heimliches Gespräch anzuknüpfen. „Wir müssen einen Spaziergang in den Wald machen,“ flüsterte er.
„Ach, das wird nicht gehen,“ antwortete sie, offenbar freudig erschrocken.
„Ich hab’ Ihnen so viel zu sagen, liebste Martha.“
„Ich Ihnen auch. Aber wie kann ich?“
„Wenn Sie nur wollen! Wir müssen etwas wagen. Ich werde verschwinden und dort hinter dem Gebüsch auf Sie warten.“
„Die Mama läßt mich nicht allein –“
„Wir fragen sie gar nicht. Nur ein Viertelstündchen! So eine Gunst des Geschicks kehrt nicht so bald wieder. In meinem Atelier wollen Sie mich doch nicht besuchen Und immer nur die zwei Worte auf der Straße und im Pferdebahnwagen ... man muß zu einem Entschluß kommen, so oder so.“
„So oder so . . . was heißt das?“
„Wenn die Alten merken, daß es doch nicht anders geht . . . man stellt sie vor eine vollendete Thatsache.“
„Vor eine vollendete . . . aber wie?“
„Das wollen wir eben beraten. Wir finden gewiß ein lauschiges Plätzchen –“
„Nein, nein!“
„Oder bleiben auch auf dem Waldwege. Es ist ja gar nichts dabei.“
„Das meinen Sie so!“
„Aber bedenken Sie doch nur, was wir einander alles zu sagen haben, liebste Martha!“ Er faßte ihre Hand und drückte sie zärtlich.
„Sie und so unvorsichtig,“ schalt sie, rückte ihm aber doch näher.
„Sie wissen ja, daß ich die ehrlichsten Absichten –“
„Ach Gott!“ Martha zog ihre Hand fort, da der Papa Anstalten machte, sich wieder zurückzuwenden.
„Ja, wenn Sie mir nicht trauen -“
Martha war in großer Unruhe. „Ich werde sehen. Verschwinden Sie denn . . .“
„Engel!“
„St!“
Frau Schöneberg näherte sich wieder dem Tisch. „Nimm Dich einmal Lieschens an, Martha!“ sagte sie.
Martha stand sogleich auf. „Ja, Mama.“ Sie nahm Lieschen an der Hand und spazierte mit ihr herum, den Maler immer im Auge behaltend. Dieser schlürfte seinen Kaffee aus und zog die Cigarrentasche hervor.
„Eine Cigarre!“ rief Schöneberg, „ganz mein Gedanke. Hast Du etwas dagegen, Schwager?“
Opitz holte auch seine Tasche heraus. „Na“ – mit einem Blick auf Ida – „der Mücken wegen, wenn Sie erlauben.“
„Darf ich Feuer . . .“
„Danke, danke! Immer versorgt.“
Die drei Herren saßen noch eine kleine Weile zusammen und bliesen den Rauch in die Luft. Dann stand Vanhusen auf, ging langsam um den Tisch herum, sagte jeder von den Damen etwas Verbindliches und war verschwunden, ehe man’s merkte. Er hatte freilich nur wenig Schritte bis zu dem Gebüsch, das den Waldweg einfaßte. Es stand da eine Tafel mit der lockenden Aufschrift: „Nach dem Schwarzen See und der Schönen Aussicht.“ Hier ging er, der Gesellschaft unsichtbar, auf und ab.
Die beiden alten Damen beschäftigten sich damit, das Kaffeegeschirr zusammenzusuchen. „Haben Sie schon an den Kutscher gedacht?“ fragte die Frau Sekretär.
„Der trinkt lieber Bier,“ meinte Frau Schöneberg.
[370] „Kaffee ist ihm viel gesünder. Erlauben Sie, daß ich hier in den Milchtopf . . .“ Sie hob vorsichtig die Kaffeekanne, um den Grund nicht aufzurühren, und klärte den Rest in den Topf ab, der noch nicht leer war. „Ich pflege bei Landpartien dem Kutscher immer Kaffee zu geben,“ bemerkte sie. „Er fühlt sich so mehr zur Familie gehörig und paßt hinterher besser auf.“ Sie warf Zucker hinein, rührte mit dem Löffel um, der kaum den Boden fand, und schmeckte. „Hübsch süß, das lieben die Leute!“ Dann legte sie auf einen Teller mehrere Stücke Kuchen. „So – das will ich ihm selbst in die Krugstube bringen. Man spricht bei der Gelegenheit gleich ein verständiges Wörtchen wegen der Rückfahrt.“
In der einen Hand den fast bis zum Rande gefüllten Kaffeetopf, in der andern den Teller mit dem Gebäck, machte sie sich in ganz kleinen Schritten auf den Weg, immer bedacht, dem Schwanken des graubraunen Trankes und dem Herabgleiten des Kuchens rechtzeitig Einhalt zu thun. Frau Schöneberg ging ihr nach. „Erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe!“
„Danke, danke, es geht schon.“
Während sie mit gebeugtem Rücken und weit vorgestreckten Armen weiter trippelte, teilte Frau Schöneberg ihr mit, daß sie die Wirtin zur Abräumung des Geschirrs herausschicken und dann gleich die Bowle zurechtmachen, auch etwas zum Abendessen bestellen wolle. Sie hätten ja den Korb auf dem Wagen, meinte Frau Streckebein.
„Etwas müssen wir nehmen,“ entgegnete ihre Begleiterin. „Ich denke an Rührei und Schinken, oder vielleicht . . .“ Sie traten ins Haus ein und setzten dort ihre Beratungen fort.
Martha hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Es war ihr von großer Bedeutung, diese beiden gefährlichsten Aufpasser los zu sein. Mit Lieschen sang sie deren Schullieder, schwenkte sie an den Armen herum, jagte sich mit ihr am Tisch vorbei. Sie schien sehr lustig zu sein. Endlich machten sie wieder am Ringspiel Halt. Von dort konnte man ein Stück in den Waldweg hineinsehen. Martha kehrte ihm, während Lieschen den Ring in Bewegung setzte, halb den Rücken zu, blickte aber öfters über die Schulter. Mit allen ihren Gedanken war sie bei dem hübschen jungen Maler, der sie immer mit so verliebten Augen ansah. Diese Augen! Martha gestand sich, es seien gefährliche Augen. Sie hatten ihr’s gleich bei der ersten Begegnung angethan. Es traf sich so zufällig, daß er immer, wenn sie aus der Klavierstunde oder vom Gesanglehrer kam, auch nach Hause ging oder ihren Weg kreuzte. Das war ihr nun eines Tages so komisch vorgekommen, daß sie lachte. Und darauf hatte er sie keck angesprochen und sich erkundigt, ob ihr sein großer, oben eingedrückter Schlapphut Spaß mache. Das nächste Mal hatte er schon wie ein alter Bekannter gethan und dann im Hause Besuch gemacht. Sie erfuhr von ihm, daß sie die längsten und stärksten Zöpfe habe, die er noch je bewundert, und in den Augen so etwas Unsagbares ... er möchte sie für sein Leben gern zu malen versuchen. Viel fehlte gar nicht, daß sie seiner Aufforderung folgte, sich doch einmal sein Atelier anzusehen. Ein kleines Bild – Selbstporträt von ihm – ließ sie sich in die Musikmappe schieben, um dann in großen Sorgen zu sein, wie sie es vor der Mama sicher genug verstecken könne. Da er immerfort bat, schenkte sie ihm ihre Photographie; er mußte aber versprechen, sie keinem Menschen zu zeigen. Und dann hatte sie ihm heute früh ganz beiläufig gesagt: „Wir fahren nach dem ‚Eulenkrug‘.“ Wenn die Eltern das alles wüßten! Und nun sollte sie gar mit ihm allein in den Wald! Ihr schlug doch ängstlich das Herz. Nun stand er da im Gebüsch und winkte. Sie nickte und traute sich doch nicht. Es schickte sich gewiß gar nicht . . . aber es wär’ doch so schön gewesen!
Lieschen zupfte sie am Rock. „Du – Großmama ist fort. Komm, wir wollen schaukeln!“
„Es ist verboten“ antwortete sie mit einer recht schulmeisterlichen Miene. Aber richtig war’s doch: die Großmama war fort und die Mama auch, und eben kam die Wirtin, das Kaffeegeschirr abzunehmen, und die beiden Herren spaßten mit ihr. Wenn sie nur einen zur Begleitung hätte mitnehmen können – natürlich einen, der nicht störte, aber doch da war und den Maler hinderte, zu dreist zu werden. Da ging ihr’s plötzlich wie ein Licht auf: Lieschen! Und ohne sich weiter zu besinnen, fragte sie: „Wollen wir einmal Blumen pflücken, Lieschen?“
Das Kind wor sofort bereit. „Ach ja, Blumen pflücken, das ist hübsch!“ Lieschen hing sich an ihre Hand und hüpfte vor Vergnügen.
„Du versprichst aber, sehr artig zu sein, ja? Und plauderst auch gar nichts aus?“
„Was soll ich nicht ausplaudern?“
Martha merkte, daß sie sich selbst schon verplaudert hätte. „Komm nur,“ sagte sie, „dort wachsen die schönsten Blumen!“
Eben ging die Wirtin mit dem Kaffeebrett voll Sachen hinter ihr dem Hause zu. Jetzt mußte es geschehen. „Greife mich!“ rief sie und lief dem Gebüsch zu. Lieschen lachend hinterdrein.
Vanhusen ließ sie vorüber und holte sie dann bald ein. An der nächsten Biegung des Weges bot er Martha den Arm. Sie zögerte, aber nur ein kleines Weilchen. Die Kleine war selig, Blumen pflücken zu können, wo es ihr gefiel. –
Am Tisch saßen Schöneberg und Opitz, ihnen gegenüber Ida. „Ein ganz sauberes Weibchen,“ sagte ersterer, der Wirtin nachschauend.
„Versieh Dir nicht die Augen,“ riet Opitz ganz ernst. „Du bist verheiratet.“
„Spaßvogel!“
Opitz schielte zu der schönen Frau hinüber und warf ihr von Zeit zu Zeit auch ein paar Worte zu, die wenig zu bedeuten hatten und mit einer gleich nichtssagenden Redensart beantwortet wurden. Seine Gedanken beschäftigten sich ganz anders mit ihr. Sie gefiel ihm längst schon, aber er konnte immer noch nicht mit sich einig werden, ob ein Antrag zu wagen sei. Das heißt zu wagen . . . es schien eigentlich kein großes Wagnis. Eine Witwe – und das Kind! Und in glänzenden Verhältnissen lebte sie durchaus nicht. Das Putzgeschäft ging ganz gut, aber sie mußte doch den ganzen Tag fleißig arbeiten und ersparte gewiß wenig. Die Alte lebte von einer kleinen Pension, Vermögen war nicht da. Er selbst stand nicht mehr in den Jahren, wo man sich einen verliebten Streich leicht verzeiht. Er hatte sein gutes Auskommen, lebte recht bequem als Junggeselle und war ein bißchen verwöhnt. Seine Schwester hänselte ihn oft genug, daß er doch noch die rechte Zeit verpassen werde. Nun meinte er wohl, sie sei gekommen, hatte aber doch keinen Mut, zuzugreifen. Und es war auch noch nicht so gewiß, ob Ida ihn mochte. Er wußte, daß sich ihr schon manche gute Partie geboten hatte und daß sie jede bisher ausgeschlagen. Heute hatte er sich mit dem Gedanken auf den Wagen gesetzt, es müsse zur Entscheidung kommen. In Gottes freier Natur würde sich doch wohl die Gelegenheit finden, ein Wörtchen unter vier Augen ... Und nun hätte sich’s schon so einrichten lassen, wenn Schöneberg nicht gerade einer zu viel gewesen wäre. Wie ließ er sich fortschaffen?
Diese Erwägungen machten ihn nicht unterhaltender. Der Rentier sah nach der Uhr, pfiff sich etwas vor und unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. Endlich griff er entschlossen in die Tasche und zog ein Spiel Karten hervor. „Wie wär’s mit einer Partie Skat,“ rief er. „Hast Du ’was dagegen, Hermann?“
Das paßte Opitz jetzt gar nicht. „In Gottes freier Natur!“ antwortete er varwurfsvoll.
„Ist ja nichts Böses,“ meinte Schöneberg.
„Na aber . . . was meinen Sie, Frau Ida?“
Sie packte aus einem kleinen zierlichen Täschchen eine Handarbeit aus. „Ach, von mir kann ja gar nicht die Rede sein. Ich spiele so schlecht –“
„Um so mehr gewinnen wir,“ ermuthigte Schöneberg.
„Das könnte Ihnen gefallen,“ sagte Ida schmollend, indem sie mit den spitzen Fingern ein Röllchen Spitzen aufwickelte. „Eine arme Witwe ausziehen –“
„Wir können ja meinetwegen den Point einen Viertelpfennig spielen.“
„Es läßt schon tief blicken, daß Du Dir zu dieser Landpartie die Karteu in die Tasche gesteckt hast.“
„Aber zum Zeitvertreib –“
„Wie ein richtiger Bauernfänger. Wir sind hier, uns von der warmen Sonne bescheinen zu lassen, frische Luft zu schnappen, überhaupt ein ländliches Vergnügen zu genießen. Habe ich nicht recht, Frau Ida?“
Sie lächelte. „Aber ich begreife nicht, weshalb Sie sich so ereifern.“
„Ich kann mir nicht helfen, es gehört mir nun ’mal nicht in die Situation. Wenn man so viel besseren Zeitvertreib hat . . .“ Er winkte ihr mit den Augen.
Schöneberg wurde ärgerlich. „Na, dann lassen wir’s doch!“ Er [371] steckte die Karten wieder ein. „Ich kann ja warten, bis meine Alte fertig ist und die Frau Sekretär etwa zum dritten Mann Luft hat.“
Ida sah rasch auf. „Wenn das eine Anspielung darauf sein soll, Herr Schöneberg, daß meine Mutter schon zweimal verheiratet gewesen ist –“
Er blickte sie eine Weile ganz verdutzt an, ehe er sie verstand. „Nun wird’s gut!“ rief er und legte die Hand schwer auf den Tisch. „Ich soll anspielen, bevor noch Karten gegeben sind.“
„Es klang doch ein bißchen spitz,“ meinte Ida.
„Ja, wenn mir durchaus etwas untergelegt werden soll –“
„Nimm meinen alten Plaid,“ fiel Opitz trocken ein, „der hält’s aus.“ Nun lachte die schöne Frau. Das war Schöneberg denn doch zu viel. „Du – wenn das ein Witz sein soll –“
Opitz verzog keine Miene. „Na, ganz im Ernst,“ sagte er treuherzig, „falls Dir die Bank zu hart ist!“
Schöneberg hob das runde Kinn aus der Krawatte. „Rücke ’mal ein bißchen aus der Sonne,“ spöttelte er, „sie sticht heute bedenklich.“
„Aber meine Herren!“
Opitz warf Ida eine Kußhand zu. „Bleiben Sie ganz ruhig, schöne Frau, ich nehme meinem Schwager nichts übel.“ Er reichte ihm die Hand. „Na – vertragen wir uns.“
„Dummes Zeug,“ knurrte Schöneberg.
Es war Opitz nicht gelungen, ihn fortzuärgern. Er sann auf ein anderes Mittel. „Hast Du eigentlich heute schon die Zeitung gelesen?“ fragte er. Schöneberg fürchtete eine neue Hänselei. „Wieso meinst Du?“ fragte er etwas borstig.
„Na – Deine Frau hat den Kuchen darin eingewickelt. Da liegt sie noch.“ Auf dem Tisch lag wirklich ein großes Zeitungspapier, an einigen Stellen durchfettet. Schöneberg nahm es auf und prüfte das Datum. „Wirklich das heutige Morgenblatt! Darum konnt’ ich’s nicht finden. Die Weiber haben gar keinen Respekt vor so etwas.“ Er blickte sogleich hinein. „Sauregurkenzeit freilich, aber man will doch auf dem Laufenden bleiben. Telegraphische Depeschen wenigstens, und die Unglücksfälle … Na ja, da haben sie in Frankreich wieder einen harmlosen Reisenden als Spion abgefaßt!“ Er überflog den Inhalt weiter. „Sieh, sieh, sieh – Blaselwitz und Neureiter pleite! Mit denen hab’ ich auch einmal Geschäfte gemacht, als ich noch die Fabrik hatte.“ Er wollte sich bequem hinsetzen, vergaß dabei aber, daß der Bank die Lehne fehlte, und verlor das Gleichgewicht.
Opitz schlug ihm vor, sich’s auf dem Rasen bequem zu machen. Unter der Eiche zeige sich ein prächtiges Naturkanapee. „Und wenn Du meinen alten Plaid –“
„Fängst Du schon wieder an?“ brummte Schöneberg, streckte sich aber doch auf der Rasenbank aus und fand es sehr behaglich, so im Liegen die Zeitung zu lesen und seine Cigarre dazu zu dampfen. Er wurde wieder gemütlich. „Weißt Du, wenn man sich nun noch den Rock ausziehen könnte …“
„Genieren Sie sich meinetwegen gar nicht,“ bat Ida, „ich sehe nichts.“
„Anerkennenswert liberal! Na, wenn Sie gütigst erlauben …“ Er stand wieder auf. Sein Schwager half ihm beim Ausziehen des Rockes, rollte ihn zusammen und legte ihn ihm unter den Kopf. Dann kehrte er zum Tisch zurück. Nun meinte er, bald so weit zu sein, mit der schönen Frau ein ernstes Wort sprechen zu können. Er setzte sich ihr gegenüber und stützte die Ellbogen auf. „Sie sollten aber doch nicht so schrecklich fleißig sein, verehrteste Frau“ begann er nach einer Weile.
„Es ist nur, daß man etwas in der Hand hat. Sie haben ja die Cigarre.“
„Ich lege sie fort, wenn Sie mir versprechen –“
„Nein, rauchen Sie nur!“
Er blies dicke Rauchwolken in die Luft, steil an seiner Nase vorbei. Wieder vergingen einige Minuten. „Wissen Sie – hm, hm,“ stotterte er, „daß ich mir vorgenommen hatte, Ihnen heute eine Gewissensfrage vorzulegen?“
„Ach!“
Schöneberg ließ ihm nicht das Wort. Er fing plötzlich an zu schnaufen. „Wieder ein Zusammenstoß auf der Eisenbahn! Die Maschine und zwei Wagen kaput!“
Opitz fügte sich. „Falsche Weichenstellung, was? Ja, die Leute haben im Dienst nicht genug Ruhe.“ Er meinte ihn befriedigt zu haben. „Wenn ich wagen dürfte, Frau Ida –“
Aber nun zeigte sie Lust, die Unterhaltung mit Schöneberg fortzusetzen. „Doch kein Mensch verunglückt?“ fragte sie.
„Drei Ochsen gänzlich zermalmt,“ antwortete er. Ida bedauerte. Opitz sprach etwas von Lebensreisen, Entgleisungen, Dampfgeben und dergleichen.
„Wollen Sie zur Eisenbahn?“ fragte sie verwundert.
„Ach, ich mein’s nur so bildlich!“ entgegnete er. „Es wird wirklich Zeit für mich, zu heiraten. Worauf soll ich warten? Wenn man in die Jahre kommt und hat sich etwas erarbeitet und das Geschäft geht gut, so steht eigentlich gar nichts im Wege.“
[382] Schöneberg ahnte nicht, wie sehr er seinen Schwager und Frau Ida durch seine Zeitungsneuigkeiten störte. „Wieder in einer Woche fünf Selbstmorde,“ rief er. „Die reine Epidemie!“
Opitz nickte nur. Dann seufzte er. „Man wird das Junggesellenleben satt. Alles muß seine Zeit haben. Können Sie mir das verdenken?“
„Was, Herr Opitz?“ fragte Ida.
„Ich sagte es ja. Die Freiheit ist ganz schön, aber immer allein … und ich bin im Grunde ein Mensch, der sich gern anschließt. Fragen Sie meine Schwester!“
„Ach – Sie denken wirklich ans Heiraten?“
„In der Hagenbeckschen Menagerie ist ein Löwe ausgebrochen,“ teilte Schöneberg mit. „Sie haben ihn aber wieder,“ fügte er zur Beruhigung hinzu.
„Freut mich,“ bemerkte Opitz ärgerlich. „Nicht so wild ’rein, Frau Ida, wie ein jünger Sausewind, sondern nach gehöriger Erwägung und Herzensprüfung.“
„So haben Sie schon eine Wahl getroffen? Da bin ich doch neugierig.“
„Werde Ihnen schwerlich ’was Neues erzählen, Frau Ida – ha ha!“
Sie sah lächelnd von der Arbeit auf. „Neulich standen Sie so lange vor meinem Schaufenster. Da suchten Sie wohl schon etwas für die Künftige aus.“
[383] „Das macht meine Künftige sich selbst,“ schmunzelte er. „Ein reizendes Schaufenster, das muß wahr sein. Alle die allerliebsten Sächelchen, aus Gaze, Spitzen, Federn und Blumen wie zusammengehaucht! Ich bleibe da allemal gern stehen, wenn ich zu meinem Schwager gehe, und denke an die zierlichen Fingerchen, die so wundersam geschickt sind, und bemühe mich auch, durch das große Spiegelglas zu gucken, ob ich einen Blick von den schönen Augen erhasche –“
„Aber Herr Opitz!“ fiel sie verschämt ein.
„Wieder zwei Häuser eingestürzt!“ rief Schöneberg. „Das kommt von dem unsoliden Bauen her.“
Ida wendete das Köpfchen ein wenig zurück. „Sie scheinen sich nur für Unglücksfälle zu interessieren, Herr Schöneberg,“ bemerkte sie spitzig.
„Pah! Wenn einem so wohl ist!“ erklärte er.
„Lassen Sie ihn,“ bat Opitz. „Was geht es uns an! Hier handelt es sich um einen Glücksfall, Frau Ida. Nämlich, wenn Sie … ich glaube, es wäre ein ganz solider Bau.“
Sie lächelte ihre Handarbeit an. „Wovon sprechen Sie?“ fragte sie sehr hold.
Er bemühte sich, ihr das auf allerhand Umwegen zu erklären, und rückte endlich näher. „Ich habe zum Beispiel an eine junge Witwe gedacht – verstehen Sie?“
„Ich weiß nicht …“
„Und wenn sie mir etwa ein kleines Mädel mitbrächte, das sollt’ es bei mir nicht schlecht haben.“
„Herr Opitz!“ Sie ließ jetzt ein Weilchen die Hände ruhen und schenkte ihm einen dankbaren Blick.
„Ja, ja, ja!“ zischelte er ganz entzückt, „das ist meine Meinung, Frau Ida, so ein Mensch bin ich nun einmal.“
Es schien nur noch ein ganz kleiner allerletzter Schritt zu gegenseitigem vollen Verständnis zu fehlen. Hätte Schöneberg seinem Schwager noch eine Minute Zeit gelassen! Aber da fiel sein Auge gerade auf eine ihn besonders interessierende Nachricht, die ihm denn auch die schläfrigen Lider nochmals hob. „Du, Hermann,“ sagte er, „das ist ’was für Dich.“
„Will ich meinen,“ antwortete Opitz, der in diesem Augenblick nur an Ida dachte.
„Soldatenschinderei! Natürlich freigesprochen! Du bist ja auch Unteroffizier gewesen und verstehst etwas davon.“
„Laß die dummen Witze!“
„Du hast wohl auch immer ohne Schmerzgefühl gehauen?“
„Ich dachte, Du schliefest lange.“
Schöneberg gähnte. „Das könnte Dir gefallen. Ich muß doch auf Dich aufpassen. Mit einer schönen jungen Frau – man kennt Dich.“ Wieder ein herzliches Gähnen. „Aber wahrhaftig wenn mir ’was Menschliches begegnen sollte … nehmen Sie mir’s nicht übel, Frau Döbler – nur ein Viertelstündchen!“
„Sie waren Soldat?“ fragte Ida.
„Bei der Feldartillerie,“ antwortete er. „Aber Schöneberg zieht mich auf: ich hab’s bloß bis zum Gefreiten gebracht. Wozu hätt’ ich auch länger dienen sollen? Ich konnte ja mein eigenes Brot essen. Und das reicht auch für zwei und drei, Frau Ida. Was Sie aus dem Putzgeschäft erübrigen, wenn Sie’s nicht eingehen lassen wollen – na, das ist für sich. Sie müssen sich doch auch manchmal recht einsam fühlen, nicht wahr?“
Ida seufzte kaum hörbar. „Natürlich – wie es sein könnte … Man muß vorlieb nehmen.“
„Aber das haben Sie doch nicht nötig, Frau Ida!“ Er schielte nach seinem Schwager hin. Dem war die Zeitung über das Gesicht gefallen, und die schnarchenden Töne, die darunter vordrangen, lieferten den vollen Beweis, daß er endlich eingeschlafen war. Diese Gewißheit gab Opitz den Mut, der jungen Witwe die Hand über den Tisch hinzustrecken.
„Ja, was wollen Sie denn?“ fragte sie verschämt.
„Ihre Hand.“
„Sie sind närrisch.“
„Schlankweg Ihre Hand, Frau Ida.“
„Wenn man uns beobachtet –“
„Das thut nichts. Ich mein’s ganz reell.“ Er blickte sie bittend an. „Na – geben Sie mir Ihre Hand!“
Sie that’s, aber mit der schalkhaften Frage: „Können Sie besser wahrsagen als der Zigeuner?“
„Ja, Frau Ida. Einen jungen schönen feinen Mann kann ich Ihnen nicht versprechen, aber …“ Er wendete ihre Hand, streckte sie auf der seinen aus und streichelte sie. „Ach Gott, eine so allerliebste weiche kleine Hand!“ Aufstehend beugte er sich über den Tisch und küßte sie eifrig. Dann blickte er auf. „Kann ich die nun behalten?“
Ida suchte sich loszumachen, ohne doch viel Kraft anzuwenden. „Ach gehen Sie!“
„Wenn ich Ihnen aber sage, Frau Ida, daß ich ganz toll verliebt in Sie bin –“
„Es ist ja dummes Zeug.“
„Wozu aber? Wenn Sie wollen, ist es ganz vernünftiges Zeug. Und so ganz gleichgültig bin ich Ihnen doch auch nicht gewesen. Bekennen Sie nur!“
„Lassen Sie mich los!“
„Nun erst recht nicht!“ Er schwang sich über den Tisch und setzte sich zu ihr.
„Was soll Herr Schöneberg davon denken?“
„Ach, der schläft.“ Er umfaßte sie. „Frau Ida!“
„Sie sind so stürmisch.“
„Heut’ oder nie! Sehen Sie mir ’mal in die Augen! Da liegt Herz drin – was? Fest in die Augen!“
Sie that ihm den Gefallen. „Ich kann noch immer nicht glauben –“
„Geben Sie mir einen Kuß, Idachen, und die Sache ist abgemacht.“ Er zog sie an sich.
Sie wehrte sich schwach. „Nein, nein –“
„Ja, ja!“ Er küßte sie. „Abgemacht!“
Sie hatten nicht bemerkt, daß Frau Schöneberg und Frau Streckebein sich vom Hause her näherten und jetzt verwundert zuschauten. „Was geht hier vor?“ riefen die beiden Damen wie aus einem Munde, und die Frau Sekretär fügte ein vorwurfsvolles „Ida!“ hinzu.
Ida war aufgesprungen. „Ach – Herr Opitz ist ganz närrisch,“ sagte sie.
„Mein schüchterner Bruder scheint sich endlich ein Herz gefaßt zu haben,“ bemerkte Frau Schöneberg. „Na, seid Ihr einig?“
„Einig? Was soll das heißen?“
Opitz trat heran. „Frau Sekretär, wenn Sie nichts dagegen haben …“ Er faßte Idas Hand.
Sie ließ es geschehen. „Was sagst Du nun dazu, Mama?“ fragte sie.
Frau Streckebein begriff endlich. Sie wurde sehr gerührt. „Kinder,“ wisperte sie, „mir kann’s ja schon recht sein. Aber so überraschend … wenn nur nichts nachkommt!“
„Und mein Alter schläft den Schlaf des Gerechten,“ rief Rosine, die Hände zusammenschlagend. Sie nahm ihm das Zeitungsblatt vom Gesicht und rüttelte ihn am Arm. „Du, Schöneberg, wach auf! Du verschläfst die Verlobung!“
Er raffte sich auf. „Die Verlobung – was, was, was?“ Eben hatte er etwas sehr Schreckhaftes von seiner Tochter geträumt. „Aber da soll doch –“
„Zieh’ den Rock an und gratuliere,“ sagte seine Frau, über seine Verschlafenheit lachend. Sie half ihm. Schöneberg sah Opitz und Ida Hand in Hand stehen. Nun erst wachte er recht auf. „Ach, Ihr beide. Ich dachte schon … Seht doch einmal! Man kann Euch nicht zehn Minuten aus den Augen lassen. Na – meinen Segen habt Ihr.“
Frau Streckebein hatte sich indessen überall umgesehen. „Wo ist denn Lieschen?“ fragte sie.
Nun blickte auch Ida nach allen Seiten. „Lieschen?“
„Ja, die geht’s doch eigentlich auch an. Wenn das Kind einen neuen Vater bekommen soll …“ Sie rief nach dem Hause hin: „Lieschen!“
„Die Kleine war doch eben noch hier,“ meinte Schöneberg.
Seine Frau gab ihm einen Schlag auf die Schulter. „Du hast ja geschlafen.“
Die Frau Sekretär wurde sichtlich unruhiger. „Ihr müßt doch aber von dem Kinde wissen,“ wendete sie sich zu dem Paar.
„Ich glaubte, Lieschen sei mit Dir ins Haus gegangen,“ entschuldigte sich Ida.
„I, Gott im Himmel,“ rief die alte Dame, „wie kann man so etwas glauben! Man hat doch Augen, zu sehen. Vielleicht ist sie im Stall bei den Pferden – oder am Brunnen … man kann’s gar nicht ausdenken.“ Sie hielt denn auch die Hand vor die Augen und rief wieder: „Lieschen!“
[384] „So lange wir hier am Tisch sitzen –“ sagte Opitz, der eigentlich nicht recht wußte, was er sagen sollte.
„Ich kann mir ja ungefähr denken,“ fiel sie ihm erregt ins Wort, „daß Sie Ihre Gedanken anderswo gehabt haben. Aber daß eine Mutter so ganz und gar ihr Kind außer acht läßt ...“
Opitz war schon fortgeeilt. Er öffnete die Stallthür und sah am Brunnen nach. Vergeblich. Als er zurückkam, gingen die Wogen schon hoch. Die Frau Sekretär lief hin und her. „Aber wo ist Lieschen nur? Lieschen! Lieschen!“
„Aengstige Dich doch nicht,“ bat Ida.
„Nicht ängstigen! Mich wundert, daß Du Dich nicht ängstigst. So ein unmündiges Kind! Lieschen ist ja doch nirgends zu sehen, und auf meinen Ruf antwortet sie nicht. Lieschen!“
Opitz erbot sich, ein Stück in den Wald hineinzugehen und nach ihr zu suchen. Die Frau Sekretär wollte wissen, daß er eine Meile lang und breit sei. „Wenn das Kind sich verlaufen hat, weiß man ja gar nicht, in welcher Richtung! Ach das arme Dingelchen!“
„Aber Liese wird sich doch nicht so weit entfernen,“ meinte Frau Schöneberg. „Gewiß pflückt sie mit Martha Blumen.“
Frau Streckebein hörte nur das letzte Wort. „Blumen! Und ein paar Minuten von hier ist ein Sumpf, wie mir die Wirtin erzählt hat. Wer da hineingerät, ist verloren. Und weiter der Schwarze See, ganz auf Moorgrund! An Sümpfen wachsen die schönsten Blumen, das weiß jedes Kind – die Vergißmeinnicht stehen immer halb im Wasser. Wenn man mit den Füßen einsinkt, kann man nicht mehr heraus. Sie mag auch beim Bücken mit dem Kopf …“ Ein kalter Schauer überlief sie. „O, mein Himmel!“
„Das sind doch aber alles bloß Vermutungen,“ meinte Schöneberg. „Und wenn Martha mit ist –“
„Wenn!“
„Wo liegt denn der schreckliche Sumpf?“ fragte Rosine. „Jetzt im Sommer ist er gewiß auch ausgetrocknet.“
„Solche Waldsümpfe trocknen niemals aus,“ versicherte die Frau Sekretär. „Es bildet sich aber eine Moosdecke darüber, die man für ganz vertrausam hält. Und was hat so ein Würmchen für Erfahrung! Wenn sie eingesunken ist und Martha hat ihr helfen wollen, können sie beide … o, Herr Opitz, laufen Sie und schreien Sie fortwährend! Ich möchte ja selbst, aber mir zittern die Knie.“ Sie ließ sich ganz aufgelöst auf die Bank nieder. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ich meine Gedanken habe.“
Opitz wollte sich nur noch bei der Wirtin genauer nach der Richtung erkundigen. Das that er und eilte dann in den Wald. Ida, die nun auch unruhig geworden war, suchte das Gebüsch ab.
„Neulich war so ein Fall mitgeteilt,“ wimmerte Frau Streckebein, „wo eine Schule spazieren geht und ein Mädchen bleibt zurück und pflückt Blumen am Teich, und wie sich die andern umsehen, ist es verschwunden.“
Schöneberg schlug mit der Hand in die Luft. „In der nächsten Nummer stand ja, daß kein Wort davon wahr gewesen sei!“
„Aber es hätte doch können …“ Plötzlich sprang die alte Dame auf und stieß einen Schrei aus.
„Na?“ knurrte Schöneberg. „Man wird ganz nervös.“
„Der Zigeuner! Es sind Zigeuner im Walde. Sie haben das Kind gestohlen.“
„Aber ich bitte Sie –“
„Ist das etwa nicht möglich? Man liest alle Tage in den Zeitungen von gestohlenen Kindern. Die Zigeuner verstecken sie, bis sie weit fort sind, und richten sie dann zu Kunststücken und zum Betteln ab. Der Kerl, der sich erst hier herumtrieb, sah ganz so aus. Gewiß hat er das hübsche Kind bemerkt und in den Wald gelockt. Mein Lieschen auf dem Seil – ach Gott, ach Gott!“ Ida wollte etwas einwenden aber ihre Mutter fuhr sie gleich an: „Du rede nur gar nicht! Wenn ich so wenig auf Dich aufgepaßt hätte, als mir mein letzter seliger Mann einen Antrag machte –“
„Mama!“
„Man muß sogleich zur Polizei. Sie soll den Wald absperren, das Zigeunervolk nicht herauslassen. Wenn unser Kutscher sich aufs Pferd setzt und nachreitet, holt er vielleicht die Räuber noch ein. Ganz nüchtern freilich war er nicht mehr.“
Inzwischen war die Wirtin aus dem Hause gekommen und herangetreten. Das Lamentieren der alten Dame machte ihr sichtlich Spaß. „Aber meine Herrschaften,“ sagte sie nun lachend, „machen Sie sich doch des Kindes wegen nur gar keine bange Gedanken. Als ich das Geschirr abräumte, sah ich das kleine Fräulein mit dem großen Fräulein dort in den Wald gehen.“
„Na, da haben wir’s,“ rief Schöneberg. „Vielleicht ist unsre Martha auch von den Zigeunern gestohlen.“
Frau Streckebein fühlte sich ein klein wenig erleichtert. „Spotten Sie nur,“ sagte sie, sich mit dem Tuch Kühlung zufächelnd. „Man kann noch nicht wissen –“
„Wo Martha sich mit dem Kinde eigentlich herumtreibt,“ fiel Frau Schöneberg ein. „Um Erlaubnis, fortgehen zu dürfen, hat sie mich nicht gebeten.“
Die Wirtin kicherte. „I, wo wird sie auch! Der junge Herr, der mit dem Zweirad angekommen ist, hat ihr ja so lange gewinkt, bis sie ihm auf dem Wege dort nachgegangen ist.“
„Was, was? Herr Vanhusen?“
„Ich weiß nicht, wie er heißt.“
„Aber er empfahl sich doch längst,“ sagte Schöneberg ganz verblüfft.
„Unerhört!“ rief seine Frau. „Ist das Mädel toll? Mit einem wildfremden Menschen!“
Schöneberg richtete sich auf. „Glaubst Du mir nun, daß der anbandelt, Rosine?“
Er imponierte ihr aber gar nicht. „Das kommt von Deinem unzeitigen Schlafen her,“ schalt sie. „Wenn Du hübsch aufgepaßt hättest –“
Er duckte den Kopf. „Nun geht’s gegen mich los!“
Frau Streckebein trocknete den Schweiß von der Stirn. „Mir ist doch ganz wohl, daß wenigstens ein Mann dabei war,“ sagte sie.
Nun war aber Frau Schöneberg ganz aufgeregt. „Du mußt ihnen sogleich nachgehen,“ rief sie ihrem Mann zu, „so etwas schickt sich doch nicht. Ich bin gewiß nachsichtig – aber so etwas schickt sich doch nicht.“
Darin stand die Frau Sekretär ganz auf ihrer Seite. „J[...] junge Leute miteinander allein zu lassen, ist immer bedenklich[,“] meinte sie. „Meine Cousine Fritze hatte eine Tochter –“
„Geh doch nur,“ sagte die besorgte Mutter. „Es ist ja Unsinn, aber –“
„Da kommen sie schon wieder,“ zischelte die Wirtin, d[ie] hinter das Gebüsch getreten war und ein wenig ausgespäht hatte. „Na, die Schelte!“
Vanhusen und Martha schlenderten wirklich Arm in Arm den Waldweg entlang. Er trug um den Hut einen Kranz von zusammengesteckten Lindenblättern, eine ebensolche Schärpe über der Schulter. Auch Martha hatte sich mit Laub geschmückt und sah wunderhübsch aus. Das verkannte der junge Maler gewiß nicht, der seine Hand anf die ihrige gelegt hatte – der Handschuh war abgezogen – und sie von der Seite her aus möglichster Nähe mit verliebten Blicken betrachtete. Seine kühnsten Erwartungen hatten sich erfüllt; es war ihm gelungen, Martha zu überzeugen, daß man sich keinen größeren Gefallen thun könne, als den Schatten einer alten Linde aufzusuchen, die nicht weit vom Wege und doch durch Gebüsch gegen denselben gedeckt auf einer kleinen Waldwiese stand. Er hatte für sie von den tief herabreichenden Aesten Laub gepflückt und sie durch die Arbeit des Kranzflechtens seßhaft gemacht. Er konnte sich dann neben ihr ins Gras niederlassen und sein Herz erleichtern. Sie lauschte mit willigem Ohr und glaubte nur zu gern seinen Liebesbeteuerungen: wie es ihm gleich bei der ersten Begegnung zur Gewißheit geworden sei, sie oder keine andere, und wie er nun nicht ruhen wolle, bis er sie ganz sein eigen nennen dürfe. Sie hatte ihm gestehen müssen, daß sie ihm sehr gut sei und sich das Leben ohne ihn gar nicht mehr recht denken könne. Und als sie dann seinen Hut bekränzte, war sie kaum sehr erschrocken darüber gewesen, daß er nicht nur ihre Hände, sondern auch ihren Mund küßte und sie in die Arme schloß und gar nicht mehr freigeben wollte. Dann waren sie einig geworden, daß ihre Liebe nicht länger Geheimnis bleiben dürfe; Martha wollte sich noch denselben Abend der Mama entdecken, und Albrecht sollte am andern Tage mit dem Papa sprechen. Der Himmel hing ihnen voller Geigen; am liebsten hätten sie noch ein paar Stunden unter der alten Linde gesessen und der wundersamen Musik zugehört. Nun hatten sie nur zu bedauern, daß der Heimweg so gar kurz sei. Schon wurde das Dach des „Eulenkruges“ zwischen den Stämmen sichtbar. Martha versuchte ihre Hand fortzuziehen. Mit einem zärtlichen Blick sagte sie: „Ich kann Dir meinen Arm nicht länger lassen – wir sind gleich am Hause.“
[386] Er seufzte. „Wir sollten noch einmal umkehren –“
„Nein, nein! Wir sind gewiß schon sehr lange fortgeblieben. Die Zeit vergeht so rasch . . .“
Er umfaßte sie. „Dann schnell noch eine herzliche Umarmung –“
Sie wehrte nicht ernstlich ab. „Aber Du versprachst ja, ganz artig zu sein, bis die Eltern von allem wüßten.“
„Meinetwegen können sie sogleich erfahren –“
„Das geht doch nicht – der andern wegen. Es ist vielleicht besser, wir trennen uns jetzt, und Du – und Sie gehen von der anderen Seite um das Haus herum, damit man gar nicht merkt –“
Zu spät! Eben traten Schöneberg und Frau mit erhitzten Gesichtern hinter dem Gebüsch hervor und auf das Paar zu.
„Aber Martha!“
„Bombenelement! Was soll das bedeuten?“
Sie hatte sich erschrocken losgemacht und stand nun ganz feuerrot da, den Blick zur Erde senkend; der Maler faßte sich rasch. Eigentlich war es ihm ganz lieb, daß diese Ueberraschung zu einem Aussprechen auf der Stelle nötigte. Er lächelte, zupfte das Bärtchen, nickte Martha vergnügt zu und verbeugte sich vor den beiden Alten. „Herr Schöneberg –“
„Papperlapapp! Herr Schöneberg!“ fiel der aber zornig ein. „Sie sind ein hinterlistiger Mensch, Sie! Ich lasse meine Frau nicht malen und meine Tochter nicht umarmen – verstehen Sie?“
Vanhusen ließ sich nicht einschüchtern. „Aber wenn ich Ihnen sage –“
„Schweigen Sie und schämen Sie sich!“ rief der Rentier, indem er seine weiße Weste ruckweise über das runde Bäuchlein hinabzog. „Wie kommen Sie dazu, meine Tochter in den Wald zu entführen?“
„Das will ich Ihnen ja eben erklären, mein werter Herr.“
„Erklären! Sie wollen mir erklären? Sie mir? Das ist impertinent. Was sagst Du dazu, Rosine? Er will mir erklären –“
„Aber so schrei’ doch nicht so!“ mahnte sie. Es war ihr, als ob die spitze Nase der Frau Sekretär schon um das Gebüsch lugte.
Martha warf sich an ihre Brust. „Ach, Mama, wir lieben einander so sehr,“ rief sie.
Vanhusen trat vor. „Ja, Herr Schöneberg,“ bestätigte er, „ich liebe Fräulein Martha.“
„Das sollen Sie nicht, Herr!“ schrie der Alte ihn an. „Verstehen Sie mich? Lieben! Das kann jeder. Sie brauchen wohl zu Ihrem verlorenen Sohn noch eine verlorene Tochter? Was? Ist hier nicht zu haben – können Sie sich auch malen!“
Martha brach in Thränen aus. „Aber wir wollen uns doch heiraten,“ schluchzte sie.
Schöneberg faßte sie am Arm und schüttelte sie, als ob er sie aufwecken wollte. Dabei grinste er höhnisch. „Wollt Ihr? Das ist hübsch von Euch. Dazu gehör’ ich gewissermaßen aber doch auch noch, und die Mutter –“
„Na ja, ja!“ bedeutete die kluge Frau, „aber lärme doch nicht! Man kann’s ja in aller Ruhe . . .“ Martha streichelte ihr fortwährend das Kinn und die Schulter.
„Es war meine Absicht, Herr Schöneberg,“ sagte der Maler, „morgen bei Ihnen feierlich um die Hand Ihres Fräulein Tochter anzuhalten. Meine Verhältnisse –“
„Das werden nette Verhältnisse sein,“ unterbrach Schöneberg ihn, leiser, aber nicht weniger grimmig. „Ein Maler, ein –“
Es kam nicht zur weiteren Auseinandersetzung, denn in diesem Augenblick rief Frau Streckebein, die sich neugierig genähert hatte: „Aber wo ist denn nun Lieschen?“
Martha zuckte merklich zusammen. „Lieschen?“
Auch Vanhusen sah sich ganz verblüfft um. „Lieschen?“
„Herr Gott, ja! Wo ist denn Lieschen?“ wiederholte die Frau Sekretär dringlicher. „Man wird von alledem so baff . . .“
„Wo ist Lieschen?“ fragte nun auch Frau Schöneberg.
„Sie haben das Kind in den Wald mitgenommen,“ sagte Ida, die sich nun ebenfalls herangefunden hatte.
Martha stand ganz verwirrt da. „Ich – ich – ich –“ stotterte sie. Lieschen war wirklich nirgends zu sehen.
„Leugnen Sie nicht!“ donnerte die alte Dame. „Die Frau Wirtin hat es bemerkt. Mein Gott, und wir hofften schon –“
„Ja, ja – ich bat Lieschen, weil ich doch nicht allein –“
„Wo ist sie nun?“ riefen Schönebergs wie aus einem Munde.
„Ach – sie kam mit uns, und ich hatte sie eine Weile an der Hand, bis Albrecht –“
„Wer ist Albrecht?“ schrie Schöneberg sie wieder an.
„Herr Vanhusen, wollt’ ich sagen. Und dann setzten wir uns unter die alte Linde und flochten Kränze, und Lieschen pflückte Blumen –“
„Am Sumpf?“ fiel Frau Streckebein ein.
„Nein, auf der Wiese dicht nebenan. Und ich habe sie doch noch ganz zuletzt gesehen –“
„Ja, sie konnte sich gar nicht weit entfernt haben,“ versicherte der Maler. „Uebrigens dürfen wir ja nur die paar Hundert Schritte –“
„Wir haben unser Lieschen verloren“ jammerte Frau Streckbein. „Jetzt ist sie wirklich fort!“ Sie stützte sich auf Ida, die schon gar nicht mehr einen Einwand wagte.
In den nächsten Minuten herrschte eine beklommene Stimmung. Endlich rief Ida: „Da kommt Herr Opitz zurück.“
„Hat er sie?“ fragte ihre Mutter.
Ida zögerte mit der Antwort. „Nein – er kommt allein.“
„Allein?“
„Leider.“
Opitz kam ganz außer Atem angelaufen. Er hatte Lieschens Strohhut in der Hand. „Alles Suchen – in der Nähe – vergeblich,“ keuchte er. „Aber eine Spur wenigstens –“
Ida ging ihm entgegen. „Lieschens Hut!“
„Lieschens Hut . . .“ wiederholte die alte Dame fast tonlos. Jakob konnte nicht erschrockener gewesen sein, als man ihm Josephs bunten Rock brachte. Sie war einer Ohnmacht nahe.
„Wo fanden Sie den Hut?“ fragte Ida.
Opitz atmete stark. „Unter einer alten Linde. Es waren viele Blätter abgerissen und auf dem Grase verstreut. Lassen Sie mich nur erst – zu Atem kommen – ich bin so gelaufen, Ihnen die Nachricht zu bringen. Man weiß nun doch, in welcher Richtung ... Ich gehe gleich wieder – und ruhe nicht eher, als bis ich“ – er sah Ida zärtlich an – „bis ich unsere Tochter gefunden habe.“
„Sie guter Mensch!“ lohnte ihm’s Ida.
Er legte die Hand aufs Herz. „Ach, Frau Ida! Was mir beim Suchen so alles durch den Kopf gegangen ist – und durchs Herz . . .“
„Wir können ja mitgehen“ meinte Vanhusen, „und von der Linde aus nachforschen.“ Er wendete sich an Schöneberg. „Wenn Sie erlauben, daß Fräulein Martha mich begleitet –“
Der aber fauchte: „So eine Dreistigkeit – da hört alles auf! Nein, Martha bleibt hier und nimmt das Grünkraut ab. Wenn Sie damit nach der Stadt radfahren wollen, hab’ ich nichts dagegen. Gar nichts! Aber kommen Sie keinem Schutzmann zu nahe, rate ich Ihnen.“
Martha schluchzte laut: „Ach Gott! Ich habe das ganze Unheil angerichtet.“
„Ja,“ sagte Schöneberg, „mir ist das Kremservergnügen gründlich verdorben.“
Eben hatten die Männer einen Plan festgestellt, wie man den Wald absuchen wollte, als die Wirtin vom Hause her rief: „Der Zigeuner!“
Dieses Wort versetzte Frau Streckebein wieder in die schlimmste Aufregung. Sie eilte der Fraü entgegen. „Der Zigeuner? Wo? Haltet ihn, bindet ihn! Er soll sagen –“
„Aber er bringt ja das Kind,“ beruhigte die Wirtin.
„Er bringt das Kind – der Zigeuner ...“ Alles atmete auf.
Vom Walde her kam wirklich der Zigeuner. Er hatte Lieschen an der Hand. Frau Streckebein, Ida, Opitz, Frau Schöneberg liefen auf ihn zu und nahmen ihm das Kind ab. „Lieschen, bist Du’s wirklich – wo hast Du gesteckt – Lieschen, mein liebes Lieschen!“ Die Kleine flog aus einem Arm in den andern und wurde so lange stürmisch geherzt und geküßt, bis sie zu weinen anfing.
„Bring’ ich gnädige Herrschaften wieder kleines Fräulein,“ sagte der Zigeuner, mit dem ganzen Gesicht lachend. „Hat sich verlaufen in Wald und sehr geängstigen. Bin ich gekommen vorbei ganz zufällik und haben gleich gemerken, daß gehören hierher. Hat kleines Fräulein nicht wollen mitkommen, weil sich fürchten vor häßliches Zigeuner, aber gut zugereden und genommen an Hand und bringen hierher zu gnädige Herrschaften.“
Ida reichte ihm bewegt die Hand. „Dank, tausend Dank, braver Mann!“
Der Zigeuner hatte erwartet, daß sie ihm etwas zustecken [387] würde, und fand sich getäuscht. „Hatt’ ich gehofft, daß einiges Nickel . . .“ schmunzelte er.
„Ein Wunder, daß er das Kiud nicht gestohlen hat,“ rief die Frau Sekretär.
„Ja, seine Ehrlichkeit soll belohnt werden,“ sagte Opitz und zog seine Börse heraus.
„Ach, mein gnädigstes Frau Madam,“ grinste der Zigeuner, sich mit aufgehaltenem Hut nähernd, „was soll armes Zigeuner anfangen mit so großes Gör? Hat selbst knapp zu essen. Ja, wenn gewesen wär’ eine ganz kleine Kind, wo noch nicht kann sprechen . . .“ Einige Münzen fielen in seinen Hut. „Danke schön, danke. Armes Zigeuner immer ehrlich.“ Von allen Seiten regnete es Geldmünzen. „Danke, danke, meine gnädigsten Herrschaften. Bin ich so glücklich.“ Er hielt immer wieder den Hut auf, endlich auch vor Frau Streckebein, die noch im Rückstande war. Sie hatte ein Markstück aus ihrem Täschchen genommen, hielt sich aber in einiger Entfernung und wich jetzt zurück. „Geben Sie ihm das, lieber Opitz,“ flüsterte sie, „es ist mir so ängstlich . . . Lieschen, komm hierher!“ Sie nahm die Kleine an die Hand.
Der Zigeuner ließ das Geld im Hut tanzen. „Nun seien armes Zigeuner reich,“ rief er. „Hoiaho! Wann ’mal wieder kommen in Wald – können ruhig Kind verlieren – bringen immer zurück. Hoiaho!“ Lustig sprang er fort.
Man kehrte an den Tisch zurück. „Sie sollten doch gleich anspannen lassen, Herr Schöneberg,“ sagte Frau Streckebein nach einer kleinen Weile. „Wer weiß . . .“
„Aber nun ist ja alles gut,“ meinte er wieder bei besserem Humor.
„Alles, Herr Schöneberg?“ fragte Vanhusen pfiffig. Er hatte mit der künftigen Schwiegermama viel gezischelt.
„Ach, die verlorene Tochter ist wieder da, das genügt.“
„Und wir können nun doch die Verlobung feiern,“ bemerkte Opitz.
Martha fiel ihm um den Hals. „Die Verlobung – ach ja!“
„Du weißt ja noch gar nicht –“
Sie nickte dem Maler zu und wollte ihm die Hand reichen. Der Papa trat aber dazwischen „Willst Du wohl! Vom Onkel Opitz und Frau Ida ist die Rede.“
Martha zog ein Mäulchen. „Ach so . . . Onkel Hermann und . . .“ sie nickte Ida wehmütig freundlich zu. „Ich gönn’s Ihnen von Herzen, aber ich hätte doch auch so gern . . . Und was die Feier betrifft, es wäre schon in Einem hin gegangen!“
Frau Schöneberg sprach davon, daß sie ins Haus gehen und die Bowle bereiten wollte. Nach all dem Schreck und Aerger werde ein Gläschen von dem kühlen süßen Wein gewiß schmecken. Vanhusen bot ihr seine Dienste an – „Wahrhaftig, ganz uneigennützig,“ versicherte er. „Ich bin heute Egoist; wenn ich nicht auf mein eigenes Wohl anstoßen kann, trinke ich keinen Tropfen.“ Er behauptete, sich auf das Brauen von Bowlen zu verstehen. Frau Schöneberg meinte zwar, es sei nicht nötig, daß er sich bemühe, wies ihn jedoch so sanft ab, daß er’s wohl meinte wagen zu dürfen, ihr ins Haus nachzugehen. Sie litt dann auch, daß er die Flaschen entkorkte und zusammengoß, während sie den Zucker auflöste. Dabei fiel denn ein Wörtchen hier und ein Wörtchen da und nach kurzer Zeit war man bei dem Thema, das beide nun doch am nächsten anging.
„Ihr Herr Gemahl scheint mir wirklich recht böse zu sein.“
„Na – Sie haben es auch ehrlich verdient.“
„Wirklich?“ fragte er und sah sie dabei bittend an.
„Es müssen da schon allerhand Heimlichkeiten vorangegangen sein.“
„Ja, wie soll man denn dahinter kommen, ob man Hoffnung hat –“
„In einem gut bürgerlichen Hause macht sich so etwas doch anders.“
„Ich bin ein Künstler, verehrteste Frau, und habe heißes Blut, dem Sie schon etwas zu gute halten müssen. Ich würde mir sehr lächerlich vorgekommen sein, wenn ich in Frack und weißer Binde angetreten wäre, mich den lieben Eltern als Heiratskandidaten vorzustellen und gehorsamst anzufragen, ob ich’s nach den Umständen wagen dürfe, mich um des Fräuleins Neigung zu bemühen. Erst mußte ich sicher sein, des Mädchens Herz zu besitzen, das ich liebe. Jetzt weiß ich’s. Worauf sonst hätte ich auch meine Werbung stützen können, als auf das Einverständnis gegenseitiger Neigung?“
„Na ja, das läßt sich ja hören,“ gab sie unwirsch zu. „Aber so ein junges Ding verleiten, sich gleich hinter dem Rücken der Eltern zu versprechen . . .“
„Es ist nun einmal geschehen. Wollen Sie wirklich so grausam sein, gnädige Frau, uns zu trennen? Und gewaltsam trennen müßten Sie uns jetzt. Ich will Ihre Güte nicht für mich anrufen, aber daß Sie es übers Herz bringen könnten, Ihr Kind unglücklich zu machen, werde ich nicht glauben.“
„Ach, das geht bei Martha nicht so tief.“
„Es geht so tief, verlassen Sie sich darauf.“
Frau Schöneberg rührte die Bowle um. „Aber es ist doch keine Vernunft darin. Worauf wollen Sie heiraten?“
„Es braucht ja nicht gleich in sechs Wochen die Hochzeit zu sein. Wir sind beide noch jung –“
„Ja, sehr jung, Martha wenigstens. Ein langer Brautstand ist gar nicht nach unseren Wünschen. Und wenn wir allenfalls auch vermögend genug wären – hm, hm . . . so ein Maler steht doch eigentlich nie auf eigenen Füßen.“
Er klopfte die Ananas aus dem langen Glase. „Erlauben Sie, meine verehrte Frau Schöneberg, auch die Kunst nährt unter Umständen ihren Mann, und nach dem Aufsehen zu schließen, das mein ‚Verlorener Sohn‘ erregt . . . Sie sollten sich’s wirklich doch überlegen. Eine so ganz verächtliche Partie bin ich am Ende nicht.“
Frau Schöneberg goß aus dem großen Löffel in ein Glas ein, schmeckte und reichte es ihrem Gehilfen. „Ich denke, wir können mit unserem Gebräu zufrieden sein.“
Er leerte das Glas. „Auf Ihr Wohl, gnädige Frau!“
Sie nickte ganz freundlich und rief die Wirtin herbei, um von ihr die Terrine mit dem edlen Naß hinaustragen zu lassen. Sie selbst folgte ihr auf dem Fuße, ohne sich um den Maler weiter zu bekümmern. Vanhusen sah ihr durchs Fenster nach. Er bemerkte, daß sie, am Tisch angelangt, sehr bald ihren Mann beiseite nahm und eifrig auf ihn einredete. Aha! dachte er, das gilt mir. Er meinte, jedenfalls nicht ohne Abschied wegfahren zu dürfen, und begab sich deshalb nochmals zur Gesellschaft zurück.
Er hatte richtig vermutet. Frau Schöneberg führte ihm bei ihrem noch immer sehr bocksteifen Manne das Wort. „Was kommt da heraus, wenn wir uns auf die Hinterbeine setzen?“ meinte sie. „Etwas Vernünftiges schwerlich. Einsperren können wir Martha doch nicht. Und wer weiß, was da weiter heimlich geschieht. Herr Vanhusen ist ja auch immer ein Mensch, mit dem sich rechnen läßt. Hat er ein bißchen Glück, so kann er’s zum Professor bringen. Einmal muß man ja doch seine Tochter verlieren. Und weil Martha doch unser einziges Kind ist – und es uns aufs Geld nicht ankommt . . . Na, was meinst Du, Alter? Zu bedenken wär’s am Ende.“
„So schwach sind die Weiber,“ seufzte er, doch eigentlich ganz froh, nachgeben zu dürfen. Er konnte es ja schon gar nicht mehr ansehen, daß Martha abseits an einem Tisch saß, die Arme aufgestützt hatte und in ihr Tuch weinte.
Als nun Vanhusen kam, sich zu verabschieden, sah er ihn prüfend von oben bis unten an, gab seinem Kopf eine wackelnde Bewegung, zog den Mund schief und wieder gerade und prustete. „So ein Maler ist doch ein kurioser Kerl,“ sagte er. „Sie denken also wirklich in allem Ernst daran ... na, still jetzt! Wir wollen nächstens ’mal Ihre – Verhältnisse besprechen. Heute trinken wir in aller Gemütlichkeit unsere Bowle. Du hast doch nichts dagegen, Opitz?“
„Und ich darf mittrinken?“ fragte Vanhusen rasch.
„Meinetwegen,“ sagte Schöneberg, „aber –“ Martha war aufgesprungen und hatte sich genähert – „par distance, wenn ich bitten darf.“ Martha flog ihm an den Hals und drohte ihn mit ihren Küssen zu ersticken. „Schon gut – schon gut – schon gut,“ wehrte er ab.
„Und abends fährt Albrecht mit auf unserm Wagen nach Hause,“ schmeichelte sie. „Das Zweirad kann ja aufgebunden werden. Nicht wahr, Papachen?“
„Das wollen wir uns noch überlegen“ antwortete er schmunzelnd.
Opitz hatte auf einen Wink seiner Schwester die Gläser gefüllt.
„Also – an die Gewehre!“ rief Schöneberg wieder bei bester Laune. „Kinder – ich will keine Rede halten, aber so eine Kremserfahrt ist doch etwas. Und wenn auch ... na, trinken wir erst ’mal auf die ‚verlorene Tochter‘!“
„Du rührst Dich nicht von meinem Schoß, Lieschen,“ sagte Frau Sekretär Streckebein, sie fest im Arm haltend.