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Die tanzenden Heiligen von Watervliet

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Textdaten
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Autor: Moritz Busch
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Titel: Die tanzenden Heiligen von Watervliet
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, 8, S. 112–115, 130–132
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[112]
Die tanzenden Heiligen von Watervliet.
Von Moritz Busch.
I.
Nach der Shakerstadt. – Nüchternheit und Stille. – Eine unheimliche Begegnung. – Bei einem deutschen Shaker. – Ein ungelöstes Geheimniß. – Elder Pelham. – Geschichte der Secte. – Christus als Frau wiedergekommen. – Dogmatik und Moral der Shaker. – Ihre Verfassung.


Seit länger als einem Jahre schon spukt in den englischen, und seit einigen Monaten erscheint gelegentlich auch in den deutschen Zeitungen eine wunderliche Secte, die man die Shaker nennt, und die, da ihr Hauptglaubenssatz darin besteht, daß Christus vor etwa hundertdreißig Jahren in Gestalt einer Frau wiedergekommen ist, um die Erlösung der Menschheit zu vollenden, wohl interessant genug ist, um auch in der „Gartenlaube“ für ein Stündchen Zutritt zu finden. Die Shaker sind zwar Communisten, duften aber nicht im Mindesten nach Petroleum. Sie halten die Ehe für Sünde, aber unsere jungen Damen sowie deren Mütter werden, wenn sie diese Meinung selbstverständlich nicht billigen, wenigstens die Art und Weise, auf die man dieselbe rechtfertigt, ziemlich ergötzlich finden. Sie verehren Gott endlich durch Tanz, und ich irre kaum, wenn ich von der schöneren Hälfte der Leser annehme, daß dieser Zug sie ihr weniger unangenehm als sympathisch machen wird, und da sie [113] mit Salbung tanzen, so wird auch die andere Hälfte, mit Einschluß der Herren Pastoren, ihnen am Ende nicht gram sein dürfen. Und nun wollen wir uns nicht mehr mit Empfehlungen und Entschuldigungen meiner Freunde aufhalten, sondern stracks in die Sache selbst hineinspringen.

Als ich mich im Herbst 1851 zu Dayton im südlichen Ohio aufhielt, hörte ich unter andern curiosen Dingen auch, daß nicht weit von der Stadt eine Ansiedelung von Shakern sei.

Es war am Nachmittage des 3. October, als ich meinen Entschluß in’s Werk setzte und nach ungefähr zweistündiger Wanderung, meist durch schönen Laubwald, vor meinem Ziele anlangte. Das Volk nennt die Niederlassung, die südöstlich von Dayton an einer Seitenstraße der nach Cincinnati führenden Chaussee liegt, schlechthin „Shakertown“, Shakerstadt, während sie auf der Landkarte Watervliet heißt. Sie befindet sich inmitten einer weiten Rodung im Walde, durch die sich ein kleiner Bach, der Beaver-Creek, von der Hügellehne herabschlängelt, und besteht aus einer Gruppe von Häusern und Häuschen, die von wohlbebauten Mais- und Weizenfeldern und einem weitläufigen Garten mit Apfel- und Pfirsichbäumen umgeben sind. Die kleineren Gebäude, theils Blockhütten, theils Bretterhäuser, sind mit schreienden Farben, eines eigelb, zwei oder drei schneeweiß, eines maigrün, angestrichen. In dem Hauptgebäude, einem ziemlich großen Hause von rothen Backsteinen mit einem grauen Schindeldache, das ungefähr die Mitte der Gruppe einnahm, vermuthete ich die eigentliche Wohnung der Gemeinde, und so lenkte ich meine Schritte dahin.

Das Bild der „Shakerstadt“ war freundlich, aber nicht schön. Ihre Bewohner waren offenbar nüchterne poesielose Leute. Dem Garten fehlten Blumen, Strauchwerk und Schattenbäume; die Häuser zeigten nicht einmal den Versuch zu einer Verzierung. Der Friedhof am Wege war nichts als ein verwilderter Grasfleck; die Gräber hatten weder Hügel noch Denksteine mit Bildwerk oder Inschriften und waren nur mit rohen Platten, wie man sie auf dem Felde daneben gefunden haben mochte, als solche bezeichnet.

Unbehaglich, fast unheimlich war das tiefe Schweigen, das ringsum herrschte. Es war erst drei Uhr Nachmittags und die ganze Gegend so völlig ruhig und einsam, als ob es Mitternacht gewesen wäre. Eine stille Kuhheerde weidete innerhalb einer Umzäunung; sonst war weit und breit kein lebendes Wesen zu sehen. Kein Laut ließ sich hören als das leise Murmeln des Baches und – halt! doch etwas Menschliches – das Klappern eines fernen Webstuhles, das aber auch das Hacken eines Spechts im nahen Walde sein konnte. Wäre das Hauptgebäude, vor dem ich endlich anlangte, stattlicher gewesen, so hätte ein Tourist, phantasievoller als ich, ohne Zweifel an ein verzaubertes Schloß gedacht – wenigstens in seinem späteren Berichte. Mir war es mit seiner unromantischen Nüchternheit und seiner anscheinenden Ausgestorbenheit nur ein peinliches Geheimniß, das durch die erste Begegnung mit einem der Bewohner dieser stillen Welt eben nicht minder peinlich wurde.

Ich mochte fünf Minuten vor der Thür gestanden haben, als ich aus dem Walde hinter dem Hauptgebäude einen Mann in Shakertracht auf mich zukommen sah. Er trug einen Strohhut mit so breitem Rande, daß man einen Brunnenmund damit hätte zudecken können, einen graublauen Rock, der hinten unmittelbar unter dem Kragen kittelartig in Falten gelegt war, und gewöhnliche Beinkleider von derselben Farbe. Als er näher kam, sah ich ein bleiches, faltiges Gesicht und hohle, düstere Augen. Den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken, schien er, ohne mehr als flüchtig Notiz von mir zu nehmen, scheu an mir vorüber zu wollen. Ob er sich ein neues Dogma überlegte oder eine Predigt memorirte? Ob alle Shakers daheim so in sich gekehrt, so ungesellig, so griesgrämig einherwandelten? Zu der Stille ringsum hätte es gepaßt, aber ermuthigend für mich war es nicht. Wie, oder war der finstere Träumer etwa tiefsinnig, gestörten Geistes, daß er meinen Gruß nicht beachtete? „Das fängt schön an,“ sagte ich zu mir, als ich, durch seine Unhöflichkeit nicht abgeschreckt, wenn auch ein wenig verlegen, die Frage an ihn richtete, ob man hier eintreten und von der Einrichtung des Hauses und seiner Insassen Kenntniß nehmen dürfe, und nur ein unverständliches Brummen zur Antwort erhielt.

Indeß kam es besser, als ich nach diesem ersten Auftritte der Tragikomödie, die mit dem Erscheinen des Blaugrauen begann, hoffen konnte. Der Wahnsinnige – das war er, wie ich später erfuhr, in der That – verschwand um die Ecke, und aus der Thür trat ein zweiter Shaker mit einem freundlichen, breiten, rothen Gesicht, in Hemdsärmeln, kaffeebrauner Schoßweste und gleichfarbigen Hosen. Er trug keinen Hut und die grauen Haare über der Stirn kurz verschnitten und hinten lang, ungefähr wie die Deutschen im Mittelalter – eine Haartour, der ich später bei allen Männern und Knaben der Secte wieder begegnete. Ich grüßte und wurde wieder gegrüßt. Ich wiederholte ihm den Zweck meines Kommens und erhielt, nachdem er einen prüfenden Blick auf mein Gesicht geworfen und vermuthlich Gutes darin gelesen, den Bescheid, wer in der ehrlichen Absicht, ihre Lehre und ihr Gesetz kennen zu lernen, bei ihnen Einlaß begehre, sei willkommen. Es stelle sich freilich, sagte er, zu Zeiten schlimmes Volk hier ein, und so schien er denn wieder mißtrauisch zu werden. Wenigstens meinte er, die Regel erfordere, daß er über meinen Wunsch erst den Aeltesten befrage. Ich gab ihm weiteren Aufschluß über meine Person und meine Absichten, und obwohl er schwerlich begriff, daß Jemand fünftausend Meilen weit hierher kommen könne, blos um eine Secte zu studiren, vielmehr, wie dies auch sonst bei ähnlichen Leuten in Amerika vorkommt, der Meinung sein mochte, ich wolle entweder bekehren oder bekehrt werden, schien er es doch vorläufig mit mir soweit wagen zu wollen, daß er mich einließ und dann erst zum Aeltesten ging.

Wir traten durch die Hausthür in einen unten mit braunem Holze getäfelten, oben einfach geweißten Gang, dessen Fußboden gelb lackirt und der Länge nach mit schmalen Bastmatten belegt war. Rechts und links öffneten sich mehrere Thüren. Auch hier war Alles still. Nicht einmal das Picken einer Uhr ließ sich hören. Mein Begleiter klopfte an eine der Thüren zur Rechten. „Herein!“ sagte auf Englisch eine Baßstimme. Wir gingen hinein und standen in einer Stube, die wie der Gang gemalt und getäfelt war, und die außer einem großen Himmelbette und einer altmodischen Schublade an Hausgeräth nur noch einige Stühle mit Sitzen aus Spahngeflecht hatte, welche zum Theil an Pflöcken an der Wand hingen. Mein Führer stellte mich als „Freund Maurice“ einem Manne in Shakertracht vor, der, mit dem Flechten einer ähnlichen Brunnenbedeckung beschäftigt, wie sie der Wahnsinnige draußen getragen, am Fenster saß, und den er „Bruder Harmon“ nannte. Derselbe mochte ein hoher Vierziger sein und hatte eine große silberne Brille auf der Nase. Er nahm einen Schaukelstuhl von der Wand und lud mich zum Sitzen ein. Nach der Brille rechnete ich ihn zu den gelehrten Ständen; nach den ersten Sätzen des Gesprächs, das sich nach dem landesüblichen Händeschütteln entspann, glaubte ich auch zu wissen, daß ich einen Landsmann vor mir habe. Ein Deutscher, der studirt hatte, unter den Shakern – Saul unter den Propheten!

Die Vermuthung bestätigte sich, als der Andere ging, um nunmehr dem Aeltesten meine Ankunft zu melden. Wir setzten jetzt unsere Unterhaltung in der bequemeren Sprache unserer Mütter fort. Sein Dialekt bezeichnete ihn als Norddeutschen. Ich sagte ihm, daß ich Theolog sei, und er war offenbar auch vom Handwerk. Zwar gestand er das nicht ausdrücklich, aber die Art, wie er meine Fragen nach dem Glauben seiner „Denomination“ (der Ausdruck Secte ist hier verpönt, weil beleidigend) beantwortete, genügte vollständig. Ueber seine persönlichen Verhältnisse erfuhr ich zunächst von ihm nichts, als daß er sich seit dem letzten Herbste hier befand. Indeß hatte ich bald den Eindruck, daß er sich hier nicht zu Hause fühlte und daß seine Ueberzeugung von den Wahrheiten des Shakerkatechismus nicht gerade felsenfest stand. Nach einer Weile mußte er mehr Vertrauen zu mir gewonnen haben. Augenscheinlich wollte er mir etwas mittheilen, was ihn bedrückte. Aber war es nun Scham oder die Furcht, behorcht zu werden, so oft er dazu ansetzte, stockte er und sprach dann von Anderem. Dann kam es ihm wieder auf die Lippen. Er sah zum Fenster hinaus, wie um sich zu vergewissern, daß kein Lauscher da sei, und öffnete, offenbar zu demselben Zwecke, die Thür. Er war jetzt sicher in Betreff der Anderen, aber wieder schien er ungewiß geworden, ob ich sein Geheimniß wissen dürfe. Er schwieg [114] einen Augenblick, heftete einen scheuen, traurigen Blick auf mich und schlug die Augen nieder. Endlich sah er auf und sagte:

„Darf ich Ihnen etwas mittheilen?“

Ich wollte ihm eben bejahend antworten, als die Hausthür ging und Schritte auf dem Gange sich hören ließen. Es klopfte, und zwei andere Mitglieder der Gemeinde traten ein, die den weithergekommenen Fremden auch sehen und begrüßen wollten. Unter diesen Umständen verschloß Bruder Harmon seine Offenbarung natürlich wieder, und wir kehrten zum Credo der Shaker, zu ihren Sitten und Bräuchen, zu ihren gesellschaftlichen Einrichtungen und Aehnlichem zurück.

Die Neuhinzugekommenen waren freundliche, gutherzige Leute, nach den Fragen aber, die sie an mich richteten, so unbekannt mit den Dingen in der Welt draußen, wie neugeborene Kinder. Sie nahmen an, ich werde die Nacht bei ihnen bleiben. Ich mußte dies eines Versprechens halber, das mich zum Abend nach Dayton rief, ablehnen, sagte aber auf ihre Bitte zu, morgen zurückzukehren und dann länger bei ihnen zu verweilen, was Bruder Harmon mit einem dankbaren Blicke beantwortete.

Als ich mich verabschiedete, erbot er sich, mich zu begleiten, vielleicht, um auf dem Wege Gelegenheit zu nehmen, mir zu offenbaren, was er durch das Hinzukommen der Brüder zu sagen verhindert worden war. Aber ich weiß nicht, wie es kam, er schien wieder den Muth verloren zu haben. Statt zu beichten, zeigte er mir nur die Gebäude der Colonie und erklärte mir ihre Bestimmung. Das maigrün angestrichene Häuschen war das Bureau des Diakons, das zugleich als Herberge für besuchende Brüder dient. Eine weißgetünchte Blockhütte enthielt Betten für profane Fremde. In einer anderen unterrichtete der freundliche Alte, der mich hereingeführt, vier Knaben. Ein größeres Gebäude war das Arbeitshaus der Schwestern. Nicht weit davon stand eine Wagenfabrik. Ein einfaches Bretterhaus ohne Thurm und Glocke war das Meetinghaus oder die Kirche der Gemeinde. Zuletzt besuchten wir noch die Färberei und die Werckstätte, wo die Shaker ihre Kleiderstoffe verfertigen, und wo ich dem einen der beiden Vorsteher der Niederlassung, dem Elder Richard Pelham, der hinter einem Webstuhl saß, vorgestellt wurde. Es war ein hageres, dunkelhaariges Männlein mit lebhaften braunen Augen, das sich sofort anschickte, mir über die Shakerreligion ausführlichen Bescheid zu geben, und als ich erklärte, aufbrechen zu müssen, wenn ich vor Dunkelwerden wieder heim sein wolle, mich dringend einlud, morgen wieder zu kommen und so lange zu bleiben, wie es mir gefiel.

So ging ich denn, ohne Bruder Harmon’s Geheimniß mitzunehmen, und so leid es mir thut, auch die Leser dürfen es aus Rücksichten auf die wirksamste Anordnung meines Stoffes heute noch nicht erfahren. Ueber acht Tage also, wenn wir uns wiedersehen und ich die Shakers habe tanzen lassen, fällt der Schleier und löst sich das Räthsel, von dem ich, um die Spannung zu steigern, hier nur noch so viel verrathen will, daß sein Kern ein tragikomischer ist. Damit der Leser aber heute nicht blos Einleitung zu sehen bekommt, will ich ihm in der Kürze berichten, was ich über die Geschichte und die Glaubenslehre der Secte in Erfahrung gebracht habe.

Die Secte der Shaker ist zu Bolton in Lancashire entstanden, und zwar aus einer kleinen Gemeinde von Mystikern, die vor ungefähr hundert und dreißig Jahren von Tage zu Tage auf die Wiederkehr Jesu hoffte. Diese Hoffnung erfüllte sich, indem 1758 Ann Lee der Gemeinschaft beitrat. Dieselbe war damals zweiundzwanzig Jahre alt, mit dem Hufschmied Stanley verheirathet und Mutter von vier Kindern. Durch glühende Frömmigkeit und bedeutende Rednergabe ausgezeichnet, sowie in unmittelbarem Verkehre mit dem Himmel stehend, nahm sie bald die erste Stelle unter den Uebrigen ein. Die Offenbarungen, die sie erhielt, wurden Glaubenssätze, und nachdem man die Vermittlerin eine Zeitlang als „geistige Mutter“ verehrt, erfuhr man, daß sie der zur Aufrichtung des tausendjährigen Reichs wiedergekommene Christus sei. Da Spott und Verfolgung nicht ausblieben, empfing Ann 1772 die Weisung, nach Amerika auszuwandern, ein Geheiß, dem sie mit ihren Anhängern zwei Jahre später nachkam. Dreißig Köpfe stark, siedelten sich die „Kinder der Mutter Ann“ in den Wäldern von Niskayuna bei Albany an, wo sie, obgleich auch hier wiederholt Verfolgung wider sie ausbrach und Ann mehrmals in’s Gefängniß wandern mußte, allmählich an Zahl wuchs, sodaß die Gemeinde nach einigen Jahren schon über tausend Seelen stark war und außer der ersten Colonie New-Lebanon bereits eine andere zu gründen begann. Auch als Ann, die „Schwester und Braut Christi“, am 8. September 1784 das Zeitliche gesegnet, breitete sich der Shakerglaube noch weiter aus. Die Ansiedelungen gediehen unter ihrer communistischen Verfassung, und gegenwärtig existiren deren achtzehn, von denen vier auf den Staat Ohio kommen. Die Gesammtzahl der in diesen Niederlassungen befindlichen Shaker soll gegen viertausend betragen, zu denen seit etwa zwei Jahren noch einige Hundert in England kommen.

Der Glaube der Shakers läßt sich kurz in folgende Sätze zusammenstellen: Sie sind Chiliasten, unterscheiden sich aber von den übrigen Secten dieser Richtung wesentlich dadurch, daß nach ihnen, während jene auf die baldige Wiederkunft Christi zur Errichtung des tausendjährigen Reiches auf Erden nur hoffen, dieses Reich bereits besteht. Im Jahre 452 nach Christo, so beweisen uns ihre Dogmatiker ebenso ausführlich, wie haarscharf, begann mit Begründung der päpstlichen Macht das Reich des Antichrists, welches nach der Offenbarung Johannis dem zweiten Auftreten des Heilandes auf Erden vorausgehen soll. Es breitete sich zur Herrschaft über die Welt aus und nahm dann seit der Reformation, die[WS 1] den „großen Drachen“ aber nicht tödtete, sondern nur in zwei Theile zerriß, allmählich wieder ab. Der göttliche Geist Christi, des „Sohnes der ewigen Mutter Weisheit“, kehrte während dieser Herrschaft des Antichrists in den Himmel zurück, um dort seine Wiederkunft „in und mit der heiligen Braut, welche die Tochter der ewigen Weisheit ist“, vorzubereiten, und als die Zeit erfüllet war, im Jahre 1747, ließ er sich auf Ann Lee herab, um durch eine zweite Erlösung der Menschheit sein tausendjähriges Friedensreich zu gründen, in dem die Sünde keine Stätte hat.

Wenn man fragt, warum er in Gestalt eines Weibes wiederkam, so antworten die Shaker: Die Sünde kam durch Adam und Eva, unsre ersten Eltern in die Welt, und zwar durch die erste Vermischung der Geschlechter. Sie kann nur durch die Wiedergeburt aufgehoben werden, und zu dieser bedarf es, wie zur leiblichen Geburt, nicht blos eines Mannes, sondern auch einer Frau. Christus steht als zweiter Adam, Ann Lee als zweite Eva am Anfang der letzten Periode der Menschengeschichte. In ihrer Ehe wird fortan Jeder, der an sie glaubt, geistig von Neuem erzeugt und wiedergeboren, und diese Zeugung und Geburt soll hinfort die einzige sein. Wer daher zu den Heiligen des tausendjährigen Reiches gehören will, hat sich alles geschlechtlichen Verkehrs, aller irdischen Liebe zu enthalten oder, um mit den Shakern zu reden, „sein Kreuz auf sich zu nehmen“. Die Welt, der Staat, die bürgerliche Gesellschaft hat mit dem Reiche Christi und der „Mutter Ann“ nichts zu schaffen; alles Weltliche ist daher nach Möglichkeit zu meiden, und so verlangt ein zweites Gebot die Trennung von den Kindern der Welt, die Ablehnung ihrer Ehren und Aemter und die Sammlung der Gläubigen in abgeschlossenen Gemeinden. Als dritte Pflicht tritt eine friedfertige Gesinnung und Haltung gegen Jedermann hinzu, die alle Anwendung von Zwang und Gewalt und selbstverständlich die Theilnahme am Kriegsdienst verschmäht. Sodann soll der Shaker nicht schwören und keine die Gleichheit der Menschen verneinenden Ausdrücke brauchen, weshalb er nicht blos keinen Titel annehmen, sondern auch Niemand mit einem solchen anreden darf. Selbst das Wort „Herr“ ist verpönt; Fremde werden mit „Freund“, Glaubensgenossen mit „Bruder“ oder „Schwester“ bezeichnet. Wie die Shaker in ihrer Ehelosigkeit den Mönchen und Nonnen der katholischen Kirche gleichen, nur mit dem Unterschied, daß in ihren Klöstern beide Geschlechter beisammen wohnen, so ähneln sie ihnen auch noch darin, daß sie kein Eigenthum haben dürfen. Wer ihrer Gemeinschaft beitritt, hört damit auf, etwas für sich zu besitzen; was sein war, geht an die Gesellschaft über, die fortan die Verpflichtung übernimmt, für seine Bedürfnisse in gleicher Weise wie für die aller andern ihrer Mitglieder zu sorgen. „Ein Leib und ein Brod“, lautet in dieser Beziehung ihr Grundsatz. Die Kirche ist eine geistige Familie, die aus den Kindern Christi und der „Mutter Ann“ besteht. Kinder haben den Willen ihrer Eltern zu thun, und diese Eltern werden hier durch die „Elders“, das heißt die Vorsteher der einzelnen Colonien vertreten, die über sich wieder das sogenannte [115] „Ministerium“ in der Hauptniederlassung und dem Centralpunkte des gesammten Shakerthums New-Lebanon haben. Gehorsam ist somit ein ferneres unumgängliches Gebot der Moral der Secte.

Der Gottesdienst in einer Shakergemeinde ist sehr einfach. Sie sind Alle heilig und Alle gleich, also giebt es bei ihnen keine Priester. Die Sacramente waren nur nöthig in der Zeit, die auf das tausendjährige Reich vorbereitete; dieses Reich ist da; also braucht man weder Taufe noch Abendmahl mehr. Glocken und Orgeln sind Tand, die der Heilige zu seiner Erbauung nicht bedarf. Sein Altar ist sein Herz; folglich hat sein Betort keinen vonnöthen. Dasselbe gilt von Kanzel und Kerzen, Bildern und Kreuzen. Das einzige Mittel zur Gottesverehrung sind Tänze, welche bald als Bild ihrer Einheit in der Mannigfaltigkeit, bald als Wanderung nach dem Himmel, bald als ein Rausch und Taumel des Gefühls der Liebe zu „Mutter Ann“ auftreten und mit jubelnden Gesängen begleitet, bisweilen auch von einem kurzen predigtartigen Vortrage unterbrochen werden.

Die Damen der „Gartenlaube“ werden neugierig sein, zu wissen, welchem Tanze meine Freunde den Vorzug geben. Die nächste Nummer soll auch dieses Räthsel befriedigend lösen. Hier nur die Andeutung, daß sie ihre religiösen Empfindungen weder durch Menuet, noch durch Galopp, noch durch Walzer ausdrücken, und daß auch die etwaige Vermuthung, sie tanzten eine andächtige Polka oder eine gottselige Française, auf Irrthum hinauslaufen würde.

Unsere Damen werden ferner vielleicht Aufschluß haben wollen, wie die Shaker diesen immerhin auffälligen Brauch bei ihrem Gottesdienste erklären und rechtfertigen. Man wird mir Recht geben, wenn ich sage: nichts leichter als das, und man muß sich nur wundern, daß die Leute anderswo nicht auch schon darauf gekommen sind. Es ist das reine Ei des Columbus. Gott hat Alles zu seiner Ehre erschaffen. Er hat uns ein Herz eingesetzt, um seine Liebe zu empfinden; er hat uns die Zunge gegeben, um ihn zu preisen mit Gesängen; er hat uns Hände verliehen, um sie betend zu ihm zu erheben. Wie kämen die Beine dazu, lediglich um weltlicher Zwecke willen sich zu bewegen? Sollten nicht der ganze Körper, Haupt und Glieder, Hände und Füße in gleichem Maße berufen sein, sein Lob zu verkünden? Gewiß, das ist überzeugend, zumal die Shaker bei ihrer Auffassung die fromme Schwester Mosis, des Propheten, die mit Pauken und Cymbeln beim Zuge durch das Rothe Meer den Reigen führte, und den nicht minder frommen und heiligen König David, der vor der zurückkehrenden Bundeslade tanzte, Pathenstelle vertreten lassen und somit den Beweis liefern können, daß der liebe Gott das schon vor Alters so hat haben wollen.


[130]
II.
Bruder Harmon's Geheimniß und der Rest desselben. – Bei Diakon David. – Elder Pelham. – Einsames Frühstück. – Der Tanzsaal der Shaker. – In Papiertüten gesteckte und mit Brettern beschlagne Backfische. – Vogelgezwitscher und trommelnde Hasen. – Der Bruder des verlornen Sohnes. – Kreiseltanz und allgemeine Verzückung. –Ein Dilemma zum Abschied.

Am nächsten Tage, bald nach Mittag, klopfte ich wieder an Bruder Harmon's Thür. Ich fand ihn allein, und kaum hatte er meinen Gruß erwidert und sich mit zwei Blicken umgesehen, ob Niemand uns zuhören könne, als ihm auch schon sein Geheimniß von den Lippen floß. Es bestand, so weit es ein Anliegen war, kurz und rund in der Bitte, ihm zu heimlichem Entweichen aus der Colonie durch Verschaffung von gewöhnlichen Kleidern zu verhelfen. Er heiße, so berichtete er weiter, Hermann Cornelius, habe in Kiel Theologie studirt und sei 1849 nach Amerika gekommen, wo ihn „unglückliche Verhältnisse“, über die er sich nicht näher ausließ, etwa vor Jahresfrist gezwungen hätten, sich vor dem Hunger und dem Winter in das Asyl von Watervliet zu flüchten. Man hatte ihn hier liebreich aufgenommen, ihn zuerst nur mit leichter Handarbeit beschäftigt und ihn dann mit der Erziehung von Kindern und der Beaufsichtigung von Novizen betraut, deren sich vor Einbruch des Winters hier immer eine Anzahl melden, und aus denen sich die Gemeinde, sofern sie nicht mit Eintritt der milderen Jahreszeit das Weite suchen, allein ergänzt. Er hatte hier, was er vorher nicht gehabt, Obdach, Nahrung und Kleidung, und es war ihm kein Zwang auferlegt, als der, den er selbst gewählt, einen Glauben, den er nicht hatte, heucheln, und einen Gottesdienst, der ihm lächerlich war, mitmachen zu müssen. Das war die traurige Seite der Sache. Er mußte in der That sehr unglücklich sein. Aber die Sache hatte auch eine andere Seite, und diese war von der Art, daß ich, als ich sie erfahren, froh war, nicht in der Lage gewesen zu sein, ihm zur Flucht zu helfen. Ihm war, wenn überhaupt, nur hier in Watervliet von den „unglücklichen Verhältnissen“ zu helfen, deren Natur der Rest seines Geheimnisses war; denn in Watervliet gab es – keinen Whiskey, sondern nur klares Brunnenwasser und Thee ohne Zuthat. „Hermann Cornelius“ war ein Gewohnheitssäufer, und um mit ihm gleich hier zu Ende zu kommen, schalte ich eine Stelle aus meinem in Cincinnati geführten Tagebuche ein.

„12. November. Heute bei Pastor Kröll von der Johanneskirche. Erzählte ihm von meinem Abenteuer in der Shakerstadt. Horchte hoch auf, als ich ihm Bruder Harmon beschrieb, und brach endlich, indem er auffuhr und die Hände zusammenschlug, in die Worte aus: 'Ei, das ist ja der leibhaftige – (er nannte ihn nicht Cornelius), den sie aus zwei oder drei Gemeinden fortjagten, weil er sich in der Schnapsflasche das Delirium geholt!' In der vierten hatte er sich, so berichtete der Pastor, eine Zeitlang gut gehalten, dann aber war der Versucher wieder gekommen, und er hatte dem Glase so gründlich zugesprochen, daß er in seinem Wahnsinne in den Wald gelaufen und sich sämmtliche Kleider vom Leibe gerissen hatte. Dann war er spurlos verschwunden. Es ist bisweilen gut, wenn man nicht die Mittel hat, gutherzig und hülfreich zu sein. Mein Fall mit 'Bruder Harmon' war ein solcher.“

Ich sagte ihm damals in Watervliet, ich wollte mir die Sache überlegen, und dabei blieb es ungefähr, auch als wir schieden. Zunächst aber besuchte ich mit ihm den Diakon David, einen schläfrigen, grämlichen Riesen mit großen, lichtblauen, verschwommenen Augen, der sich in einem Schaukelstuhle am Ofen wärmte, obwohl die Sonne draußen recht warm schien. Bruder Harmon hing trüben Gedanken nach. Bruder David, überhaupt einsilbig, schien nicht viel von geistigen Dingen zu wissen, doch erhielt ich von ihm einige Mittheilungen über die äußeren Zustände und Verhältnisse der Niederlassung.

Watervliet war jetzt nur von einer „Familie“ ober Gemeinde bewohnt, während das benachbarte Union Village deren drei umfaßte. Die hiesige Familie zählte vierundfünfzig Seelen, darunter etwa dreißig Frauen und zehn Kinder. Die oberste Leitung ist in die Hände von vier Aeltesten, zwei von den Brüdern und ebenso viele von den Schwestern, gelegt, zu deren Pflichten unter Anderem gehört, daß sie den sich zum Eintritt in die Gemeinschaft meldenden Weltkindern ein Sündenbekenntniß abfragen. Der Diakon ist unter ihrer Aufsicht der Geschäftsführer der Colonie gegenüber der Außenwelt. Er schließt Lieferungen und Verkäufe ab, verwaltet die Finanzen und hat für die Unterbringung einsprechender Fremden zu sorgen. Die vorkommenden Arbeiten werden von den Aeltesten unter die Mitglieder der Familie vertheilt und zwar nach dem Maße ihrer Kräfte und der Art ihrer Talente und Fertigkeiten. Die Hauptbeschäftigung der Colonisten ist der Ackerbau auf der sechshundert Acres großen Rodung, die ihnen gehört, und etwas Viehzucht. Dazu kommen die Verfertigung grober Kleiderstoffe aus einem Gemisch von Wolle und Baumwolle, Wagnerarbeiten und das Flechten von Strohhüten, Bastmatten und Stuhlsitzen aus Spahn. Der Boden ihres Landbesitzes ist gut. Ihr Weizen wird oft über den Marktpreis bezahlt. Sehr geschätzt ist die Sarsaparilla, die sie bauen, und allein an Erdbeeren hatte Diakon David im verflossenen Sommer für zweihundertfünfzig Dollars verkauft.

Mein langer Diakon war meinen Fragen gegenüber immer einsilbiger geworden und schließlich sanft eingenickt. Bruder Harmon brütete fort, ohne Zweifel über sein Schicksal. Ich versuchte mir die Langeweile zu vertreiben, indem ich in einem geschriebenen Gesangbuche der Shaker las. Nach einer Weile wurde ich hierin durch die Ankunft Elder Pelham's angenehm unterbrochen. Der kleine, flinke, helläugige Mann war das Gegentheil des Diakons. Bald fragend, bald antwortend, gab er mir einen wohlgefügten und anschaulichen Ueberblick über den geistigen Besitz der tausendjährigen Kirche. Er legte eine nicht gewöhnliche Kenntniß der Bibel an den Tag, brauchte mehrmals originelle Bilder und wußte Zweifeln und Einreden nicht ohne Geschick zu begegnen. Wir waren noch im besten Zuge, als eine Glocke läutete. Sie rief zum Essen. Diakon David führte mich in die Küche des großen Ziegelhauses, wo eine ältliche Schwester mich mit Kuchen, Apfelmuß, Tomatos, Brod, Butter, Fruchtgelée und Thee versorgte. Die Uebrigen aßen mit den anderen Gliedern der Gemeinde für sich in einem anderen Raume, da die Shaker – vielleicht aus Furcht vor der Wirkung fremder Blicke auf die Gemüther der jüngeren Schwestern – Niemanden, der „nicht sein Kreuz auf sich genommen hat“, mit sich an einem Tische speisen lassen. Doch erfuhr ich später, daß sie vor und nach der Mahlzeit knieend beten und daß sie keine Fleischspeisen genießen.

In die „Office“ David's zurückgekehrt, las ich wieder in dem Gesangbuche, aus dem ich mir einige der besten Lieder abschrieb. Dann läutete die Schelle wieder, jetzt zweimal – das Zeichen zum Beginne des Gottesdienstes, des Tanzes. Ueber den Hofplatz zwischen der „Office“ und dem Ziegelhause und dann über den Gang, auf den Bruder Harmon's Stube mündete, begab ich mich, vom Diakon begleitet, eine braunlackirte Treppe hinauf in einen ziemlich großen, durch die ganze Breite des ersten Stockes gehenden, auf jeder Seite durch vier Fenster erleuchteten Saal, der, wie die Wohnstuben, einfach weiß getüncht und unten an den Wänden mit braunem Holzgetäfel versehen war. Uns gegenüber befand sich eine Glasthür. Auf der Weiberseite, links von unserer Thür, war eine dritte. Derselbe gelbe Strich, der unten auf dem Gange die Grenze des Gebietes der Geschlechter bezeichnete, theilte auch den Saal der Länge nach in zwei Hälften. An den langen Seiten des letzteren liefen einfache Bänke hin. Ich erhielt einen Stuhl. Von der Decke hing eine brennende Messinglampe herab, unter der ein kleiner blauer Teppich lag. Sonst war nichts von Geräthen hier zu sehen. Von den Theilnehmern am Gottesdienste waren bis jetzt nur vier Knaben in Shakertracht und ihr Mentor, der freundliche Alte, der mich Tags vorher bei Bruder Harmon eingeführt, sowie sechs oder sieben Mädchen im Backfischalter zugegen. Letztere schienen „ihr Kreuz“ noch nicht schwer zu empfinden oder es noch nicht mit der rechten Würde und Andacht [131] tragen zu können. Sie steckten bei meinem Eintritte die Köpfe zusammen, kicherten, zischelten untereinander und warfen mir Blicke zu. Ihre Tracht war ebenso unschön, wie die der Knaben. Die zum Theil recht hübschen Gesichtchen sahen aus weißen Hauben von der Form eines Kohlenkastens, an dem hinten ein großer Faltenbart sich sträubte, heraus. Die Körper steckten in blauen oder grauen Kleidern mit kurzer Taille, Hals und Brust in einem weißen, steifgestärkten Tuche, das vorn kreuzweise übereinander gelegt war und hinten dreikantig bis zur Hälfte des Rückens herabhing, die Füße in plumpen Schuhen. Sie sahen mit jenen garstigen Hauben wie in Papierdüten geschoben, mit diesen steifen Tüchern wie mit Brettern verschlagen und im Ganzen wie junge Urgroßmütter aus.

Eine Uhr schlug jetzt die achte Stunde, und herein wandelten die übrigen Glieder der Gemeinde mit Einschluß Bruder Harmon's und Elder Pelham's, die Schwestern durch die Thür zur Linken, die Brüder durch die zur Rechten und die Glasthür. Die Letzteren legten die Röcke ab und stellten sich dann in drei Gliedern, die Gesichter dem gelben Strich und dem blauen Teppich in der Mitte zugekehrt, in der rechten Hälfte des Saales auf. Die Schwestern traten links von dem Striche in gleiche Ordnung. Dann verbeugten sich die beiden Colonnen gegen einander, wobei sie die Arme ausbreiteten und die Hände schwenkten. Und nun stimmte einer der Brüder ein Lied an, in welches die ganze Versammlung einfiel, und das in raschem Tempo nach einer nicht übel klingenden Weise gesungen wurde. Was ich davon verstand, pries die Herrlichkeit der ewigen Heimath, handelte sodann von schneeweißen Gewändern und Engeln mit goldenen Flügeln und drückte die Sehnsucht der Sänger nach diesen und ähnlichen schönen Dingen aus.

Nach Schluß des Liedes, welches drei Verse hatte, wieder Verbeugung und Händeschwenken. Hierauf lösten sich die beiden Colonnen auf, und zwei Brüder mit sechs Schwestern schritten näher an den Teppich heran, um sich, die Gesichter einander zugewandt, zu beiden Seiten desselben aufzustellen. Sie waren für diesen zweiten Act des Schauspieles der Sängerchor oder, wenn man will, das Vocalorchester des Tanzsaales. Die Uebrigen ordneten sich, die Männer für sich voran, die Frauen dahinter, zu Paaren in der Weise, daß sie nach der Glasthür hinsahen. Plötzlich begann eine der Sängerinnen mit wohlklingender Stimme eine Strophe zu singen, in welche die übrigen Sieben vom Chore nach den ersten Worten einstimmten. Dieselbe begann mit dem Ausrufe: “March heavenwards, yea victorious band!“[1] und wirkte auf mich mit ihrem zwischen die einzelnen Sätze eingestreuten „La! lala! La! lala!“, dem Vorklingen der Frauenstimmen und dem ungemein schnellen Tempo der Melodie mehr wie Vogelgezwitscher als wie ein Kirchenlied. Mit dem ersten „La! lala!“ setzten sich die Reihen der Nichtsänger in Bewegung und marschirten im Geschwindschritt um den Chor herum. Sie hoben sich dabei auf die Fußspitzen, so daß die Fersen den Boden nicht, oder nur wenig berührten, drückten die Ellbogen an die Hüften, streckten die Unterarme aufwärts vor die Brust und winkten oder wedelten mit den lose im Gelenk hängenden Händen, so daß sie – Gott verzeihe mir den unheiligen Vergleich, aber meiner Erinnerung nach giebt kein anderer eine bessere Vorstellung von dieser überaus komischen Geberde – ungefähr trommelnden Hasen oder, noch genauer, tanzenden Hunden glichen, die „es schön machen“. Die Strophe wurde mehrere Male wiederholt, und bei jeder Wiederholung nahm die Begeisterung der himmelwärts tanzenden Heiligen zu, sah man mehr verzückte Mienen und begegnete man mehr nach oben gerichteten leuchtenden Augen. Das Bild zeigte außer dem Gesagten noch andere komische Züge. So watschelte neben dem baumlangen Diakon ein Bruder mit einem Falstaffsbauch und einem fabelhaften Kropf; er verrieth mehr Last als Lust an der Ceremonie. Eine gleichfalls wohlbeleibte Negerin äußerte unter der Schwesternschaar ihre Inbrunst recht wunderlich, und die Backfische dachten augenscheinlich nur an den Tanz, nicht an seine Bedeutung als Wallfahrt nach dem Himmel. Dennoch machte das Ganze eher einen feierlichen als einen lächerlichen Eindruck.

Die Tanzenden mochten die Singenden etwa vier- oder fünfmal umkreist haben, als Diese verstummten und Jene Halt machten, um still zu beten, bis der Chor auf's Neue zu zwitschern anfing. Dieses Mal handelte das Lied vom „Lodern des heiligen Feuers der Liebe“, welches Lodern „die Seelen läutere“. Dem Flackern und Zucken dieser göttlichen Flamme schien auch das Tempo des Gesanges zu entsprechen, welches noch rascher war als das der früheren Vorträge und dem Gesange folgte wieder der Tanz, der jetzt zu einem Hüpfen wurde. Aeltere Tänzerinnen, die zu schwach waren, um sich hieran lange zu betheiligen, traten aus Reihe und Glied und setzten sich, konnten sich aber nicht enthalten, dem Daktylustacte des Reigens im Sitzen durch Trippeln und Klappern mit den Fußspitzen zu folgen.

Das Hüpfen hatte ungefähr drei Minuten gewährt, als der Chor wieder schwieg. Alle traten sich in der anfänglichen Ordnung zu beiden Seiten des gelben Strichs in der Mitte des Saales gegenüber, beteten noch einmal still und begaben sich dann, die Schwestern durch die linke, die Brüder durch die rechte Thür, hinunter in ihre Stuben, womit der Gottesdienst für heute zu Ende war.

Nachdem ich die Nacht in einem guten, saubern Bett geschlafen und von „Mutter Ann“ und ihrem „Bräutigam“ geträumt – mein Tagebuch besagt, daß Jene wie die alte runzelige Schwester, die mir das Abendessen aufgetragen, Dieser wie Diakon David aussah, und daß die „Mutter“ um ihre Barthaube, der „Bräutigam“ um seinen Brunnendeckelhut eine große Aureole hatte –, frühstückte ich, wieder in der Küche und wieder allein. Dann wohnte ich im Tanzsaale abermals einem gottesfürchtigen Reigen bei, wo jedoch nur nach einer von Allen gesungenen, langsam gehenden Weise in drei Gliedern hin- und hermarschirt, nicht gehüpft wurde. Elder Pelham hielt dabei während einer Pause eine kurze Ansprache, in der er die Welt, die an dem Tanze der Shaker Aergerniß nähme, mit dem Bruder des verlorenen Sohnes im Gleichnisse zusammenstellte, welcher auch mit Neid und Verdruß von der Freude Zeuge gewesen, die über die Heimkehr des Sünders in das Vaterhaus geherrscht habe. Der Sermon hörte sich nicht schlecht an, aber ich hoffe, daß ich nicht damit gemeint war; denn ich war zwar ein Kind der Welt und gedachte eins zu bleiben, aber gern gönnte ich meinen Freunden in Watervliet ihre Freude und war nicht im Mindesten verdrießlich darüber. Eher das Gegentheil.

Den übrigen Theil des Vormittags verbrachte ich meist mit weiterem Abschreiben von Liedern aus David's Gesangbuche. Um elf Uhr wurde ich zum Mittagsessen geführt, und zwei Stunden später sah ich die Heiligen von Watervliet zum dritten und letzten Male tanzen. Zweimal an einem Tage schien etwas viel zu sein, indeß war es ein Sonntag.

Man sang zunächst wieder einen „Shovelsong“ (wörtlich: Schaufellied; so nennt die Shakersprache die in langsamem Tacte sich bewegenden Gesänge, während die rasch gehenden als “Quicksongs“, lebendige Lieder, bezeichnet werden), der mit den Worten „Ich danke Dir, o Gott, für Deine freundliche, liebreiche Gnade“ begann, und in welchen die ganze Gemeinde einstimmte. Darauf hielt der andere Aelteste eine längere Rede, auf die der vorhin erwähnte Falstaff – er war, wie ich später hörte, erst kürzlich aufgenommen und hatte dem Schatze der Kirche ein nicht unbeträchtliches Vermögen zugebracht – einige Worte folgen ließ, in welchen er sich freute, Zulassung zu den Kindern der Mutter Ann und ihrem seligen Leben gefunden zu haben.

Nun sprach Pelham über die Demuth und den Gehorsam, über die Entsagung der Heiligen und deren brünstige Liebe zur „heiligen Mutter“, eine Liebe, die nichts mehr wisse und wolle, als deren Gegenliebe. Als er geschlossen, stellte sich der Chor, wie oben geschildert, vor dem Teppich auf. Die Uebrigen ordneten sich paarweise zum Reigen, und nun wiederhallte, in eine zierliche Strophe zusammengefaßt, der Inhalt der Pelham'schen Rede aus dem Munde einer der Sängerinnen. Mir kam es vor, als ob die Schwester improvisirte, als sie – ich gebe die Worte ziemlich genau deutsch wieder – im Tempo eines Quicksong den Vers zwitscherte:

„Gebeugt will ich und schmiegsam sein,
          La! lala!
Ein schmiegsam Weidenbäumelein.
          La! lala!
Will mich bücken und neigen, verflochten im Reigen,
Und taumelnd der Mutter ganz werden zu eigen.
          La! lala! La! lala!“

[132] Hurtig setzten sich die Füße der Colonnen in Bewegung, um nach dem Tacte des Liedes drei oder vier Schritte vorwärts zu hüpfen, dann stehen zu bleiben, mit dem einen Fuße aufzustampfen und darauf weiter zu hüpfen. Als die erste Sängerin geendet, hörte man eine Weile nur noch das tactmäßige „La! lala!“ und das Scharren und Stampfen der darnach tanzenden Füße. Dann begann eine andere Stimme im Chor:

„O himmlische Liebe fluthet, heilige Liebe strömet!
Hallelujah! La! lala!
Auf, neigt Euch und beugt Euch und schöpft Euch und nehmet,
Und trinken wir jubelnd zur Stelle
Von der Liebe, die mild
Da droben uns quillt
Aus der Mutter unendlicher Quelle.“

„La! lala!“ schmetterten die übrigen Sänger. „La! lala!“ lallte es wie von Trunkenen aus den Colonnen der Tanzenden, deren Reigen immer geschwinder an meinem Stuhle vorüber kreiste. Ein elektrisches Etwas schien sich ihnen von irgendwoher mitgetheilt zu haben, ein Etwas, das sich auch meinen Fußspitzen aufdrängen wollte, denn ich merkte, daß sie zu dem „La! lala!“ den Tact zu trippeln anfingen. Ein gottseliger Rausch hatte sich der Versammlung bemächtigt. Sie tranken von der Liebe der Mutter; sie schwammen im Strome derselben.

„Und trinkt ein wenig mehr – und trinkt, trinkt, trinkt ein wenig mehr!“ jauchzte der Baß und zitterten und zwitscherten die hellen Stimmen im Chor – und siehe da, plötzlich begann eine der Schwestern, indem sie die Arme am Körper herabhängen ließ und den Kopf, halb nach oben gerichtet, auf die Seite legte, sich etwa zehn Schritte weit um ihre Achse zu drehen. Eine zweite folgte und eine dritte. Mehrere Brüder thaten desgleichen, und nach Verlauf einer Minute sah ich den größten Theil der Tänzer in dieser Planetenbewegung begriffen. Taumelnd hielten die Meisten nach einigen Umdrehungen inne, keuchten und stampften und versuchten sich im Gleichgewicht zu erhalten. Dann trieb sie der Gesang wieder fort, wie die Peitsche den Kreisel, und nicht eher hörte das andächtige Bacchanal auf, als bis die Mehrzahl der Frauen, nach Athem ringend, auf die Bank gesunken war.

Die würdigen Aeltesten, der schläfrige Diakon, Matronen mit grauen Haaren hatten sich an dem Wirbeltanze nach Kräften betheiligt. Sogar Bruder Harmon hatte ein paar Mal sich darin versucht. Da er indeß dabei wohl mehr an den weltlichen Zuschauer und dessen Meinung von der Affaire als an den Wohlgeschmack der Liebesquelle dachte, welche die Andern berauschte, so hatte es ihm damit nicht glücken wollen. Nur Falstaff, dem sein Leibliches das Kreiseln verbot, einige vermuthlich hier auch noch neue Frauen, die vier Knaben und der Wahnsinnige hatten es bei bloßem Geschwindschritte und ein wenig Hüpfen und Händeschwenken bewenden lassen. „Wahnsinn gut gegen Wahnsinn,“ sagte ich zu mir selbst, indem ich an den Grundsatz unserer Homöopathen dachte.

Eine Stunde später nahm ich Abschied von meinen gastfreundlichen Wirthen. Man bat mich noch länger zu bleiben, aber ich hatte genug gesehen und erfahren und so ging ich, begleitet von Pelham’s Segen, in welchem er mir wünschte, ich möge bald den Weg finden, der zum wahren Frieden führe.

Bruder Harmon bat sich, indem er mir verstohlen einen schnellen bittenden Blick zuwarf, die Erlaubniß aus, mich ein Stück begleiten zu bedürfen. Schweigend gingen wir eine Weile neben einander her. Dann wiederholte er dringend seine frühere Bitte. Ich erwiderte, ich selbst könne ihm nicht helfen, wolle aber zusehen, ob sich in Cincinnati etwas für ihn thun ließe, und ihn das Ergebniß meiner Erkundigung durch meinen Cousin in Dayton, dessen Adresse ich ihm aufschrieb, wissen lassen. Dieses Ergebniß ist mitgeteilt. Er ist entweder Shaker geblieben und nüchtern ein alter Mann geworden, oder er hat sich von den geistig Trunkenen geflüchtet, um wieder ein Trunkenbold im gewöhnlichen Sinne des Wortes zu werden und im Delirium hinter irgend einem Zaune vor der Zeit zu sterben. Ich weiß wirklich nicht recht, was vorzuziehen wäre, will aber darüber nachdenken.

  1. „Auf, himmelwärts wandre, Du Siegerschaar!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: die