Die sieben Mädchen von Verdun
Der im August 1791 zu Pillnitz abgeschlossene Vertrag, durch welchen sich die gekrönten Häupter Deutschlands zur Wiederherstellung der monarchischen Regierung in Frankreich verpflichteten, brauchte nach dem Geschäftsgange des seligen Römischen Reiches just ein Jahr, ehe er zur Wahrheit wurde. Anfang August des nächsten Jahres, wo bereits die bourbonischen Lilien, getroffen vom heißen Hauch entfesselter Volksleidenschaft, dem Verwelken nahe waren, trafen endlich siebenzigtausend Preußen, geführt von Friedrich Wilhelm dem Zweiten und dem Herzog von Braunschweig, in den deutschen Grenzländern ein, machten in zwanzig Tagen einen Marsch von zwanzig Meilen und betraten am 19. August den Boden Frankreichs.
Drei Tage später ergab sich die kleine Festung Longwy, und kurz darauf wurde sogar der Commandant des wichtigeren Verdun, Beaurepaire, der sich am Tage der Uebergabe erschoß, zur Capitulation genöthigt. Das, gelinde gesagt, abenteuerliche Unternehmen, sich in die innersten Angelegenheiten eines fremden Volkes einzumischen, schien den besten Erfolg zu haben.
Berichte von Zeitgenossen schildern den Empfang, der dem König Friedrich Wilhelm im eroberten Verdun zu Theil wurde, als einen überaus glänzenden. So auch Goethe, der in seiner „Campagne in Frankreich“ den Einzugsfeierlichkeiten folgende Beschreibung widmet: „Größere Heiterkeit verbreitete jedoch die Erzählung“ – er saß mit preußischen Officiren an der Wirthstafel zu Verdun und ließ sich die Ereignisse vom vorigen Tage mittheilen, denen er nicht selbst beigewohnt hatte – „wie der König in Verdun aufgenommen worden. Vierzehn der schönsten, wohlerzogensten Frauenzimmer hatten Ihro Majestät mit angenehmen Reden, Blumen und Früchten bewillkommnet. Seine Vertrautesten jedoch riethen ihm ab, vom Genuß Vergiftung befürchtend; aber der großmüthige Monarch verfehlte nicht diese wünschenswerthen Gaben mit galanter Wendung anzunehmen und sie vertraulich zu kosten. Diese reizenden Kinder schienen auch unsern Officieren einiges Vertrauen eingeflößt zu haben; gewiß diejenigen, die das Glück hatten, dem Balle beizuwohnen, konnten nicht genug von Liebenswürdigkeit, Anmuth und gutem Betragen sprechen und rühmen.“
So erzählt unser Altmeister. Bekanntlich entsprach der fernere Verlauf des Krieges nicht den Hoffnungen, welche man anfänglich daran knüpfte. Schlechtes Wetter, Krankheiten aller Art und die nicht erwartete Kriegstüchtigkeit des Feindes brachten bald den anfänglichen Siegeszug zum Stillstand; nach der nutzlosen Kanonade von Valmy (im September) bemächtigte sich Muthlosigkeit der preußischen Heerführer, und vom October ab begann ein Rückzug durch die morastigen Wege der Champagne, welcher nicht seines Gleichen in der Geschichte des preußischen Heeres hat.
Ueber den Schlußact jener Verduner Einzugsfeierlichkeiten giebt uns ein biederes deutsches Familienbuch folgenden Aufschluß: „Vierzehn junge Mädchen“ – erzählt die Becker’sche Weltgeschichte – „wurden am 24. April 1794 verurtheilt, weil sie auf dem Balle getanzt, den die Preußen nach der Einnahme von Verdun veranstaltet hatten. Selbst die Furien der Guillotine wandten in widerwilliger Rührung sich ab, als so frische Jugendblüthen vom Henker zerknickt wurden; aber noch grausamer scheint die Milde, welche zwei dieser beklagenswerthen Tänzerinnen abgesondert hatte, um in zwanzigjährigem Gefängniß zu verkommen.“
Dies ist die Leidensgeschichte der Festjungfrauen von Verdun, wie sie in fast allen Geschichten der französischen Revolution mehr oder minder weitläufig erzählt wird. Bis vor siebenzehn Jahren zweifelte Niemand an der Wahrheit derselben, und oft haben junge Poeten, namentlich während der Restauration, den unschuldig Geopferten elegische Thränen nachgeweint. Da ließ im Jahre 1851 der berühmte Bildhauer David d’Angers eine Notiz in den Volksalmanach einrücken, in welcher er über die Mädchen von Verdun und ihre poetischen Verherrlicher Hohn und Spott mit vollen Händen ausgoß und unter Andern behauptete, daß die jüngste der genannten Damen vierzig Lenze hinter sich gehabt habe.
Für die ältere Ansicht, nach welcher sich eine Anzahl junger Mädchen unter den Verurtheilten befunden hatte, trat Cuvillier Fleury, Redacteur des Journal des Debats, in die Schranken und brachte als Beweismittel Tagebücher von Barbe Henry bei, die, wie wir später sehen werden, zugleich mit Claire Tabouillot der Verurtheilung zum Tode entgangen war. Trotz seiner vielen Nachforschungen wurde es Cuvillier indeß nicht möglich, den Verlauf der allerdings etwas dunklen Angelegenheit actenmäßig festzustellen. Dies gelang erst in neuester Zeit, wo man so glücklich war, die unter siebenzigjährigem Staube vergrabenen umfangreichen Actenbündel des Processes wieder aufzufinden.
Der Hergang war hiernach folgender: Am 5. October 1792, als das Invasionsheer noch auf französischem Boden stand, [57] erschien im Moniteur, ohne jede weitere Angabe, der Wortlaut der Anrede, mit der, dem Vernehmen nach, Friedrich Wilhelm in Verdun begrüßt worden war. Gleichzeitig verbreitete sich das Gerücht, daß eine Anzahl weiß gekleideter junger Mädchen, den ersten Familien angehörend, dem Könige auf einem Triumphwagen entgegengefahren wäre, um ihm Früchte und Blumen zu überreichen, ferner daß man am Abend des Einzugs zu Ehren der feindlichen Officiere einen solennen Ball veranstaltet hätte. Kaum war der Boden Frankreichs wieder von Feinden frei, als in Verdun unter den Auspicien eines Conventsdeputirten eine Commission niedergesetzt wurde, „um nach den Gegnern der Republik zu forschen“. Der Präsident derselben war Sommelier, ein gewesener Mönch, welcher später wegen Unterschleifs flüchtig werden mußte; als Secretär fungirte ein gewisser Madin, dessen Rohheit in Wort und That weder Maß noch Ziel kannte. Die übrigen Mitglieder derselben waren Professoren(?), Handwerker und Particuliers.
Eine große Anzahl Zeugen erschien vor der Commission, wurde im Namen der Republik aufgefordert, die Wahrheit zu sagen, wußte jedoch über die incriminirten Punkte nur wenig anzugeben. Niemand hatte von einer officiellen Anrede an den König gehört, auch konnte sich Niemand erinnern, daß irgendwo ein öffentlicher Ball zu Ehren der Preußen abgehalten worden wäre. Bezüglich der Procession stellte sich heraus, daß eine solche gar nicht stattgefunden, wogegen constatirt wurde, daß zwar eine kleine Gesellschaft Verduner das Lager besucht hatte, daß aber darunter keine officielle Deputation gewesen war. Gesprochen hatte der König nur mit einer Dame, Namens Bonvillier Catoir, welche aussagte, daß sich die Unterhaltung auf die Frage, ob in Verdun Theater sei, beschränkt habe und daß dieselbe von ihr mit „Nein“ beantwortet worden sei. Eine Dame, Namens Mengaut de Lalance, beiläufig gesagt damals siebenundsechszig Jahr alt, hatte allerdings, wie sich bei der Untersuchung herausstellte, die Absicht gehabt, dem Könige und seinen Officieren einen Korb mit Zuckerwerk zu überreichen, welches Vorhaben jedoch nicht zur Ausführung gekommen war. Schließlich wurde noch zwei jungen elternlosen Damen Wattein nachgewiesen, daß sie eine Summe von viertausend Franken einem alten Freunde ihrer Familie, Namens de Rodès, ausgehändigt hatten, welcher letztere als Emigrant mit den Preußen zurückgekehrt und gänzlich von Mitteln entblößt war.
Die Untersuchungsacten wurden nach Paris an den Sicherheitsausschuß geschickt, der Cavaignac zum Referenten in dieser Angelegenheit ernannte. Derselbe empfahl in seinem Berichte, die Damen von Verdun dem Criminalgerichte des Maasdepartements zu überweisen, und schloß das in pomphaftem Stile abgefaßte Schriftstück:
„Bis hierher hat das weibliche Geschlecht im Allgemeinen die Freiheit laut verhöhnt. Die Einnahme von Longwy wurde durch einen Ball gefeiert. Die Flammen, welche Lille vernichteten, leuchteten zu Spielen und Tänzen. Die Frauen besonders sind es, welche die Franzosen zur Auswanderung herausforderten, sie sind es, die, im Verein mit den Priestern, den Geist des Fanatismus in der Republik schüren und die Gegenrevolution hervorrufen …
Das Gesetz muß aufhören sie zu schonen, und Beispiele eiserner Strenge mögen ihnen kund thun, daß das Auge der Obrigkeit sie überwacht und das Schwert des Gesetzes erhoben ist, um sie zu treffen, wenn sie sich schuldig machen.“
Der Vorschlag Cavaignac’s wurde vom Convent mit einigen Modificationen angenommen, worauf man die bisher in einem alten Kloster von Verdun Gefangengehaltenen nach Saint Mihiel überführte, wo der Sitz des Criminalgerichts des Maas-Departements war. Hier blieben sie beinahe ein Jahr, ohne daß jemand Notiz von ihnen nahm, ja, sie wären vielleicht bis zum neunten Thermidor, der bekanntlich Robespierre stürzte, vergessen worden, wenn sie nicht fortwährend um Vornahme ihres Processes gefleht hätten und nicht der Conventsdeputirte Mallarmé in Saint Mihiel eingetroffen wäre und auf Beschleunigung des anhängigen Falles gedrungen hätte. Dies veranlaßte das Criminalgericht, sich sofort an den Convent mit der Bitte um Aufstellung der Anklageacte zu wenden. Hierdurch sollte die Sache eine andere Wendung erhalten.
In dem Antwortschreiben, welches der Justizminister Gohier erließ und das an seiner Spitze die bedeutsamen Worte: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod“ trägt, wurde dem dortigen Gerichtshofe nicht nur eine strenge Rüge wegen seiner Langsamkeit ertheilt, sondern ihm sogar die Weiterführung des Processes entzogen, die nach dem Gesetze vom 10. März 1793 vor die Schranken des Revolutionstribunals zu Paris gehöre.
Da mit letzterem bekanntlich nicht zu spaßen war, so entwickelten die Herren Räthe von Saint Mihiel mit einem Male eine außerordentliche Thätigkeit. Im Hinblick auf die für die Angeklagten nichts weniger als gravirenden, vor der Verduner Commission abgegebenen Zeugenaussagen ordneten sie eine neue Beweisaufnahme an und schickten zwei ihrer Collegen dazu nach Verdun.
Diesen gelang es zwar, den Kutscher Bourguignon, welcher die Angeklagten zum preußischen Lager gefahren hatte, ausfindig zu machen, allein seinen im Protokolle vom 23. Pluviose II. der „einigen und untheilbaren Republik oder der Tod“ niedergelegten Aussagen war nur zu entnehmen, daß er eine befreundete Gesellschaft von sieben Damen und einem Herrn einige Tage nach der Uebergabe der Festung zum Lager gefahren, und zwar nicht auf einem Triumphwagen, sondern auf einem Ackerwagen. Was weiter im Lager vorgegangen, war besagtem Patrioten unbekannt geblieben, da die preußischen Schildwachen ihm und dem an der Landpartie theilnehmenden Herrn den Eintritt in’s Lager verweigerten. Auch die übrigen Zeugenaussagen ließen den Besuch des Lagers in keinem anderen Lichte erscheinen, ja, es wurde sogar bewiesen, daß man preußischer Seits von den im Schmutz herumwatenden Damen gar keine Notiz genommen hatte. Die Procession der weißgekleideten jungen Mädchen, deren Erzählung fast in allen Geschichten der Revolution Platz gefunden hat, war also eine ruchlose Erfindung.
Trotzdem drang der Conventsdeputirte Mallarmé darauf, daß die Anklage gegen Alle aufrecht erhalten würde, wonach im März 1794 die Abführung derselben nach Paris erfolgte. Eine starke Gensdarmerie-Escorte begleitete die Karren, auf welchen die Angeklagten, fünfunddreißig an der Zahl, unter ihnen siebenzigjährige Greise und blühende Jungfrauen, hatten Platz nehmen müssen.
Die oben erwähnte Barbe Henry beschreibt in ihren Denkwürdigkeiten den Trauerzug sehr rührend. „Die Reise dauerte vierzehn Tage und ging ziemlich heiter von Statten, wir kannten das Loos, das uns erwartete, aber dennoch waren wir nicht außer Fassung, wir hatten uns friedlich in das ergeben, was Gott über uns beschließen würde.“
Die Gensdarmen benahmen sich gegen die Armen mit sehr viel Humanität und suchten das schreckliche Loos derselben nach Möglichkeit zu lindern. In St. Menehould, wo ein Carabinier-Regiment lag, das kurz vorher in Verdun garnisonirt hatte, machten die Officiere desselben sogar einen Versuch, die Gefangenen zu befreien, der jedoch scheiterte. In Paris angekommen, wurden sie sofort nach der Conciergerie gebracht. Riouffe schildert in seinen „Denkwürdigkeiten eines Verhafteten“ mit beredten Worten den Eindruck, den die Erscheinung der blühenden Mädchen in den düsteren Höfen des Gefängnisses hervorrief, dessen Thore sich für sie nur dann erst wieder öffnen sollten, als all’ diese Schönheit und Lieblichkeit dem grausigen Tode durch Henkershand entgegenging.
Nach dem damals noch bestehenden Verfahren – welches erst durch das schaurige Gesetz vom 22. Prairial aufgehoben wurde – mußte jeder Angeklagte vor der Verhandlung ein Verhör vor einem Einzelrichter bestehen. Auch die Fünfunddreißig von Verdun hatten sich einem solchen zu unterwerfen; die Formalitäten dabei wurden jedoch sehr rasch erfüllt und das Ganze nahm – wie Barbe Henry erzählt – höchstens einige Minuten für Jeden in Anspruch. Da der betreffende Beamte augenscheinlich schnell über Punkte hinwegzukommen wünschte, deren Erörterung nicht in seinem Plane lag, so beschränkte er die Fragen bei fast allen Angeklagten auf folgende:
„Haben Sie nicht durch Ihre Ränke die Besatzung von Verdun gezwungen, den Feinden Frankreichs eine Festung zu übergeben?“
„Nein.“
„Haben Sie sich nicht nach der Einnahme der Stadt in’s Lager verfügt, um dem Feinde zu seinen Erfolgen Glück zu wünschen und ihm Zuckerwerk zu überbringen?“
„Ich bin aus reiner Neugierde im Lager gewesen, ich weiß nicht, ob man Zuckerwerk dorthin getragen hat; was mich betrifft, so habe ich keins gesehen!“
„Haben Sie sich schon einen Vertheidiger gewählt?“
„Nein.“
[58] Der Untersuchungsrichter gab ihnen Chauveau Lagarde, den Vertheidiger von Marie Antoinette, zum rechtskundigen Rathgeber, der, wie es scheint, jedoch kaum einen namhaften Versuch gemacht hat, seine Clienten zu retten. Die Vertheidiger spielten vor dem Revolutionstribunal überhaupt eine traurige Rolle, nach dem Proceß Danton wagten sie kaum noch ihre Stimme zu erheben. Durch das Gesetz vom 27. Prairial wurde die Vertheidigung ganz abgeschafft.
Sich weiter über die Sache aufzuklären, hielt der „gewissenhafte“ Richter nicht für nothwendig.
Am 26. April 1794 erschienen die Angeklagten vor dem Revolutionstribunal. Es waren ihrer Fünfunddreißig, und zwar sieben junge Mädchen: Susanne Henry, sechsundzwanzig Jahr alt, Gabrielle Henry, fünfundzwanzig Jahr alt, Barbe Henry, siebenzehn Jahr alt, Anna Wattein, fünfundzwanzig Jahr alt, Henriette Wattein, dreiundzwanzig Jahr alt, Helene Wattein, zweiundzwanzig Jahr alt, Claire Tabouillot, siebenzehn Jahr alt. Die sechs Ersten waren Waisen, Claire Tabouillot hatte noch eine Mutter, welche mit auf der Anklagebank saß. Die Damen Henry waren Töchter eines früheren Gerichtspräsidenten von Verdun, die Watteins waren Töchter eines verstorbenen Officiers, der Vater von Claire Tabouillot war Staatsanwalt am Verduner Gericht gewesen.
An ihrer Seite saßen sieben ältere Frauen, zusammen also vierzehn Frauen. Außerdem waren vier Männer des Hochverraths angeklagt, darunter der Commandant Neyon, fünf unbeeidigte Geistliche, welche während der Occupation wieder in ihr Amt eingetreten waren, ein Gensdarmeriehauptmann und fünf Gensdarmen, denen man lächerlicher Weise zum Vorwurf machte, die Ordnung zu Gunsten der Preußen aufrecht erhalten zu haben, und endlich sechs Bürger Verdun’s, denen man unpatriotische Gesinnung zur Last legte.
Präsident des Gerichtshofes war Dumas, als öffentlicher Ankläger fungirte der berüchtigte Fouquier-Tinville. Das abgehärtete Publicum, welches den täglichen Sitzungen des Revolutionstribunals beiwohnte und die Verurtheilung von Frauen, Greisen, ja sogar seiner eigenen Königin ohne ein Zeichen von Mitleid angehört hatte, wurde durch den Anblick so vieler Schönheit und Kindlichkeit, wenn auch nur auf Augenblicke, gerührt. Arm in Arm erschienen die jungen Mädchen vor den Schranken, freimüthig ihre angeblichen Verbrechen eingestehend, voll Selbstverleugnung und Heroismus. Nur der bübische Fouquier-Tinville theilte nicht die Bewegung, die sich Aller bemächtigt hatte.
Als die Rede auf den Triumphwagen kam, rief er aus: „Wohlan, wenn es ein Mistwagen gewesen ist, so erkläre ich, daß er seine eigentliche Bestimmung niemals mehr erfüllte, als da er Euch Frauen zum Lager des Tyrannen fuhr!“
Das rührendste Intermezzo bildete das Benehmen von Barbe Henry und der Damen Wattein, welche, wie schon erwähnt worden ist, einen armen emigrirten Freund unterstützt hatten. Jede der Letzteren suchte die ganze Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen und von ihren Schwestern abzuwälzen. Als man an Barbe Henry die Frage richtete, ob sie durch ihre Angehörigen zum verhängnißvollen Besuch des Lagers gezwungen worden sei, warf sie sich in die Arme ihrer geliebten Schwestern, und rief aus, „daß sie aus eigenem Antrieb dorthin gegangen sei, und daß sie das Schicksal ihrer Schwestern theilen wolle!“
Und all’ dieser Tugend, dieser Reinheit gegenüber, scheute sich das Journal der Henker, das Bulletin du Tribunal, nicht, in die frechen Worte auszubrechen: „Zum Unglück für den Triumph der Unschuld haben diese jungen Mädchen, sei es aus schlecht verstandener Hartnäckigkeit, sei es aus Anhänglichkeit an ihre Angehörigen, die humanen Absichten des Gerichtshofes nicht unterstützt, der alle Anstrengungen machte, um sie dem Schwerte des Gesetzes zu entziehen.“ So sprach ein Organ der Republik, die auf ihr Banner „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ geschrieben hatte und die Eltern- und Geschwisterliebe mit Preisen krönen wollte.
Auf den Antrag Fouquier-Tinville’s wurde den Geschworenen nur die einzige Frage gestellt: „Ist es gewiß, daß Umtriebe gemacht worden sind, die darauf hinzielten, den Feinden Verdun zu überliefern, die Fortschritte ihrer Waffen auf französischem Boden zu begünstigen, die Freiheit und Volksvertretung zu zerstören und den Despotismus wieder herzustellen?“ Es folgten die Namen der Angeklagten, begleitet mit der Bemerkung: „Ist der Benannte Mitschuldiger dieser Umtriebe?“ Bei Barbe Henry und Claire Tabouillot war dieser banalen Frage eine zweite hinzugefügt: „Haben sie es mit Vorbedacht gethan?“
Nach der Erklärung der Jury, die natürlich in den Hauptfragen bejahend und nur in den Nebenfragen verneinend ausfiel, sprach der Gerichtshof, gewöhnt an diese Rottenfeuer, dreiunddreißig Todesurtheile aus, während den genannten zwei Mädchen ein noch fürchterlicheres Schicksal aufgespart bleiben sollte, nämlich sechsstündige Ausstellung auf einem Schaffot und zwanzigjährige Gefangenschaft. Auch die eine der Damen Wattein, welche gar nicht im Lager gewesen war, wurde mit verurtheilt.
Kaum war das Verdict gefällt, als sich die jungen Mädchen, einer unwillkürlich enthusiastischen Bewegung folgend, einander in die Arme warfen und mit erhobener Stimme ihr Schicksal priesen, das ihnen vergönnte, vereint in den Himmel einzugehen, wo eine unsterbliche Krone und die geliebten Eltern ihrer harrten. Die drei Stunden, die ihnen, wie fast allen Verurtheilten, zwischen dem Ausspruch des Gerichtshofes und der Ankunft der Henker zugestanden wurden, verbrachten sie im Gebet und mit Vorbereitungen zum Tode. Und Eins sollten die dreiunddreißig Opfer einer schmachvollen Justiz vor vielen ihrer vorangegangenen Leidensgefährten voraushaben, nämlich den Trost der Religion, denn mit ihnen in dem dunkeln Saal eingeschlossen, wo sie die Henkersknechte erwarteten, übten die gleichzeitig mit verurtheilten fünf Geistlichen durch Entgegennahme der Beichte und Ertheilung der Absolution ihr Amt aus. Auch den nicht zum Tode verurtheilten Mädchen hatten die mitleidigen Kerkermeister gestattet, die letzten Stunden ihrer Freundinnen und Geschwister mit diesen verleben zu können. Da tritt plötzlich der Scharfrichter mit seinen Gehülfen ein, von denen einer sich Barbe Henry nähert, um ihre Haare unter sicherer Scheere fallen zu lassen in der Hoffnung, so mit den ihrigen sterben zu können, fügt sich die junge Heldin willig dem rohen Gebahren, ihre älteste Schwester jedoch entreißt sie den Händen des Henkerknechtes, und so wird Barbe Henry gerettet.
Als sich die verhängnißvollen Karren nach dem Revolutionsplatze in Bewegung setzten, war der Tag bereits der Nacht gewichen und nur das unsichere Licht einiger Fackeln, bei deren Scheine damals öfters Hinrichtungen stattfanden, leuchtete den Unglücklichen auf ihrem letzten Gange. Wie sonst folgte auch ihnen eine große Volksmenge, aber diesmal ohne in die gewohnten Rohheiten auszubrechen, selbst die entmenschten Weiber der Guillotine waren gerührt. Rings um das Schaffot hörte man Schluchzen, ja Lamartine erzählt, daß sogar Samson, der Henker, Thränen vergossen habe. Nach einer Stunde war Alles vorüber. – Am folgenden Morgen wurden Claire Tabouillet und Barbe Henry in Trauerkleidern auf einem Schaffot ausgestellt. Ueber ihren Häuptern war die Inschrift angebracht, daß diese schwachen Wesen die Stadt Verdun dem Feinde überliefert hätten, indem sie ihn mit Lebensmitteln und Kriegsmunition versorgten. Sechs Stunden dauerte diese Pein, aber die Menge, menschlicher als die damaligen Gewalthaber, hat nicht ein einziges Mal die armen Opfer insultirt. Die darauf folgenden Zeitereignisse gaben ihnen nach achtundzwanzigmonatlichem Gefängniß ihre Freiheit wieder. –
Zwanzig Jahre waren verflossen. Die stolzen Adler des Kaiserreichs lagen im Staube, und wiederum befand sich ein preußischer König auf französischem Boden, aber jetzt als Sieger. Im Mai des Jahres 1814, als Friedrich Wilhelm der Dritte noch in Paris weilte, sollte er auf eigenthümliche Weise an die erzählte Episode erinnert werden, die ihn um so mehr interessiren mußte, als der Kriegszug seines Vaters die unmittelbare Veranlassung zu derselben gewesen war. Barbe Henry, welche ihre Gefährtin überlebt hatte, wandte sich mit einem Briefe an den König, der ihn nach dem Moniteur vom 3. September 1815 folgendermaßen beantwortete:
„Ihr Brief vom 25. Mai hat mich an eines der traurigsten Ereignisse der französischen Revolution erinnert, eine Schandthat, deren Andenken das Herz des verstorbenen Königs, meines Vaters, mit Bitterkeit erfüllte; ich halte es für meine Pflicht, dem Opfer, welches diese schreckliche Frevelthat überlebt hat, ein Zeichen meiner Theilnahme zu geben. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen von Berlin aus einen Schmuckgegenstand zu senden, der Ihnen den Antheil in’s Gedächtniß zurückrufen soll, den ich an Ihrem Schicksal und dem ihrer unglücklichen Gefährtinnen genommen habe.
Im Hauptquartier zu Paris, 2. Juni 1814.
[59] Das Geschenk, welches der König ihr erst bei seiner zweiten Anwesenheit in Paris übersandte, bestand aus einer Bonbonnière, auf deren Deckel zwanzig prachtvolle Diamanten seinen Namenszug bildeten. Nachstehender Brief begleitete die Sendung:
„Die Ereignisse, die so rasch aufeinander folgten, sind die Ursache, daß ich mich nicht früher des Versprechens entledigte, welches ich ihnen, Madame, in meinem Briefe vom 2. Juni 1814 gegeben habe. Ich bitte Sie, die beifolgende Bonbonnière mit meinem Namenszuge anzunehmen als Erinnerung des Interesses, welches ich dem Leiden gezollt habe, das Sie 1792 erduldeten.
Paris, 24. Aug. 1815.
Friedrich Wilhelm.“
Ueber das weitere Schicksal dieser merkwürdigen Frau ist uns nichts Näheres bekannt; ob sie, wie die Schwester Robespierre’s, die Flucht Karl des Zehnten, oder wie eine Tochter Fouquier-Tinville’s, die Februarrevolution erlebt hat, wissen wir nicht. 1851 deckte sie bereits der grüne Rasen.