Zum Inhalt springen

Die siamesischen Zwillinge (Die Gartenlaube 1869/39)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: L. Büchner
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die siamesischen Zwillinge
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 626
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[626] Die siamesischen Zwillinge haben in der letzten Zeit durch ihr erneutes öffentliches Auftreten wieder so viel von sich sprechen gemacht, und es ist über dieselben so viel theils gegründetes, theils ungegründetes Gerede im Umlauf, daß es für die Leser der Gartenlaube gewiß von Interesse sein wird, etwas Zuverlässiges und von einer wissenschaftlichen Autorität Herrührendes über dieselben zu vernehmen. Der nachfolgende getreue Bericht findet sich in dem neuesten Hefte der in London erscheinenden Zeitschrift für Menschenkunde und rührt her von Herrn Dr. Beigel, einem deutschen Arzte in London und einem der Vicepräsidenten der Londoner Anthropologischen Gesellschaft, welche Gesellschaft seit der kurzen Zeit ihres Bestehens schon soviel Dankenswerthes für den Fortschritt der Lehre vom Menschen geleistet hat. Die siamesischen Zwillinge sind nun allerdings ein Naturwunder, aber kein solches, welches, wie so Viele meinen, eine Ausnahme von den gewöhnlichen Gesetzen des anatomischen und physiologischen Geschehens macht, sondern dessen Merkwürdigkeit nur in dem seltenen Zusammentreffen einer Reihe zufälliger Umstände besteht. Die Erscheinungen, welche Herr Beigel an dem seltsamen Brüderpaar beobachtet oder constatirt hat, sind vielmehr alle genau so, wie sie nach den allgemeinen Regeln der Vorgänge im lebenden und speciell menschlichen Körper erwartet werden mußten. Zunächst leidet es nach Beigel keinen Zweifel, daß die verbundenen Brüder zwei unter einander ganz verschiedene und in jeder Hinsicht getrennte Wesen sind. Sie sind verschieden in ihren Gefühlen, ihren Meinungen, ihrem körperlichen Befinden etc., und das einzige Gemeinsame besteht darin, daß sie sich seit achtundfünfzig Jahren daran gewöhnt haben, so zu handeln, als ob sie Eins wären. Der Eine ist bisweilen krank, der Andere nicht; der Eine hat Hunger, der Andere nicht; der Eine ist schläfrig, der Andere nicht; der Eine hat das Verlangen, gewisse Bedürfnisse zu befriedigen, der Andere nicht. Ihr Puls oder Herzschlag geht oft sehr verschieden. Jeder bewegt seine Glieder willkürlich für sich. Der Eine spielt die Violine, der Andere die Flöte. Sie sind verheirathet und haben neun erwachsene Kinder. – Die gegenseitige körperliche Verbindung Beider besteht in einer knorpeligen Verlängerung und übermäßigen Ausbildung des sogenannten schwertförmigen Fortsatzes der beiderseitigen Brustbeine, welche Verlängerung ein festes, aber einigermaßen nachgiebiges, mit Haut überzogenes Band von ungefähr sieben Zoll Länge und von der Dicke eines Armes von einer Brust zur andern bildet; doch besteht dabei jede Brusthöhle gesondert und abgeschlossen für sich. Eine solche Verbindung mit vollständiger Entwicklung zweier Individuen ist überaus selten, und ist bis jetzt in früherer Zeit erst einmal, und zwar im sechszehnten Jahrhundert, beschrieben worden.

Vom physiologischen Standpunkte aus bieten die Zwillinge eigentlich wenig Interesse, und die einzig wichtige Beobachtung in dieser Hinsicht bildet die genauere Bestimmung desjenigen Punktes des Verbindungs-Bandes, wo Beide eine gemeinschaftliche und wo sie eine gesonderte Empfindungsfähigkeit haben. Genau in der Mitte des Bandes nun besteht ein Zwischenraum von ungefähr einem halben Zoll Breite, wo die Brüder einen darauf angebrachten Eindruck, z. B einen Nadelstich, gemeinsam empfinden; darüber hinaus aber tritt jederseits gesonderte Empfindung ein.

Es besteht kein Zweifel darüber, daß eine chirurgische Trennung beider Brüder sehr leicht und ohne wesentliche Lebensgefahr für dieselben vorgenommen werden könnte; alle ärztlichen Autoritäten, welche man deshalb consultirt hat, stimmen hierin überein. Nur wäre wohl zu befürchten, daß Beide nach der Trennung einige Schwierigkeit empfinden würden, für sich zu handeln und ohne die gewohnte Unterstützung des Anderen zu gehen. Die Brüder selbst weisen jedoch jeden Vorschlag einer Trennung entschieden zurück – aus Gründen des Gelderwerbs. Sollte freilich – was aller Wahrscheinlichkeit nach geschehen wird – Einer vor dem Anderen sterben, so müßte die im Leben zurückgewiesene Trennung nothwendiger Weise noch nachträglich vorgenommen werden. Dr. L. Büchner.