Die schweizerische Wartburg
Die schweizerische Wartburg.
Nicht nur das große deutsche Reich hat eine Wartburg mit romantischer Umgebung, lieblichen Sagen, poetischen Sängerkriegen, arretirten Reformatoren, Wartburgfesten und eine berühmte Stadt am Fuße, um ihr die Schuhriemen zu lösen, –
auch die kleine Schweiz, zwar kein Reich, aber dennoch – reich, hat eine Wartburg, mehr noch, sie hat deren sogar zwei, und um beide herum ziehen sich, wie um die weltberühmte Namensschwester in Thüringen, die herrlichsten Landschaften. Damit aber möchte freilich auch die Aehnlichkeit der schweizerischen und der deutschen Wartburg nahezu ein Ende erreicht haben. Denn von so schönen und poetischen Dingen, wie Sängerkrieg und Wartburgfest, weiß die erstere leider Gottes nicht das Geringste zu erzählen. Andererseits mag es bei der Betrachtung der Geschichte der beiden Burgen auffallen, daß keine von ihnen ein Geschlecht derer von Wartburg erzeugte, beide gehörten Grafen; nur war der deutsche Wartburger ein Landgraf, der schweizerische ein gewöhnlicher Gau- oder Burggraf. Die deutsche Wartburg wurde 1067 erbaut von Ludwig dem Springer. Welch ein ritterlicher Springer die schweizerische Wartburg erbaut hat, daran kann sich Niemand erinnern, doch liegt die Vermuthung nahe, daß die alte Wartburg, laut ihren Fundamenten, sehr alt ist und vermuthlich ursprünglich ein römischer Wachtthurm war. Aber im Jahre 1299 wurde in einem Kaufbriefe bereits der neuen Wartburg gedacht, als die Herzöge Rudolf und Friedrich von Oesterreich das benachbarte Aarburg kauften.
Zur Zeit, als am Concil zu Constanz der Herzog Friedrich [74] von Oesterreich in den Bann gerieth (1415), besaß ein Herr von Hallwyl diese Burgen. Hallwyl war für den Friedrich von Oesterreich, die Berner und Solothurner dagegen stellten sich auf die Seite von Kaiser und Reich, nahmen die beiden Burgen und brannten sie nieder. Die Burgen blieben von da Ruinen und gingen als hochadlige Schlösser mit all ihren Wäldern und Meierhöfen zur bescheidenen Stellung eines Unterthans der Republiken Bern und Solothurn über, so daß zur Zeit der Reformation, als Dr. Luther auf der deutschen Wartburg seinen Standpunkt dem Teufel mittelst Tintenfaß klar machte, die alte schweizerische Wartburg mit den Bernern reformirt wurde, die neue Wartburg dagegen mit den Solothurnern katholisch blieb, ohne alle und jede Disputation, im tiefsten Frieden.
Kurz nach der Reformation (1542) richtete Solothurn, das von jeher immer ein offenes Auge für die Feuerzeichen der Zeit hatte, Neuwartburg wieder empor und setzte einen Feuerwächter hinauf, der jede Feuersbrunst der Gegend weit und breit durch Kanonendonner verkündete. Sali hieß die berühmte Wächterfamilie, die über ein Jahrhundert lang Feuer und Licht beobachtete und der Wartburg ihren Namen aufdrückte, so daß die stolze Wartburg zum gemüthlichen „Salischlößli“ herabsank. Einer dieser Sali hat sich nach der Hand noch einen besondern Namen gemacht. Er, ein Felix (also ein Glücklicher!), hauste allda noch 1635 und hatte fünfzehn Jahre lang einen so ganz enormen Durst, daß er – wie die Chronik sich zierlich ausdrückt – alle Nächte einen großen Zuber voll Wasser ausgesoffen, und am Tage ebenfalls sehr oft getrunken.
Beide Wartburgen, die deutsche und die schweizerische, haben aber noch ein ganz gleiches Schicksal in neuerer Zeit erlebt. Beide wurden – restaurirt. Die deutsche von einem kunstsinnigen Fürsten, dem Großherzoge von Weimar, und, was fast noch mehr ist, dem Enkel jenes Herzogs Karl August, der Ende des vorigen Jahrhunderts die unsterbliche Dichtertafelrunde in Ilm-Athen um sich versammelte, einen Goethe seinen Freund und Minister nannte und seinem Völkchen die erste Verfassung mit Volksrechten freiwillig verlieh. Von einem solchen kunstsinnigen Manne, der zugleich das Glück hat, Fürst zu sein und auf der Menschheit Höh’n zu steh’n, ward die deutsche Wartburg auf’s Herrlichste wieder hergestellt oder vielmehr auf ihren künstlerisch historischen Culminationspunkt gebracht. Die kleine bescheidene Wartburg der Schweiz wurde ebenfalls restaurirt – wie Figura zeigt –, aber von einer Gesellschaft kunstsinniger, mit nur bescheidenen Mitteln wirkender Republikaner, Einwohner des allerliebsten Oltenstädtchen, das, wie alle Juraorte, tief und still zwischen den zackigen und grauen Felsenbergen liegt, wie ein emsiger, nie ruhender Ameisenhaufen mitten im stolzen Walde.
Diese Männer haben sich durch die „Krönung ihres Berges“ ein großes Verdienst um die wandernde Menschheit erworben, die da hinauf mit leichter Mühe zu Sattel, zu Fuße oder zu Wagen flattert! Nur hinaus aus der staubigen Tiefe der Alltäglichkeit! Hinauf zu den luftigen Jurahöhen!
Unsere liberalen Freunde der „Restauration“ haben mitten in die dampfbeflügelte Zeit unserer Tage ein schönes Bild des Mittelalters gezaubert. Die Burg ist eben ganz eine alte Ritterburg mit Wällen, Mauern, einem schwierigen Zugang und eisernen Gatterthoren geblieben. Eine einzige enge Wendeltreppe vom Zwinger bis hinauf zur Zinne mit stolzem Thurme und kreischender Wetterfahne, worin das stolze weiße Kreuz im rothen Felde prangt, führt an Küche und Keller, an kühlen Gewölben und am prächtigen hohen Rittersaale vorüber und hinein, in welch letzterem man statt mittelalterlicher Humpen krystallhelle „Schöppli“, „Fläschen“ oder „Maasgutteren“ credenzt. Im „Aufzug“, der rasselnd hinab und herauf aus dem Burgverließe führt, allwo die gefährlichen Gefangenen fest in Eisen „gebunden“ liegen, um den „schwindelnden Steg“ zu umschiffen mit labender Fracht, steht ernst und würdig der bärtige Ganymed und
Theilet Jedem seine Gabe,
Dem Bierstoff, Jenem Weinstoff aus,
von flinken, blonden Huldinnen geschäftiglich umringt.
Um die Burg herum ziehen sich geräumige Terrassen und bieten eine reizende Aussicht, eine so bezaubernde Vorstudie der herüberlachenden Alpenwelt, daß jeder Wanderer den kurzen Aufstieg nicht versäumen sollte. Südlich erstreckt sich das Wiesenthal der Wigger mit der reichen Stadt Zofingen, vielen Fabrikdörfern und der alten geraden Straße, die die Deutschen so oft betraten, um ihre verfehlten „Römerzüge“ auszuführen, gegen Westen das Thal der Aare und der Dünnern mit fruchtbaren und industriellen Dörfern, majestätischen Bergketten und romantischen thurmhohen Felsenwänden, gegen Norden der Hauenstein und die Hauensteinkette, der große Tunnel durch den Hauenstein, der, wie die Jurawelt das Vorspiel zu den Alpen, den kleinen Prolog zum riesigen Gotthardtunnel mit Schiller spricht:
So reißt ein schwarzes Felsenthor sich auf –
Kein Tag hat’s noch erhellt –, da geht Ihr durch.
Es führt Euch in ein heitres Thal der Freuden. –
So immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen
Des Gotthards, wo die ew’gen Seen sind,
Die von des Himmels Strömen selbst sich füllen.
Dort nehmt Ihr Abschied von der deutschen Erde,
Und munt’ren Laufs führt Euch ein andrer Strom
In’s Land Italien hinab, in das gelobte. –
Im Osten aber rauscht die Aare durch ein herrliches, bald engeres, bald breiteres Gelände mit kühnen Burgen, zerfallenen Ruinen, lachenden Dörfern, blühenden Städten, reichen Landsitzen, wallenden Kornfeldern, üppigen Matten, blanken Rebengeländen. Ein so eben rechtes Land für den romantischen Deutschen. Rechts das hohe Schloß von Lenzburg, von dem lange Zeit ein großes deutsches Institut seine Bildungsströme herabgoß (Director Lippe). Links unten an der Aare das Schloß Wildenstein, wo der wackere Vater des nachmals vielberühmten Philanthropen Emanuel Fellenberg von Hofwyl als biderber Landvogt saß. Hoch oben in der Mitte der Scene die stolze Burg Bruneck, die so manche zarte Leserin an das freie Weib, die edle Bertha v. Bruneck im „Wilhelm Tell“ erinnern wird, die dem zögernden Rudenz zurief:
„Was auch d’raus werde – steh’ zu Deinem Volk!
Es ist Dein angebor’ner Platz!
Dann seh’ ich Dich im echten Männerwerth,
Den Ersten von den Freien und den Gleichen,
Mit reiner, freier Huldigung verehrt,
Groß, wie ein König wirkt in seinen Reichen.“
Ja, dort drüben blinkt und strahlt sie, die kühne Bruneck noch heute im Abendsonnenschein! Noch heute donnere sie diese Worte jedem schwachen Manne zu. Goldene Worte, die auch in unseren Tagen von riesiger Gewalt sein werden, wie sie es waren in dem Munde patriotischer Mütter und Frauen zu allen Zeiten der Noth! – Heirathsfähige Töchter sind heutzutage freilich meistens etwas „praktischer“. Allein die Tage des Sturmes reißen auch solche mit fort.
Am Fuße der stolzen Bruneck wirkte in einem kleinen Landhause der große Schöpfer der vernünftigen Volksschule – Vater Pestalozzi. Wer kennt ihn nicht? Er, dieser Züricher Schulmeister, ward zum Eigenthum der Welt.
Etwas weiter unten, mehr nördlich, streckt auch die alte Habsburg ihr graues Haupt empor – die Stammburg des Hauses Oesterreich. Ich halte es lieber mit den Wartburgern; denn „neues Leben blüht da aus Ruinen“. Die Habsburg macht mir zu viel Front gegen „Mitternacht“. – Weiter nach dem Vordergrunde der magischen Landschaft lacht das Städtchen Aarau. Dort links an der Halde lugt bescheiden aus grünem Gezweige und Rebenlaub ein kleines Haus. Die Aare, wenn sie dort vorbeirauscht, flüstert leise einen freundlichen Gruß und zieht den Hut ab. Dort lebte und webte Heinrich Zschokke, der deutsche Mann, der so manchen Segen über die ganze Menschheit ergoß, und dort in jenem Städtchen ist auch sein einfaches Grab.
Unmittelbar zu unseren Füßen aber pustet’s, raucht’s, hämmert’s, pfeift’s! Funken sprühen, Rauchsäulen steigen empor; dumpfes, donnerartiges Rollen erschüttert die Erde; dazwischen tönt das friedliche Kirchenglöcklein der Städte und Dörfer. Menschen rennen und jagen; Roß und Mann kommen und verschwinden; Schiffe durchfurchen den Strom; Fabriken strecken ihre qualmenden Thürme zu den Wolken – das ist Olten. Da treffen auf kleinem Raume und auf zwei eisernen Schienen die Bewohner der ganzen gebildeten, oft auch der ungebildeten Welt zusammen. Das ist Olten, das Jedermann kennt, und das auch schon in der Gartenlaube abconterfeit war; Olten, das die schweizerische Wartburg neu gebar, das Mekka aller schweizerischen Vereine; Olten, der schweizerische Knotenpunkt. – Und nun Punctum.