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Die orientalischen Wissenschaften − Indien, Mittel- und Ostasien (1914)

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Textdaten
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Autor: Otto Franke (Sinologe)
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Titel: Philologie / Die orientalischen Wissenschaften − Indien, Mittel- und Ostasien
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 39–44
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1189]
B. Indien, Mittel- und Ost-Asien
Von Prof. Dr. O. Franke, Hamburg


Die Politik hat nach den Erklärungen ihres größten Meisters mit der Wissenschaft wenig gemein, aber Wechselwirkungen zwischen beiden haben oft genug stattgefunden, und die Ergebnisse sind glänzende gewesen. Indien, Mittel- und Ostasien legen Zeugnis dafür ab, denn hier hat die Politik der großen Kolonialmächte die Unterstützung, die sie von der Wissenschaft empfangen, reichlich zurückgezahlt, indem sie bekannte Wissensgebiete stärker befruchtet, andere, und zwar solche von unabsehbarem Umfange, neu erschlossen hat. Die englische Herrschaft in Indien und ihre Unternehmungen gegen Tibet, die russischen Bestrebungen in Turkistan und der Mongolei, die französische Ausdehnung in Indo-China und Siam, vor allem aber die diplomatischen und kriegerischen Unternehmungen des Abendlandes und Japans in China und Korea haben den Kreis der orientalischen Wissenschaften ungeheuer erweitert. Deutschland hat, seiner geographischen Lage entsprechend, an diesen Vorgängen nur einen bescheidenen Anteil gehabt, aber seiner Wissenschaft sind reiche Anregungen dadurch gegeben worden. Bedeutungsvoll hebt sich vor allem die Tatsache ab, daß die deutsche orientalische Forschung weit mehr als früher aus dem Studierzimmer heraustritt, in größerem Maße am „Objekt“ arbeitet und so in engere Fühlung mit dem Leben von einst und jetzt gelangt. Unzweifelhaft ist dies eine Folge der stärkeren weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Geltung des Reiches, die ja in erster Linie der Wirksamkeit Kaiser Wilhelms II. zu danken ist; die deutsche Orientalistik hat dadurch endlich gelernt, weniger für fremde und mehr für eigene Rechnung zu arbeiten.

In Indien hat zwar dieses nationale Auf-sich-selbst-besinnen die Folge gehabt, daß die Betätigungsmöglichkeiten für deutsche Gelehrte dort erheblich geringer geworden sind – sicherlich nicht zum Nutzen der wissenschaftlichen Indologie –, aber dafür haben diese sich daheim um so wirksamer an der Bearbeitung des neuen Materials beteiligt, das namentlich durch die Tätigkeit des englischen Archaeological Department und des Linguistic Survey von Indien geliefert wird. Eine große Zahl von Inschriften aus allen Teilen des Landes ist in sorgsamer Weise herausgegeben und übersetzt worden, und sie haben durch ihre oft überraschenden Aufschlüsse der einheimischen Überlieferung wieder zu größerem Ansehen verholfen, nachdem man ihr allzu lange und allzu rasch die Glaubwürdigkeit versagt hatte. Die Archäologie hat größere Hoffnungen erweckt für die Aufhellung der indischen Geschichte, als das bloße Studium der Literatur sie bis dahin erfüllt hatte, und wenn auch dem Spaten in Indien noch die größten Aufgaben bevorstehen, so ist ihm doch schon manches gelungen: die Grabungen in Nepal haben Inschriften ans Licht gebracht, durch die die Geburtsstätte Buddhas festgestellt werden konnte, im Jahre 1898 fand man bei Piprāhvā an der Südgrenze von Nepal [1190] in einem Stūpa einen Reliquienbehälter der Śākyas, der Verwandten des Buddha, der einen Teil seiner Überreste enthielt, und 1909 gelang es, auf Grund literarisch-archäologischer Feststellungen, bei Peshawar die berühmte Pagode nebst Inhalt aufzufinden, die einst König Kaniska über einem Teile der angeblichen Reliquien Buddhas erbaut hatte, und die von dem chinesischen Pilger Hüan Tsang im 7. Jahrhundert beschrieben ist. Auch die Sprach- und Literaturforschung, die Völkerkunde und Volkskunde, die Kunstgeschichte und Architektur sind durch die archäologische Durchsuchung des Landes auf ihre Rechnung gekommen: Hunderte von Sprachen und Dialekten sind und werden in Indien festgestellt; zahlreiche für die Kulturgeschichte bedeutungsvolle Sanskritwerke, die bisher unbekannt waren, finden sich an; die klarer werdende indische Geschichte läßt die Umrisse des gewaltigen Völkergemisches erkennen, und die Aufdeckung der Märchen- und Fabelliteratur, die ihre Spuren auch dem europäischen Volkstum sichtbar eingegraben hat, bringt die alte brahmanische Kultur gegenüber der buddhistischen wieder zu Ehren; die indische Kunstgeschichte ist eine jetzt erst entstehende Wissenschaft, und wir fangen wieder an, einzusehen, daß die indische Kunst Jahrhunderte früher da war als die neu entdeckte graeko-indische Gandhara-Kunst, die in der ersten Begeisterung wohl etwas überschätzt wurde. So hat sich auch die große Enzyklopädie, der „Grundriß der indo-arischen Philologie und Altertumskunde“ bereits bis zu ihrem 18. Bande erweitert, und von dem Riesenwerke des Mahābhārata, das die Kenntnis des indischen Altertums wie kaum ein anderes Literaturdenkmal erschließt, ist die kritische Ausgabe der vereinigten Akademien um ein gutes Stück gefördert. Auch das Studium des Buddhismus ist durch die Anregungen der archäologischen Forschung sachgemäßer geworden. Man hatte sich bereits an den Gedanken gewöhnt, daß im Kanon der südlichen Buddhisten allein die wirkliche Religion Śākyamunis zu suchen sei, und das im Jahre 1893/94 in Siam neu herausgegebene Pali-Tripitaka galt in Sprache und Inhalt als einzige Norm. Demgegenüber blieben das Mahāyāna-System des Nordens, das doch den Buddhismus erst zu einer Weltreligion gemacht hat, und seine gewaltige Literatur vernachlässigt. Hier hat das Wachsen der geschichtlichen Kenntnis gründlichen Wandel geschaffen. Das Eindringen in die Schriften der nördlichen Buddhisten, vor allem aber die großartigen Entdeckungen in Turkistan, über die noch mehr zu sagen sein wird, haben eine ungeahnte Welt erschlossen. Sie haben gezeigt, daß das Pali keineswegs „die heilige Sprache“ der Buddhisten war, sondern daß ein nördlicher Kanon, und zwar im Sanskrit wie in Pakrit-Dialekten geschrieben, vorhanden gewesen ist, der sich inhaltlich mit dem südlichen deckte und so die Zuverlässigkeit der Überlieferung verbürgt. Allem Anschein nach gehen beide auf eine gemeinsame, noch nicht bekannte Quelle zurück.

Aber die immer suchende Wissenschaft fand auch, daß sie nicht innerhalb der Grenzen des eigentlichen Indien verharren dürfe, wenn sie den ganzen Wirkungsbereich der indischen Kultur ermessen wollte. Wie die von den Franzosen in ihrem Schutzgebiet Kambodscha aufgefundenen Tempelruinen und die bis in das dritte Jahrhundert zurückgehenden, teils in der Khmer-Sprache, teils in Sanskrit verfaßten Schriften dartun, daß hier, in Hinterindien, einst eine hochentwickelte, brahmanische, später buddhistische [1191] Kultur geherrscht hat, so haben auch die turkistanischen Funde erkennen lassen, daß mit dem Buddhismus in seiner Mahāyāna-Form indische Kunst und Kultur in die weiten Gebiete Mittelasiens hinausgezogen sind, und sie haben so den Weg deutlich gemacht, auf dem die Religion des Buddha Jahrhunderte hindurch ihren Siegeslauf nach Norden und Osten unternommen hat.

Die lamaistische Ausgestaltung des Buddhismus in Tibet und der Mongolei war zwar seit dem Erscheinen des großen, noch immer in der ersten Reihe stehenden Wertes von Koeppen im allgemeinen bekannt, aber eine Kenntnis des Mittelpunktes dieser seltsamen religiösen Welt, der Tempelstadt Lha-sa, hat doch erst das kriegerische Unternehmen Englands gegen Tibet im Jahre 1903/04 gebracht. Das Studium der tibetischen Literatur ist während der letzten Jahre allmählich in Fluß gekommen. Die Königliche Bibliothek besitzt zwei Ausgaben des Kandschur und eine – leider wenig deutliche – des Tandschur, der beiden großen Sammlungen der heiligen buddhistischen Schriften und ihrer Kommentare, die in der Mehrzahl aus dem Sanskrit übersetzt sind, so daß das Material für die buddhistischen Studien vorhanden ist. Indessen ist hier die Arbeit noch nicht über die Anfänge hinausgekommen. Die Indologie, die sich zum Glück von ihrer Verbindung mit der Sprachwissenschaft mehr und mehr frei gemacht hat, sollte sich statt dessen diesen ihr innerlich verwandten Gebieten zuwenden. Kenntnis des Sanskrit ist eine Vorbedingung für tibetische Studien, und andererseits scheint die originale tibetische Literatur, die an Umfang und Inhalt reicher ist, als man noch vielfach glaubt, auch über indische geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen Licht zu verbreiten, wo die einheimischen Quellen versagen.

Einen neuen Abschnitt in unserer bis dahin sehr mangelhaften Kenntnis von der Geschichte und Kulturgeschichte Mittelasiens haben die bereits erwähnten, mit so glänzenden Erfolgen gekrönten Grabungen in Chinesisch-Turkistan vom Anfang dieses Jahrhunderts an eröffnet. Es wird immer ein Ruhmesblatt der preußischen Regierung bleiben, daß sie, nachdem die erste, zum großen Teil durch private Spenden ermöglichte Expedition von 1902/03 die Aufmerksamkeit auf die im Sande des Tarim-Beckens ruhenden archäologischen Schätze hingewiesen hatte, ohne Zaudern die Mittel bewilligte, um die Nachforschungen im Turfan-Sebiet in größerem Maßstabe fortzusetzen. Die beiden nun folgenden Expeditionen von 1904 bis 1907 haben die daran geknüpften Hoffnungen reichlich erfüllt; eine vierte ist jetzt unterwegs. Die Ausstellungen von einem Teil der Funde, die das Museum für Völkerkunde veranstaltet hat, und denen auch der Kaiser sein persönliches Interesse zuwandte, so glänzend sie sind, geben bei weitem kein vollständiges Bild von der Bedeutung der Ergebnisse. Die Berichte der chinesischen Geschichtsschreiber, Pilger und Reisenden über die Staaten in der großen innerasiatischen Senkung und ihren Randgebirgen vor fünfzehn und mehr Jahrhunderten bekommen jetzt Leben. Wir sehen an den vom Sande aufbewahrten Resten, daß diese endlosen Wüsten von heute einst der Schauplatz folgenschwerer weltgeschichtlicher Vorgänge und reichen geistigen Schaffens waren. Nicht bloß die verschiedenartigsten Völker und Rassen aus Ost und West gerieten dort durcheinander, sondern ganze Kultursysteme trafen zusammen und schufen in gegenseitiger Befruchtung [1192] Neues in Religion, Kunst, Literatur und Verwaltung. Überwältigend ist der Ausblick, der sich bietet. Die Berichte chinesischer Geschichtschreiber über helläugige und blondhaarige Rassen in Mittelasien sind keine Märchen, wie man geglaubt hatte, sondern die aufgefundenen Freskobilder beweisen ihre Richtigkeit. Indogermanen des Westens hatten, wie die entdeckten Sprachreste zeigen, in vorchristlicher Zeit in den Gebieten des heutigen China gesessen, und persisch-hellenistischer Kultureinfluß war in Gegenden gedrungen, wo man ihn nie vermutet hatte. Von der verloren geglaubten Literatur der Manichäer gab der Sand der Gobi originale Handschriften, Meisterwerke der Kalligraphie, wieder heraus, und heute wissen wir, daß nicht bloß syrisches Nestorianertum, sondern auch babylonischer Manichäismus und persischer Mazdaeismus im 7. und 9. Jahrhundert ihre Heiligtümer und ihre Gemeinden bis in die Hauptstadt des chinesischen Reiches und darüber hinaus hatten. Die verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen dem Buddhismus und den Religionen des Westens sind weder ein Spiel des Zufalls, noch ein „Blendwerk des Teufels“, sondern sie entstammen der gegenseitigen Berührung und Befruchtung, die in dem Völkergewirr der mittelasiatischen Oasenstaaten erfolgte. Es ist ein bisher verborgenes und nun um so gewaltiger wirkendes Kapitel der Weltgeschichte, von dem die Ausgrabungen in Turkistan den Schleier weggezogen haben.

Nach dem Schlüssel des Verständnisses für den geschichtlichen Zusammenhang hätte freilich die abendländische Wissenschaft lange suchen mögen, wenn ihr nicht die ausführlichen Angaben der chinesischen Literatur zur Verfügung gestanden hätten. Vielleicht ist dieser Umstand nicht ohne Bedeutung gewesen für die Tatsache, daß auch in Deutschland die akademische Wissenschaft auf die bis dahin arg vernachlässigte Sinologie aufmerksam geworden ist. Die Vorgänge in Ostasien und die aktive Politik, die Deutschland durch seine neue Weltstellung dort aufgenötigt wurde, hatten zwar China weit mehr als bisher in das Licht des allgemeinen Interesses gerückt, aber die wissenschaftliche Sinologie, d. h. die systematische Erforschung der ostasiatischen, in ihrem Wesen chinesischen Kulturwelt hatte zunächst wenig Nutzen davon, der Dilettantismus beherrschte das Feld. Erst während der letzten Jahre hat hier der Wandel begonnen, indem wenigstens einige Lehrstühle für Sinologie neu geschaffen wurden. Unabsehbar sind die Arbeitsgebiete, die sich hier eröffnen, und zwar bei der Mannigfaltigkeit und langen Dauer des chinesischen Kulturlebens für alle Betätigungen des menschlichen Geistes; auf keinem sind die Forschungen einem Abschluß nahe, von den meisten sind erst kleine Ausschnitte berührt, viele noch unbetreten. Die Königliche Bibliothek hat sich das Verdienst erworben, an literarischem Material aus Ostasien herangeschafft zu haben, was für sie erreichbar war; Hamburg folgt ihr jetzt. Eine Reihe von vortrefflichen Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte, der Religionswissenschaft, der Philosophie, Literatur und Kunst haben bereits das Aufblühen der jungen, nach bewährten Methoden betriebenen Wissenschaft in Deutschland angezeigt, voller Hoffnung mag sie der Zukunft entgegensehen. Mehr als die meisten anderen orientalischen Wissenschaften bedarf die Sinologie der engen Berührung mit ihrem fernen Arbeitsfelde, weil ihr in den Ländern Ostasiens die Gegenwart überall hilft, die Vergangenheit zu verstehen, und die Fragen [1193] die das chinesische Geistesleben in so ungeheurer Fülle stellt, im Studierzimmer allein nicht zu lösen sind. Die moderne japanische Wissenschaft ist hier günstiger gestellt als die abendländische, sie hat diese Vorteile bewundernswert ausgenutzt, und der Eifer, mit dem in Japan schwer oder gar nicht zugängliche Werke der chinesischen Literatur gesammelt und neu gedruckt werden, allen voran die Riesensammlung des buddhistischen Tripitaka mit ihren 3400 Bänden, ist hoher Anerkennung wert. Möchte der in Amerika angeregte Gedanke, in China selbst abendländische Forschungsinstitute zu gründen, bald seine Verwirklichung finden.