Die letzten Garben
[612] Die letzten Garben. (Mit Illustration S. 609.) Steigen wir hinauf in ein tirolisches Hochthal, allenfalls ins Alpachthal bei Brixlegg, wo die Sitte heimisch ist, welche unser Bild so lebenswahr darstellt.
Es ist Erntezeit. Monate banger Sorgen sind für den Bauer vorüber, und heute sollen die letzten Garben unter das schützende Dach der Scheune gebracht werden. Kein Wunder also, wenn Freude und Jubel ins einsame Berghaus eingekehrt sind.
Noch ist indessen nicht alle Mühe zu Ende. Auf den holprigen, unwegsamen Gebirgspfaden und den jäh abfallenden Halden eines solchen Hochthales kommt kein Erntewagen, ja nicht einmal ein Karren fort. Deßhalb kann das Getreide hier nur durch Dienstboten oder Tagelöhner vom Felde hereingeschafft werden, und dies ist in der That keine leichte Arbeit. Da sieht man den stämmigen Knecht und die kräftige Dirne, wie sie mit der schweren Last der Garben auf dem Kopfe, die sie draußen zu einem ausgiebigen „Schab“ (Bündel) zusammengeschnürt, im kurzen Trott über Stock und Stein dem Bauernhofe zueilen. – Sie mögen wohl froh sein, daß es die letzten Garben sind, welche sie eben eintragen, von den Berglern die „Braut“ genannt. Dorfkinder ziehen deßhalb mit Schellengeläut und muthwillig lärmendem Jubel den längst erwarteten Trägern voran, während Neugierige aus Thüren und Fenstern dem Spektakel zusehen.
So naht sich der kleine Zug dem heimischen Hause. Da tönt zum freudigen Gruß die Dorfglocke mit hellem Läuten ins Thal hinaus, als wollte auch sie der „Braut“ ein fröhliches Willkommen entgegenrufen.
Dieser uralte Brauch heißt „das Brauteinläuten“. Darauf folgt für die Dienstboten ein kleines Mahl, bei welchem gewöhnlich Honigkrapfen aufgetischt werden, und will der Bauer ein Uebriges thun, spendet er vielleicht dazu noch einige Flaschen Tirolerwein. Die Leute haben den Trunk gewiß redlich verdient!