Die fromme Edelfrau
Es war einmal eine Edelfrau, bei der hatten es die Köchinnen herzlich schlecht. Die Fleischstücke zählte sie ihnen jeden Morgen in den Topf; und wenn beim Mittagessen dann nicht so viel auf der Schüssel war, als sie am Morgen in den Kessel gegeben hatte, so schalt sie die Mädchen Spitzbuben und Diebe und bedachte nicht, daß rohes Fleisch zusammen läuft, wenn es gekocht wird.
Keine Köchin mochte darum lange aushalten im Dienste, und endlich mietete die Edelfrau des Küsters Tochter. Als dieselbe nach acht Tagen ihren Vater besuchte und der sie fragte, wie ihr der Dienst gefiele, antwortete sie:
„Ich mochte dir nur nicht den Schimpf anthun, sonst wäre ich den dritten Tag aus dem Schlosse gelaufen. Jeden Tag heiß’ ich ein Spitzbube und Betrüger, weil das Fleisch gekocht nicht so groß bleiben will, wie es roh gewesen war.“
„Laß nur, meine Tochter,“ erwiderte der Küster, „dem wollen wir schon abhelfen!“ Und als am nächsten Sonntag das Vorläuten verklungen war, kroch er hinter den Altar und versteckte sich daselbst.
Nun war aber die Edelfrau eine gar fromme Dame, [75] die jeden Sonntag vor dem Gottesdienste allein in der Kirche ihr Gebet verrichtete. Es dauerte darum auch gar nicht lange, so ging sie zur Kirchthüre herein und trat vor den Altar, kniete nieder und betete:
„Herr Gott, wann komme ich zu dir?“
Antwortete der Küster, als wäre er der liebe Gott:
„Nun und nimmermehr!“
Betete die Edelfrau weiter:
„Warum denn nicht, du Herre Gott?“
Sprach die Stimme hinter dem Altar:
„Du zählst der Magd das Fleisch in’n Pott.“
Seufzte die Edelfrau:
„Ach, Herr, es soll nicht mehr geschehn!“
Sagte der liebe Gott:
„Na, na, wir werden sehn.“
Damit war das Gebet der Edelfrau zu Ende, und sie hielt Wort. Am andern Morgen gab sie der Küsterstochter den Schlüssel zur Speisekammer und hieß sie so viel Fleisch herausnehmen, als sie nur wolle; und das Mädchen blieb auf dem Schlosse im Dienst, bis es alt und grau wurde.
Ob aber die Edelfrau dadurch zu Gnaden gekommen ist? – Ich will’s doch hoffen!