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Die deutscheste Stadt Deutschlands

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Textdaten
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Autor: H. Beta
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Titel: Die deutscheste Stadt Deutschlands
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 414
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[414] Die deutscheste Stadt Deutschlands. Schon im Anfang dieses Jahrhunderts wurde Goethe’s Vers berühmt: „Mein Leipzig lob ich mir! Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.“ Natürlich wollte er damit sagen, daß, wie Paris als Mittelpunkt Frankreichs gilt, er Leipzig im Kleinen denselben Rang in Deutschland zuspreche. Im Jahre 1833 war Holtei, der als Schauspieler und Theaterdichter in allen möglichen Städten, namentlich auch in Berlin, die verschiedensten, mehr traurigen als freudigen Erfahrungen gemacht hatte, als darstellender Gast in Aufführung seiner eigenen Lust- und Trauerspiele in Leipzig. Er hatte als Dichter und Darsteller bereits einen schönen, volksthümlichen Ruf. In einem seiner Stücke fiel er so gut wie durch, wurde aber doch zum Schlusse lebhaft und vollstimmig hervorgerufen. Nun erzählt er im vierten Bande seiner „Vierzig Jahre“: „Aus diesem Rufe, dem doch der belebende Nerv freudigen Beifalls fehlte, klang die Ansicht heraus: ‚Der Mann hat sich geirrt, sein Stück ist nicht gerathen, aber er verdient doch nicht, daß man ihn deshalb schlecht behandele. Wir wollen ihn trösten.‘ – Ich kann gar nicht beschreiben,“ fährt er fort, „welche Achtung mir das Benehmen des Leipziger Theaterpublicums durch dieses Verfahren eingeflößt. Wahrhaftig! nicht weil es mir geschah, sondern von dem allgemeinen Standpunkte vergleichender Betrachtung gewürdigt. (Holtei war nämlich nicht nur allein, sondern auch mit seiner weit und breit als Künstlerin verehrten jungen Frau nach den herrlichsten Triumphen als Dichter und Darsteller doch wieder wahrhaft bestialisch behandelt worden.) Welch ein bedeutender Vorschritt in Allem, was öffentliches Leben, gemeinsamer Ausdruck des Urtheils, Handhabung geistiger Gewalt heißt, mußte in einer Stadt gethan sein, wo die zufällig im Theater sich zusammenfindende Menge so übereinstimmend und ohne durch spöttische Gegenwirkung behindert zu werden, einen Act entschiedener Großmuth auszuführen vermag! Welch ein Grad durchgreifender und alle Stände durchdringender Bildung muß da herrschen, wo Logen, Parterre und Galerie, die jetzt eben noch den Schluß eines traurig ausgehenden Dramas zu belachen sich geneigt finden, eine Minute nachher in der Ansicht einig werden: wir wollen den Mann, der uns schon so lieb geworden ist, doch nicht kränken! und diese Ansicht augenblicklich von allen Seiten mit herzlichem Wohlwollen kund geben. Ich wiederhole es, nicht weil es mir galt, nein, weil ich überzeugt bin, daß bei ähnlichen Fällen das Leipziger Publicum nie anders als verständig, wohlwollend und gerecht handeln wird. Deshalb achte ich seine Stimme so hoch.“

Davon gab ihm Leipzig nach der glänzendsten Aufführung seiner viele Jahre lang volksthümlichen Tragödie „Lorbeerbaum und Bettelstab“ noch einen schöneren Beweis. Und so schließt er die ganze Darstellung seiner Wirksamkeit und seines Lebens in Leipzig mit folgenden Worten: „Deshalb steht mit unauslöschlichen Zügen die Erinnerung an diese Stadt und all das Gute, welches mir dort zu Theil wurde, in mir fest. Und wenn es sich nicht geziemen will, im Marktschreierton jene Familien aufzuzählen, die dem Wanderer gleich einer Heimath offen standen, so ist es doch vergönnt, der freisinnigen Heiterkeit Erwähnung zu thun, welche Kaufleute, Bürger, Literaten, Künstler und Musensöhne jeder Gattung zu einem großen, sich täglich durch bunten Wechsel erneuernden Kreise verband. Es giebt nur eine Stadt in Deutschland, die Deutschland repräsentirt; nur eine Stadt, wo man vergessen darf, ob man Hesse, Baier, Württemberger, Preuße oder Sachse sei; nur eine Stadt, wo weder hochweise Vornehmthuerei fürstlicher Beamten, noch kecke Zuversicht wohlgeschnürter Officiere, noch Anmaßung adeligen Vollblutes oder (was fast noch schlimmer ist) bürgerlicher Patricier fühlbar wird; nur eine Stadt, wo neben bedeutendem Reichthum des Handelsstandes, dem die Wissenschaft glorreich zur Seite steht, auch Derjenige beachtet wird, der nichts besitzt, als seine Persönlichkeit; nur eine Stadt, wo über einer nicht gänzlich abzulegenden Kleinstädterei doch alle Vorzüge einer großen, ich möchte sagen, einer Weltstadt an’s Licht treten! Diese eine Stadt ist meiner individuellen Ansicht und meiner Erfahrung nach Leipzig.“ –

Seitdem Holtei dies schrieb, sind beinahe dreißig Jahre vergangen und ist das neue deutsche Reich gleichsam aus Kanonen geschossen. Kriegerische Errungenschaft muß sich friedlich verwirklichen. Dies ist bei dem uralten geschichtlichen Gegensatze zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland, worüber C. Frantz in seinem dicken Buche „Das neue deutsche Reich“ sich ungemein gründlich, wenn auch krankhaft gereizt ausgesprochen hat, schwieriger, als sich bis jetzt Staats- und Parlamentsmänner träumen lassen. Es ist nur durch Vermittelung und diese nur durch die mitteldeutschen, besonders sächsisch-thüringischen Culturverhältnisse und Menschen möglich. Leipzig ist entschieden der Hauptbrennpunkt derselben und zugleich Weltstadt. Man denke nur an die Waaren- und Buchhändlermesse, den Brennpunkt des deutschen Buchhandels. Außerdem ist es kein Zufall, daß in Leipzig das unter den Deutschen verbreitetste Weltorgan und zwar durch einen Thüringer geschaffen und groß gezogen ward. Um der Sache willen hat die Gartenlaube eine moralische Verpflichtung, diese bescheidene Bemerkung eines der ältesten Mitarbeiter stehen zu lassen. Auch die „Illustrirte Zeitung“ ist ein Reichsorgan, und nur in Leipzig erscheint eine „Deutsche Allgemeine“. Und hat es nicht etwa auch eine Bedeutung, daß diese Stadt fähig war, aus ihren eigenen Mitteln sich ein Theater für nahe an eine Million Gulden aufzubauen, daß sie Hunderttausende von Thalern an ihre Schulpaläste verwendet und daß rein aus Mitteln, die der Bürgersinn als Vermächtniß zur Verfügung stellte und als Geschenk vermehrt, ein Museum gegründet und mit Werken der Malerei, Sculptur und des Stichs ausgestattet werden konnte, welche sämmtlich entschiedenen Kunstwerth haben? Und zu dem Allen kommt, wie ich höre, jetzt der Prachtbau einer wohlthätigen bürgerlichen Stiftung, die Beide, Bau und Stiftung, in Deutschland nicht viel ihres Gleichen haben mögen. Die Bürger einer solchen Stadt sind berechtigt, vor aller Welt das zu zeigen, was nun auch in aller Welt geachtet wird, die wahre deutsche Bürgerwürde.

Holtei machte seine Erfahrung auf dem Theater. Dieses soll die Welt bedeuten. Das kleine Paris Deutschlands ist seitdem größer geworden und strafte noch nie Holtei’s Lobspruch Lügen. Im neuen deutschen Reiche haben Leipzig und die sächsisch-thüringischen Culturmenschen um das Symbol der deutschen Einheit, den Kyffhäuser, herum die hohe Reichsmission erhalten, den Gegensatz zwischen dem noch unverstandenen Begriffe des Reiches und dem starren Staatsbegriff aufzuheben und zwischen den alten süddeutschen Staaten und der ehemaligen Nordmark derselben, Preußen, die Vermittelungs- und Versöhnungsrolle zu übernehmen.

Berlin.

H. Beta.