Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck
von Dr. Johann Christian August Clarus, K. Sächsischem Hofrath, des Königlich Sächsischen Civilverdienst- und des Kaiserl. Russischen Wladimirordens IV. Klasse Ritter, ordentl. des. Professor der Klinik, des Kreisamts, der Universität und der Stadt Leipzig Physikus u. Arzt am Jakobsspital etc.
Ich freue mich den Lesern dieser Zeitschrift ein treffliches Gutachten des Herrn Hofrath Dr. Clarus über einen allgemeiner bekannt gewordenen, in mehr als einer Hinsicht schwierigen, Fall zweifelhaft erschienener Zurechnungsfähigkeit, mittheilen zu können. Zwar ist diese Arbeit bereits im Druck erschienen, aber auch sehr schnell vergriffen worden, und es geschieht die Aufnahme in die Zeitschrift unter völliger Zustimmung des Hrn. Verfassers, der seine Abhandlung noch einmal von Neuem durchgesehen und des Herrn Verlegers, der die weitere Verbreitung derselben auf diesem Wege wünschte. Der Aufsatz erschien zunächst als Gelegenheitsschrift und das Vorwort wurde an die Bewohner einer volkreichen Stadt, in den Tagen der Hinrichtung eines Verbrechers, gerichtet, dessen Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft gemacht worden war. Die Aeusserungen, zu denen der Herr Verf. sich bei dieser Gelegenheit veranlaßt sah, sind ohne Zweifel aber auch für das grössere Publikum geeignet, indem sie die Ansicht desselben über die Lebensstrafen überhaupt, bei dem gegenwärtigen Zustande der Gesetzgebung und Cultur, bezeichnen, und die Schwierigkeit seiner Lage bei Begutachtung dieses Falles andeuten. – Eine Arbeit wie diese aber, die nicht ein blos augenblickliches Interesse gewährt, sondern mit Scharfsinn und Gründlichkeit mehrere schwierige Aufgaben der gerichtlichen Medicin und Psychologie berührt, verdient gewiß in den Annalen der Staatsarzneikunde aufbewahrt zu werden.
Eine Handlung der strafenden Gerechtigkeit, wie sie der größere Theil der gegenwärtigen Generation hier noch nicht erlebt hat[1] bereitet sich vor. Der Mörder Woyzeck erwartet in diesen Tagen, nach dreijähriger Untersuchung, den Lohn seiner That durch die Hand des Scharfrichters. Kalt und gedankenlos kann wohl nur der stumpfsinnige Egoist, und mit roher Schaulust nur der entartete Halbmensch diesem Tage des Gerichtes entgegen sehen. Den Gebildeten und Fühlenden ergreift tiefes, banges Mitleid, da er in dem Verbrecher noch immer den Menschen, den ehemaligen Mitbürger und Mitgenossen der Wohlthaten einer gemeinschaftlichen Religion, einer seegensvollen und milden Regierung, und so mancher lokalen Vorzüge und Annehmlichkeiten des hiesigen Aufenthalts erblickt, der, durch ein unstätes, wüstes, gedankenloses und unthätiges Leben von einer Stufe der moralischen Verwilderung zur andern herabgesunken, endlich im finstern Aufruhr roher Leidenschaften, ein Menschenleben zerstörte, und der nun, ausgestoßen von der Gesellschaft, das seine auf dem Blutgerüste durch Menschenhand verlieren soll.
Aber neben dem Mitleiden und neben dem Gefühl alles dessen, was die Todesstrafe Schreckliches und Widerstrebendes hat, muß sich, wenn es nicht zur kränkelnden Empfindelei, oder gar zur Grimasse werden soll[2], der Gedanke an die unverletzliche Heiligkeit des Gesetzes erheben, das zwar, so wie die Menschheit selbst, einer fortschreitenden Milderung und Verbesserung fähig ist, das aber, so lange es besteht, zum Schutz der Throne und der Hütten auf strenger Waage wägen muß, wo es schonen und wo es strafen soll, und das von denen, die ihm dienen, und die es als Zeugen, oder als Kunstverständige, um Aufklärung befragt, Wahrheit und nicht Gefühle verlangt.
Eine solche Aufklärung ist in Woyzecks Kriminalprozeß, als es zweifelhaft geworden war, ob er seines Verstandes mächtig, und mithin zurechnungsfähig sey, oder nicht, von mir, als Physikus hiesiger Stadt, erfordert worden, und es ist wohl keinem Zweifel unterworfen, daß die hierdurch veranlaßte Untersuchung seines Seelenzustandes und die Begutachtung desselben einen entscheidenden Einfluß auf sein Schicksal gehabt hat.
Unter diesen Umständen glaubte ich es dem verehrten Publikum, so wie mir selbst, schuldig zu seyn, dieses wichtige Aktenstück, welches [489] ich anfänglich für eine später zu veranstaltende Sammlung wichtiger gerichtsärztlicher Verhandlungen bestimmt hatte, mit Bewilligung der Kriminalbehörde, schon jetzt öffentlich bekannt zu machen, und die zur allgemeinen Uebersicht der Sache gehörigen Nachrichten aus den Akten hinzuzufügen.
Jeder gebildete Leser wird aus dieser Schrift nicht nur die ganz eignen Schicksale des Delinquenten, sondern auch die Thatsachen, welche Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit erregten, und die Gründe, welche für die letztere entschieden haben, vollständig kennen lernen. – Dem Psychologen werden die sonderbare Mischung des Charakters, und die Aeusserungen dieses Menschen, Stoff zu mannigfaltigen Betrachtungen geben. – Der Rechtsgelehrte wird den eigenthümlichen Gang dieses Prozesses bemerkenswerth finden, der nach zweimaliger Vertheidigung des Inquisiten, nach Fällung eines gleichlautenden Urtheils durch zwei verschiedne Dikasterien, und nach landesherrlicher Bestätigung desselben, bis zur Vollstreckung der Execution fortgeschritten war, aber noch im letzten Augenblicke, auf die einfache Anzeige eines Privatmannes, zu einer ganz neuen Untersuchung führte, welche die Bestätigung des ersten Urtheils zur Folge hatte. – Dem Gerichtsarzt endlich bietet diese Schrift die sehr schwierige Bearbeitung eines zweifelhaften Seelenzustandes dar, der in Rücksicht auf den Umfang der zu beurtheilenden Thatsachen, in den Annalen dieser Wissenschaft, meines Wissens, keine gleich kommt. Alle Leser aller Stände aber werden, wie ich hoffe, Gelegenheit haben sich zu überzeugen, daß bei dieser, Leben und Tod entscheidenden Untersuchung, mit Fleiß, Gewissenhaftigkeit und treuer Wahrheitsliebe zu Werke gegangen worden ist. Dieselbe Wahrheitsliebe und Gewissenhaftigkeit macht es mir zur Pflicht dem würdigen Vertheidiger dieses Delinquenten, Herrn Handelsgerichtsaktuarius Hänsel, obgleich er in dieser Sache mein Gegner gewesen ist, hier öffentlich zu bezeugen: daß er mit unermüdetem Eifer, und mit dem rühmlichsten Aufwand von Scharfsinn und Kenntnissen seinem Schutzbefohlnen gedient, und bis zum letzten Augenblick kein Gnadenmittel unversucht gelassen hat, um die Erlassung der Todesstrafe zu erwirken. Zugleich fühle ich ihm mich zu dem aufrichtigsten Danke verbunden, daß er nicht mit den bekannten Waffen der Defensoren vom gewöhnlichen Schlage gegen mich in die Schranken getreten ist, sondern mit der Ruhe und dem Anstand, wie sie gebildeten und ihres Faches kundigen Männern gegen andere Sachverständige geziemt, meine Ansichten bestritten hat.
Und so hoffe ich denn, daß durch Lesung dieser Schrift das Publikum sich in der Ueberzeugung bestärken werde, daß alle Diejenigen, denen auf die Entscheidung dieses wichtigen Rechtsfalles einiger Einfluß zu Theil geworden ist, ihre Pflicht, so weit nur immer menschliche Kräfte [490] reichen, redlich erfüllt haben, und daß es, bei einer ganz nahe liegenden Vergleichung desselben mit dem berüchtigten Fonk’schen Prozesse, mit mir das Glück erkennen müsse, in einem Lande zu leben, wo nicht unwissende Geschworne, bei unvollständigen Beweisen, nach einem dunkeln moralischen Gefühl über Leben und Tod richten, sondern wo Thatsachen und Urtheile, von denen Menschenleben abhängt, der strengsten und vielseitigsten Prüfung unterworfen, und selbst dem überwiesenen Verbrecher, beim mindesten Anscheine einer Verminderung seiner Schuld, eine neue Frist, und eine neue Untersuchung verstattet, der Publicität solcher Verhandlungen aber kein Hinderniß in den Weg gelegt wird.
Mögen daher alle, welche den Unglücklichen zum Tode begleiten, oder Zeugen desselben seyn werden, das Mitgefühl, welches der Verbrecher als Mensch verdient, mit der Ueberzeugung verbinden, daß das Gesetz, zur Ordnung des Ganzen, auch gehandhabt werden müsse, und daß die Gerechtigkeit, die das Schwerdt nicht umsonst trägt, Gottes Dienerin ist. – Mögen Lehrer und Prediger, und alle Diejenigen, welche über Anstalten des öffentlichen Unterrichts wachen, ihres hohen Berufs eingedenk, nie vergessen, daß von ihnen eine bessere Gesittung und eine Zeit ausgehen muß, in der es der Weisheit der Regierungen und Gesetzgeber möglich seyn wird, die Strafen noch mehr zu mildern, als es bereits geschehen ist. – Möge die heranwachsende Jugend bei dem Anblicke des blutenden Verbrechers, oder bei dem Gedanken an ihn, sich tief die Wahrheit einprägen, daß Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit, ungesetzmäßige Befriedigung der Geschlechtslust, und schlechte Gesellschaft, ungeahnet und allmählich zu Verbrechen und zum Blutgerüste führen können. – Mögen endlich alle, mit dem festen Entschlusse, von dieser schauerlichen Handlung zurückkehren: Besser zu seyn, damit es besser werde.
Leipzig den 16. August 1824.
Am 21. Juni des Jahres 1821, Abends um halbzehn Uhr, brachte der Friseur Johann Christian Woyzeck, ein und vierzig Jahr alt, der sechs und vierzig jährigen Wittwe des verstorbenen Chirurgus Woost, Johannen, Christianen, gebornen Otto’in in dem Hausgange ihrer Wohnung auf der Sandgasse, mit einer abgebrochnen Degenklinge, an welche er desselben Nachmittags einen Griff hatte befestigen lassen, sieben Wunden bei, an denen sie nach wenigen Minuten ihren Geist aufgab, und unter denen eine penetrirende Brustwunde, welche die erste Zwischenrippenschlagader zerschnitten, beide Säcke des Brustfelles durchdrungen, und
[491] den niedersteigenden Theil der Aorta, an einem der Kunsthülfe völlig unzugänglichen Orte, durchbohrt hatte, bei der am folgenden Tage unternommenen gerichtlichen Section, so wie in dem darüber ausgefertigten Physikatsgutachten (den 2. Juli 1821), für unbedingt und absolut tödtlich erachtet wurde.
Der Mörder wurde gleich nach vollbrachter That ergriffen, bekannte selbige sofort unumwunden, recognoscirte vor dem Anfange der gerichtlichen Section, sowohl das bei ihm gefundene Mordinstrument, als den Leichnam der Ermordeten, und bestätigte die Aussagen der abgehörten Zeugen, so wie seine eigenen, nach allen Umständen bei den summarischen Vernehmungen und im artikulirten Verhöre.
Nachdem bereits die erste Vertheidigungsschrift eingereicht worden war (den 16. August 1821), fand sich der Vertheidiger, durch eine in auswärtigen öffentlichen Blättern verbreitete Nachricht, daß Woyzeck früher mit periodischem Wahnsinn behaftet gewesen, bewogen, auf eine gerichtsärztliche Untersuchung seines Gemüthszustandes anzutragen (am 23. August 1821).
In den dieserhalb mit dem Inquisiten gepflogenen fünf Unterredungen (am 26., 28. und 29. August; und am 3. und 14. September), führte derselbe zwar an, daß er sich schon seit seinem dreißigsten Jahre zuweilen in einem Zustande von Gedankenlosigkeit befunden, und daß ihm, bei einer solchen Gelegenheit einmal Jemand gesagt habe: du bist verrückt und weißt es nicht, zeigte aber in seinen Reden und Antworten, ohne alle Ausnahme, Aufmerksamkeit, Besonnenheit, Ueberlegung, schnelles Auffassen, richtiges Urtheil und ein sehr treues Gedächtniß, dabei aber weder Tücke und Bosheit, noch leidenschaftliche Reizbarkeit oder Vorherrschen irgend einer Leidenschaft oder Einbildung, desto mehr aber moralische Verwilderung, Abstumpfung gegen natürliche Gefühle, und rohe Gleichgültigkeit, in Rücksicht auf Gegenwart und Zukunft. – Mangel an äußerer und innerer Haltung, kalter Mismuth, Verdruß über sich selbst, Scheu vor dem Blick in sein Inneres, Mangel an Kraft und Willen sich zu erheben, Bewußtseyn der Schuld, ohne die Regung, sie durch Darstellung seiner Bewegungsgründe, oder durch irgend einen Vorwand zu vermindern und zu beschönigen, aber auch ohne sonderliche Reue, ohne Unruhe und Gewissensangst, und gefühlloses Erwarten des Ausganges seines Schicksals waren die Züge, welche seinen damaligen Gemüthszustand bezeichneten. – Unter diesen Umständen fiel das von mir abgefaßte gerichtsärztliche Gutachten (den 16. Sept. 1821) dahin aus, daß:
1) der von dem Inquisiten (rücksichtlich seiner Gedankenlosigkeit u. s. w.) angeführte Umstand, obgleich zur gesetzmäßigen Vollständigkeit der Untersuchung gehörend, dennoch, weil er vor der Hand noch blos auf der eigenen Aussage des Inquisiten beruhe, bei der gegenwärtigen [492] Begutachtung nicht zu berücksichtigen, und dieserhalb weitere Bestätigung abzuwarten sey;
2) die über die gegenwärtige körperliche und geistige Verfaßung des Inquisiten angestellten Beobachtungen kein Merkmal an die Hand gäben, welches auf das Daseyn eines kranken, die freie Selbstbestimmung und die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden Seelenzustandes zu schließen berechtige.
Da die in Bezug auf den ersten Punkt abgehörten Zeugen versicherten, daß Woyzeck zwar oft betrunken, außerdem aber nie in einem gedankenlosen Zustande gewesen sey, so wurde dem Inquisiten sowohl im ersten (den 11. Oktober 1821) als auch nachdem er mit einer nochmaligen Vertheidigung gehört worden war (den 3. December 1821), im zweiten Urtheil (den 29. Februar 1822) die Strafe durchs Schwerdt zuerkannt, und derselbe mit seiner zweimaligen Berufung auf landesh. Begnadigung und mit der Bitte, die Todesstrafe in Zuchthausstrafe zu verwandeln (den 29. April und den 3. September), abgewiesen (den 26. August und den 19. Sept.)
Noch vor dem Eintreffen der letzten Entscheidung hatte der Inquisit einem ihn besuchenden Geistlichen eröffnet, daß es ihm mehrere Jahre vor vollbrachtem Morde gewesen sey, als ob er fremde Stimmen um sich höre, ohne Jemand wahrzunehmen, von dem diese Stimmen hätten herrühren können, ingleichen daß er einstmals eine Geistererscheinung gehabt habe.
Dieser neue Umstand veranlaßte den ersten Vertheidiger des Inquisiten unterm 27. September auf eine nochmalige Untersuchung seines Gemüthszustandes durch den, als Verfasser des Werkes über die Seelenstörungen (Leipzig 1818), berühmten Herrn Dr. und Professor Heinroth allhier anzutragen (den 27. September).
Ob nun gleich von der Kriminalbehörde unterm 10. October, ohne in die Berufung des Vertheidigers auf die Untersuchung durch einen andern Arzt einzugehen, dem Verfasser der gegenwärtigen Schrift der Auftrag ertheilt wurde, den Inquisiten Woyzeck, wegen der demselben angeblich zugestoßnen Erscheinungen und Begegnisse, in Ansehung seines Gemüthszustandes, nochmals zu untersuchen; so hielt derselbe sich dennoch in seinem Gewissen verbunden, der Behörde, unter dankbarer Anerkennung des ihm durch diesen Auftrag erwiesenen ehrenvollen Zutrauens, zu erkennen zu geben, daß ihm, rücksichtlich der hohen Verantwortlichkeit, welche auf diesem Geschäfte lasten, die Mitwirkung eines zweiten Arztes, und namentlich des Herrn Dr. und Prof. Heinroth wenn selbige den bestehenden Formen und Einrichtungen für angemessen erachtet werden sollte, nicht anders als erwünscht seyn könne, und daß er sich hierbei blos, im Fall einer Meinungsverschiedenheit, eine Berufung auf die Entscheidung der medizinischen Facultät vorbehalte (den 15. Oktober).
[493] Auf den hierüber an die hohe Landesregierung erstatteten Bericht, erfolgte unterm 28. Oktober die Entscheidung, daß sie sich durch die angeführten Umstände zu einer anderweitigen Exploration des Inquisiten und zu Einholung eines Gutachtens der medicinischen Facultät nicht bewogen finde, und daß den gesprochnen Urtheilen und dem Rescripte vom 26. August dieses Jahrs nachgegangen werden solle.
Nachdem hierauf der 13te November zur Hinrichtung des Inquisiten angesetzt und derselbe zweien Geistlichen, um ihn zum Tode vorzubereiten, übergeben, auch die gewöhnliche Fürbitte für ihn in den Kirchen auf den nächsten Sonntag angeordnet worden war, trat am 5. November ein Privatmann mit der schriftlichen Anzeige auf, daß ihm von nahmhaft gemachten Augenzeugen versichert worden sey, der Delinquent habe wirklich von Zeit zu Zeit Handlungen vorgenommen, welche Verstandesverwirrung zu verrathen geschienen.
Auf den hierüber eiligst erstatteten Bericht, nach dessen Abgange jedoch einstweilen mit den Anstalten zur Hinrichtung fortgefahren wurde, ging am 10. November Morgens um 4 Uhr der Befehl ein, mit Vollstreckung des Urtheils annoch anzustehen, weitere Erkundigungen in der Sache einzuziehen, sodann die Akten dem Verfasser dieser Schrift anderweit zur Begutachtung vorzulegen, den Inquisiten nochmals mit einer Defension zu hören und das künftig eingehende Urtheil mittelst Berichts einzusenden.
Das diesem Befehl zufolge von mir erstattete Gutachten, welches ausser einer gedrängten Darstellung der auf die Beurtheilung des Falles Bezug habenden Lebens-, Gesundheits- und Geistesumstände des Inquisiten 1) eine medizinisch-psychologische Entwickelung der theils aus den Akten geschöpften, theils von mir selbst beobachteten Thatsachen; 2) die Folgerungen, die aus gedachten Thatsachen für die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten gezogen werden können, und endlich 3) die hierauf gegründete ärztliche Entscheidung enthält, lautet folgendermaßen.
Nachdem zufolge allerhöchsten Rescripts vom 9. November vorigen Jahres von Einem Hochlöblichen Königlich Sächsischen Kriminalgerichte allhier mir Endesunterschriebenen am 8. Januar dieses Jahres die Woyzeck’schen Akten anderweit zur Begutachtung vorgelegt worden sind, habe ich nicht nur der Durchsicht derselben mich sofort mit aller, der Wichtigkeit des Gegenstandes schuldigen Sorgfalt und Aufmerksamkeit unterzogen, sondern auch, in Rücksicht auf mehrere, neuerdings aktenkundig gewordene Umstände, die mir, aus ärztlich-psychologischem Gesichtspunkte betrachtet, noch eine genauere Erörterung zu erfordern schienen, den Inquisiten Woyzeck, nach mündlich eingeholter Genehmigung des Gerichtes, nochmals zu fünf verschiedenen [494] Malen, nämlich am 12., 26., 29. und 31. Januar und am 21. Februar 1823, und zwar das letztemal vorzüglich in der Absicht, um die wichtigsten Resultate der frühern Unterredungen einer nochmaligen Prüfung zu unterwerfen, jedesmal anderthalb bis 2 Stunden lang, aufs genaueste exploriret, und dabei nachstehendes ersehen und beobachtet.
Der Inquisit Woyzeck stammt von durchaus rechtschaffenen Eltern, die ihren gesunden Verstand bis an ihr Ende behalten, und nie eine Spur von Tiefsinn oder Verstandeszerrüttung gezeigt haben. (Vol. I. Fol. etc.)[3] Nachdem er in seinem achten Jahre seiner Mutter, und im dreizehnten Jahre seines Vaters, der sich zwar um seine Erziehung wenig bekümmert, ihn aber nicht hart behandelt, und für seinen Unterricht in der Freischule auf eine, seinem Stande und seinem Vermögen angemessene Weise gesorgt hatte, durch den Tod beraubt worden, hat er die Perückenmacherprofession erlernt, und hierbei zwar seinen ersten Lehrherrn aus eigenem Antriebe verlassen, sich aber nach dem Zeugnisse von Personen, welche ihn damals gekannt haben, bis zu seinem achtzehnten Jahre, wo er sich auf die Wanderschaft begeben, jederzeit sehr gut, ruhig und verständig betragen, und niemals eine Spur von Verstandesverwirrung oder Tiefsinn an sich blicken lassen. Nach sechsjährigen Reisen, auf denen er in Wurzen, Berlin, Breslau, Teplitz und Wittenberg bald als Friseur, bald als Bedienter, conditioniert hat, von welchem Zeitraume aber über seine Aufführung und Gemüthsverfassung keine Nachrichten bei den Akten befindlich sind, ist er nach Leipzig zurückgekehrt und hat hier, in Ermanglung anderer Beschäftigung, eine Zeitlang Kupferstiche illuminiert, hierauf im Magazine gearbeitet, und zuletzt wieder eine Bedientenstelle bei dem Kammerrath Honig in Barneck angenommen. Während dieser Zeit hat er sich, nach dem Zeugnisse des damaligen Kutschers Heuß, der mit ihm täglich zusammen gewesen ist, sehr gut, gesetzt und fleißig betragen, keine Veranlassung zu Klagen gegeben, und keine Spur von Tiefsinn oder Verstandesverrückung an sich bemerken lassen. Ebenso bezeugt die Traugottin, damals Schindelin, mit der er bei dem Wattenmacher Richter zusammengewohnt und Umgang gehabt hat, daß er heitern Gemüths, nicht zänkisch und streitsüchtig, sondern vielmehr recht ruhig, bescheiden und verständig gewesen sey. Da aber diese [495] Person späterhin, als sie bei dem M. Buschendorf in Diensten gewesen, seine Bewerbungen, um derentwillen er fast täglich von Barneck hereingekommen ist, und ihr theils in der Allee, theils im Hause aufgelauert hat, nicht mehr annehmen wollen, hat er ihr nicht nur (nach der von ihr beschwornen Aussage) einstmals in der Feuerkugel mit den Worten: Höre, Canaille, du willst mir untreu werden, mehrere Schläge an den Kopf gegeben, weshalb sie ihn auf dem Rathhause denuncirt hat, sondern auch bald darauf Abends zwischen zehn und eilf Uhr an die Thür ihrer Wohnung in Englers Hause geklopft, und als sie geöffnet, ihr, da sie blos mit einem Mantel bekleidet gewesen, an die Brust gegriffen, sie auf den Hof zu ziehen gesucht, und ihr dabei (nach ihrer Aussage) mit einem großen Mauersteine, nach seinem Eingeständnisse aber mit der Faust, in der er einen Schlüssel gehabt und in der Absicht ihr eins zu versetzen, oder ihr ein Andenken zu hinterlassen und mit den Worten: Luder, du mußt sterben, zwei Schläge auf den Kopf gegeben und ihr eine Wunde von der Größe eines Kupferdreiers beigebracht, hierauf aber sich entfernt und am folgenden Tage in Gesellschaft seines Stiefbruders Richter, jedoch ohne diesem zu sagen, daß es der Schindelin wegen geschehe, auch ohne daß dieser die geringste Spur von Verstandesverrückung an ihm wahrgenommen hat, Leipzig verlassen. Nach einer mit Richtern über Berlin bis Posen gemachten zehnwöchentlichen Reise, ist er im Jahr 1806 nach der Schlacht bei Jena zu Grabow im Meklenburgischen in Holländische, sodann, nachdem er am 7. April 1807 vor Stralsund von den Schweden gefangen und nach Stockholm transportirt worden, in Schwedische, hierauf als nach dem Feldzuge in Finnland und der Entthronung Gustavs IV. sein Regiment nach Stralsund versetzt und allda von den Franzosen entwaffnet worden, in Mecklenburgische, nach dem Feldzuge in Rußland durch Desertion wieder in Schwedische und zuletzt nach der Abtretung von Schwedisch-Pommern, in Preußische Kriegsdienste getreten, aus denen er im Jahr 1818 seinen Abschied erhalten hat. Ueber seine Aufführung und seinen Gemüthszustand während dieses Zeitraums von 12 Jahren sind keine Zeugnisse bei den Akten vorhanden, er selbst aber versicherte bei den Unterredungen, welche ich im Monat August 1821 mit ihm gehabt und in denen ich ihn aufs genaueste nach allen seinen Lebensumständen gefragt habe, daß er es überall sehr gut gehabt, sich zur Zufriedenheit seiner Obern aufgeführt, sich nicht in Duelle und Schlägereien eingelassen, noch weniger aber heimlichen Groll genährt, Vergnügungen und Zerstreuungen nicht sonderlich geliebt, sich am liebsten in seinen Nebenstunden mit Versuchen in allerlei mechanischen Arbeiten, z. B. mit Erlernung der Papp- und Schneiderarbeit beschäftiget, und den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht zwar nicht gesucht, aber auch die Gelegenheit dazu nicht verschmäht, sich aber immer mehr zu einer [496] Person gehalten habe, wobei es ihm ziemlich gleichgültig gewesen sey, ob diese mit mehreren zu thun gehabt, oder nicht. Ausführlicher, und diesen frühern Aussagen zum Theil widersprechend, gibt er bei seinen neuen Vernehmungen an, daß er im Jahre 1810 Umgang mit einer ledigen Weibsperson, der Wienbergin, gehabt, mit dieser ein Kind gezeugt, während der Zeit, als er bei den Mecklenburgischen Truppen gestanden, auf die Nachricht, daß sich diese Person unterdessen mit andern abgebe, zuerst eine Veränderung in seinem Gemüthszustande bemerkt, dieserhalb sich wieder zu den Schweden begeben, und den frühern Umgang mit ihr fortgesetzt habe. Diese Veränderung habe sich dadurch geäussert, daß er ganz still geworden und von seinen Kameraden deßhalb oft vexirt worden sey, ohne sich ändern zu können, so daß er, ob er gleich seine Gedanken möglichst auf das zu richten gesucht, was er gerade vorgehabt, es nichts destoweniger verkehrt gemacht habe, weil ihm zuweilen auf halbe Stunden lang, oft auch nur kürzere Zeit, die Gedanken vergangen seyen. Mit dieser Gedankenlosigkeit habe sich späterhin, in Stettin, ein Groll gegen einzelne Personen verbunden, so daß er, gegen alle Menschen überhaupt erbittert, sich von ihnen zurückgezogen habe und deßwegen oft ins Freie gelaufen sey. Ueberdieß habe er beunruhigende Träume von Freimaurern gehabt und sie mit seinen Begegnissen in Beziehung gebracht. Als er eines Nachmittags mit seinen Kameraden in einer Stube gewesen, habe er Fußtritte vor derselben gehört, ohne diesfalls etwas entdecken zu können, und es für einen Geist gehalten, weil ihm einige Tage vorher von einem solchen geträumt habe. Seine Unruhe habe fortgedauert, als er von Stettin nach Schweidnitz und Graudenz in Garnison gekommen sey, und er habe, als ihm ein Traum die Erkennungszeichen der Freimaurer offenbart, geglaubt, daß ihm diese Wissenschaft gefährlich werden könne, und daß er von den Freimaurern verfolgt werde. Auch habe er am letztern Orte einmal des Abends am Schloßberge eine Erscheinung gehabt und Glockengeläute gehört, ein andermal aber habe ihm des Nachts auf dem Kirchhofe jemand, den er nicht gewahren können, mit barscher Stimme einen guten Morgen geboten.
Nach seiner Zurückkunft hieher im December 1818 hat er bis zur Ausführung der Mordthat, nach und nach folgende Wohnungen und Beschäftigungen gehabt und dabei, seinem Anführen nach, folgende Begegnisse erlebt:
1) bei Steinbrücken, wohin ihn die Woostin gebracht, ihn dort für ihren Liebsten ausgegeben und den Miethzins für ihn bezahlt, und wo er, weil er kein Verdienst und Beschäftigung gehabt, von Unterstützungen gelebt hat. Er selbst sagt im Allgemeinen, daß sein Zustand und seine Idee von Verfolgung durch Freimaurer hier fortgedauert und daß ihm das Herz manchmal sehr stark geschlagen habe. Aus dem Zeugnisse der [497] Steinbrückin ist zu ersehen, daß er sich damals gut betragen und zuweilen in Büchern gelesen, jedoch (mit Unwahrheit) behauptet habe, daß er Papparbeit verfertige und seinem Stiefvater Richter helfe.
Nach einem Aufenthalt von 6 Wochen ist er
2) zu dem Juden Samson Schwabe in Dessau gekommen, den er in einer Krankheit gewartet hat und bei dem er wiederum 6–7 Wochen geblieben ist. Dieser versichert, daß er, wenn er nicht betrunken gewesen, sich gut und sehr vernünftig betragen und nie Ursache gegeben habe, an seinen gesunden Verstandeskräften zu zweifeln, daß er aber den Trunk in hohem Grade geliebt habe, und daß die gegen ihn, als er ihm in einer solchen Periode hoher Trunkenheit alles verkehrt gemacht habe, gebrauchte Aeusserung: Kerl, du bist verrückt und weißt es nicht; sich blos auf seinen trunkenen Zustand, keineswegs auf eigentliche Verstandeszerrüttung beziehe.
3) Vom Februar 1819 bis zu Johannis 1820 bei der Stiefmutter der Woostin, der Wittwe Knoblochin in dem Hause des Gelbgießers Warnecke, in welchem dessen Pachter Jordan eine Schenkwirthschaft treibt; wo er bald auf den Wollboden des Herrn Knobloch gearbeitet, bald auf Empfehlung der Knoblochin bei dem Buchbinder Wehner in Volkmarsdorf Papparbeit gemacht, bald für den Buchhändler Klein illuminirt, auch während dieser Zeit dem Buchhalter Herrn Lang und dem Hrn. M. Gebhard, ingleichen während der Messe den Fremden Benedix bedient hat. Nach dem Zeugnisse dieser Person und namentlich Warneckes, Jordans, Wehners, Hrn. Langs und Hrn. M. Gebhards hat er sich auch in dieser Zeit sehr verständig, still und bescheiden betragen, die ihm ertheilten Aufträge zu ihrer Zufriedenheit besorgt, auch keine Merkmale von Tiefsinn oder Verstandesverrückung, und überhaupt nichts auffallendes in seinem Benehmen blicken lassen. Mehrere derselben, nämlich Warnecke und Wehner, haben bemerkt, daß er den Branntwein geliebt und manchmal zu viel getrunken habe, auch hat die Knoblochin darüber gegen Jordan geklagt.
Letztere sagt übrigens, daß Woyzeck mit ihrer Tochter Umgang gehabt, aber wegen ihres häufigen Umganges mit Soldaten Eifersucht gefaßt, die Woostin mehreremale gemißhandelt und so viel Lärm und Unruhe gemacht habe, daß sie ihm auf Warneckes Verlangen das Logis aufsagen müssen. Den Vorfall, der hierzu Veranlaßung gegeben hat, erzählt Warnecke folgendermaßen: Er, Warnecke, habe einstmals zu Woyzecken in der Jordanschen Schenkwirthschaft gesagt: Hier, Woyzeck, Mordhahn, willst du ein Glas Schnaps trinken? Woyzeck aber ihm hierauf eine pöbelhafte Antwort gegeben, und als er selbst sich hierauf bestürzt gegen Jordan gewendet, mit den Worten: der Kerl pfeift dunkelblau, sich entfernt. Als nun hierauf Warnecke der Knoblochin habe sagen lassen, sie müsse ausziehen, wenn sie Woyzeck nicht fortschaffe, [498] habe ihm dieser, ehe noch solches geschehen, mehrere Briefe und in einem derselben die (gereimten) Worte geschrieben: Der Sachse bietet Frieden dem türkischen Sultan an, er ist doch nicht zufrieden, wenn er nicht prügeln kann. – Als nun Warnecke, bei Lesung dieses Briefes, gesagt: Nun kriegt der Kerl Prügel, wenn er wieder kommt, habe Woyzeck, der den Brief selbst gebracht und, in der Küche stehend, diese Worte gehört habe, erwidert: da lauert er eben drauf, worauf Warnecke ihm einige Hiebe gegeben, und jener nach deren Empfang gesagt habe: das ist rechtschaffen gedacht, nun sind wir quitt, Wurst wider Wurst! Ueber diesen Auftritt, bei dem nach Warneckes Vermuthung Woyzeck etwas betrunken gewesen seyn soll, was jedoch Jordan unwahrscheinlich findet, äußert sich Woyzeck, er habe geglaubt, Warnecke wolle ihn für den Narren halten. Da nun dessenungeachtet Woyzeck von der Knoblochin ausziehen müssen, hat er sich abermals
4) bei der Steinbrückin 14 Tage lang aufgehalten, und dabei verwogen und, weil er keine Arbeit gehabt, tiefsinnig und betrübt ausgesehen, die Mütze tief ins Gericht gerückt, als ob er sich schäme, und als er, auf Erinnern den Miethzins nicht bezahlen können, sogleich seine Effekten zusammen gepackt und sich
5) zu dem Zeitungsträger Haase begeben, wo er von Johannis bis einige Wochen vor Michaelis 1820 in einer Dachkammer am Tage bei einer Lampe gearbeitet und des Nachts geschlafen, sich mit Papparbeiten beschäftiget und nebenbei den Hrn. Lang und Herrn M. Gebhard zu bedienen gehabt hat, welches jedoch, wenigstens was den letztern betrifft, schwerlich richtig seyn kann, da dieser angibt, daß er ihn schon zu Pfingsten dieses Jahres verabschiedet habe. In dieser Kammer, behauptet er, bei Tage und in der Nacht, vielfältig gestört worden zu seyn. Er habe es hören sprechen, obgleich niemand in der Nähe geschlafen. Manchmal habe es auf dem Deckbette getappt, und wenn er darnach gegriffen, weil er es für Ratten oder Mäuse gehalten, habe er nichts gefunden. Einmal als er Abends nach 10 Uhr nach seiner Kammer habe gehen wollen, habe er es in seiner Nähe stark knistern und deutlich eine Stimme sprechen hören: O, komm doch! Er sey darüber sehr heftig erschrocken und deßwegen herunter zum Wirth, dieser aber mit einer Laterne in die Kammer gegangen, ohne etwas zu bemerken. Weil er sich sehr gefürchtet daselbst zu schlafen, habe er auf seinen Betten drei Nächte in des Wirthes Stube zugebracht, und als er nachher wieder bis zu seinem Wegzuge in derselben Kammer geschlafen, es zwar nicht wieder laut, aber wohl leise immer allerhand sprechen hören. Zu derselben Zeit sey es ihm gewesen, als ob sein Herz mit einer Nadel berührt würde und er habe die dabei empfundenen Beunruhigungen dem Teufel zugeschrieben, und von ihm geglaubt, daß er ihm, als er gebetet, die Worte zugerufen habe: Da hast du den lieben Gott. Von diesen Ereignissen [499] durch den Zeitungsträger Haase am Tage nach der Mordthat unterrichtet, hat Herr Dr. Bergk Veranlassung genommen, eine Nachricht über den Gemüthszustand des Inquisiten im Allgemeinen, in den Nürnberger Correspondenten einrücken zu lassen (welche den Vertheidiger zuerst veranlaßt zu haben scheint, auf Exploration des Gemüthszustandes des Inquisiten anzutragen), späterhin aber, nachdem schon der Tag der Hinrichtung bestimmt gewesen, den Vertheidiger in nähere Kenntniß von Haasens Erzählungen zu setzen, namentlich, daß sich Woyzeck in der Stube herumgewälzt, sich für verloren erklärt und Handlungen, welche Verstandesverwirrung verrathen, vorgenommen habe. Haase und seine Frau modifiziren diese Erzählung dahin, daß sie, außer den bereits erwähnten Vorfällen, in seinen Reden und Handlungen nichts Ungereimtes bemerkt haben, und auch davon, daß er sich auf den Dielen herum gewälzt und gerufen habe: ich bin verloren, nichts wissen wollen, jedoch angeben, daß er in den heißen Monaten Juni und Juli 1820 mehrmals des Nachts von seiner Kammer herunter in ihre Stube gekommen sey, unter dem Vorgeben, es leide ihn nicht oben, es spucke in seiner Kammer, es zupfe am Deckbette und rufe ihn, weßhalb er mehrere Nächte hintereinander in ihrer Stube zugebracht, nachher aber unausgesetzt, bis zu seinem Wegziehen, wieder in der Kammer geschlafen habe, aber in diesem Zeitraume von ohngefähr drei Wochen auch am Tage, unter dem Vorgeben, daß es ihm keine Ruhe lasse, nicht zu Hause geblieben sey. An einem der oben gedachten Abende hat er, nach der Haasin Aussage, mit stieren Augen vor sich hingesehen, aber keine besondere Gemüthsunruhe verrathen. Ein andermal aber hat sie ihn des Abends um 11 Uhr die Treppe sehen herunter kommen und wieder hinaufsteigen und dieses mehrmals wiederholen, wobei er das erstemal: Da kommt’s, da kommt’s! gerufen haben und noch einige Stunden auf dem Gange herumgelaufen seyn soll. Uebrigens stimmen beide Eheleute darin überein, daß Woyzeck gesagt habe, es bedeute seinen Tod, jedoch mit dem Beifügen, daß er gewöhnlich alle Jahre im Sommer dergleichen Zufälle gehabt habe, und daß es ihm schon beim Militär öfters gewesen sey, als ob er bei seinem Namen gerufen werde; beide aber weichen darin von einander ab, daß Haase versichert, Woyzeck habe, wenn er des Nachts und auch einmal, als er am Tage heruntergekommen sey zu ihm und seiner Frau die Worte gesagt: Aufs Deckbette, aufs Deckbette! während die Haasin behauptet, er habe ihr blos erzählt, daß in seiner Kammer zwei Personen miteinander sprächen, von denen die eine immer diese Worte rufe, ingleichen, daß er einmal des Mittags mit dem Essen, das ihm die Woostin gebracht, herunter in ihre Stube gekommen sey und gesagt habe: Es leide ihn nicht oben, es habe immer gesprochen: Auf dem Teller, auf dem Teller! Als Ursache seines Wegziehens gibt Woyzeck selbst nicht die Spuckgeschichte an, [500] sondern daß er in seiner Kammer am Tage bei einer Lampe gearbeitet, und der Wirth dieses nicht gelitten habe, dieser aber, daß seine Frau ängstlich geworden sey, und daß er ihn nicht länger habe leiden wollen, weil die Woostin so oft zu ihm gekommen. Nach seinem Wegziehen von Haasen ist er, seiner eigenen Aussage nach, vierzehn Tage herberglos gewesen und hat nachher
6) bei dem Buchbinder Wehner in Volkmarsdorf vor der Michaelismesse 1820 drei bis vier Wochen, und späterhin noch zu zwei verschiedenen Malen, in der Neujahr- und Ostermesse 1821, jedesmal ungefähr eben so lange gearbeitet, auch mit Wehnern und den Seinigen im Ganzen ohngefähr vier Wochen in einer Stube geschlafen. Auch hier hat es ihm, wie er behauptet, keine Ruhe gelassen; Wehner aber bemerkt, daß er manchmal in Gedanken gesessen und dann zusammengefahren sey, weßhalb jener ihn ermahnt Gott vor Augen zu haben, dieser aber versprochen habe, in der nächsten Nacht recht fleißig beten zu wollen. Uebrigens will Wehner nichts Auffallendes an ihm bemerkt haben, sondern gibt ihm das Zeugniß, daß er fleißig und gelassen, und sein Schlaf gut gewesen sey, daß er sich Mühe gegeben, etwas zu lernen, aber zuweilen (wie schon oben sub 2 bemerkt worden) ein Glas Schnaps zu viel getrunken und dann weniger gearbeitet habe. Sein Ganzes sey gewesen, daß er sich nicht habe in ein ordentliches Brod finden können.
Aus Mangel an hinreichender Beschäftigung scheint Woyzeck zu Anfang des Winters 1820 den Entschluß gefaßt zu haben, Stadtsoldat zu werden, daher ihn der Feldwebel von gedachter Garnison
7) bei dem Unterofficier Pfeiffer untergebracht hat, wo er bis Weihnachten dieses Jahres geblieben, aber, weil sein Abschied nicht richtig gewesen, bei der Garnison nicht angenommen worden ist. Hier hat er mit dem Tambour Vitzthum einige Wochen lang in einem Bette geschlafen und sich mit Illuminiren für Herrn Klein beschäftiget, aber auch Vitzthumen mehrere Kleinigkeiten, und darunter einen Degen mit Scheide, entwendet, solche aber, sobald sie dieser wieder verlangt, zurückerstattet. Beide versichern, daß sein Betragen gut und verständig und nicht zänkisch gewesen sey; auch hat sein Schlafgeselle Vitzthum nie eine Unruhe, oder sonst etwas Auffallendes an ihm wahrgenommen, obgleich Woyzeck behauptet, daß er auch hier Stimmen gehört, und sonderbare Träume gehabt habe, ohne sich etwas merken zu lassen.
Nachdem Woyzeck Vitzthumen obgedachte Sachen entwendet, ist er, seiner Angabe nach, abermals einige Nächte herberglos und einige Tage im Arrest gewesen, sodann aber
8) Zu der Naumannin gezogen, wo er in der Neujahrmesse 1821 drei Wochen lang gewohnt und vorgegeben hat, Friseur, Schneider, Papparbeiter und Illuminirer zu seyn, ohne Kamm, Scheere, Fingerhut, Papier und Pinsel zu haben, auch zu Hause nichts gearbeitet, sich aber übrigens [501] verständig betragen und alle Morgen aus einem, der Tochter der Naumannin gehörigen Buche gebetet hat. Er selbst sagt blos, daß es ihn auch hier verfolgt habe.
Um diese Zeit ist er auch noch in Warneckes Hause aus- und eingegangen, hat der dort wohnenden Woostin hinter der Thüre aufgelauert, und dabei öfters, meinend, es sey diese, eine andere Weibsperson, unter andern eines Abends die Frau des Lohnbedienten Marschall an der Hausthüre angehalten, als er aber seinen Irrthum bemerkt, gesagt: Ach verzeihen Sie, ich habe Sie verkannt, und sie nachher ruhig gehen lassen. An demselben Abend hat er der Woostin auf der Treppe aufgelauert, und auf ihre Weigerung, mit ihm spazieren zu gehen, sie mit der Hand, in der er die Scherben eines zerbrochnen Topfes gehabt, blutrünstig geschlagen, ist aber deßhalb von den dazu gekommenen Personen festgenommen und hierauf mit 8tägigem Arrest bestraft worden, bei welcher Gelegenheit an ihm keine Spur einer besondern Unruhe, Zerstreuung oder Gedankenlosigkeit wahrgenommen worden ist. Nach seiner Entlassung hat er sich bis vor Ostern 1821
9) bei dem Bierschenken Haase aufgehalten. Woyzeck sagt, sein Zustand habe hier fortgedauert, die Haasin aber: sein Betragen sey durchaus untadelhaft und still vor sich hin gewesen, er habe mit den übrigen Bettburschen in Frieden gelebt, und sogar einstmals, ob er gleich nur 16 Pf. gehabt, dennoch einen Armen wollen zu essen geben lassen. Zwar habe er ihr von seinen Träumen erzählt, namentlich, daß ihm von schwarzen Pferden geträumt habe, und daraus den Schluß gezogen, daß es ihm noch sehr unglücklich gehen werde; doch habe dieses auf seine Handlungen keinen Einfluß gehabt, und er sey so vernünftig gewesen, als ein anderer Mensch.
Ebenso versichert der Handarbeiter Schröder, welcher mit ihm bei Haasen im Quartier gelegen, und mit ihm in einer Kammer geschlafen hat, er habe sich jederzeit ruhig und ganz verständig betragen, nicht gezankt und gelästert; auch sey er des Nachts nicht unruhig gewesen und habe nie geklagt, daß er unruhig sey, oder daß ihm sonst etwas fehle.
Endlich hat er bis ungefähr zum 20. Mai 1821
10) bei der um diese Zeit verstorbenen Wittigin im schwarzen Brette eine Bettstelle gehabt. Er selbst versichert, daß er auch hier Stimmen vernommen habe. Dahin gehört seine Erzählung, daß es ihm, als er einen zerbrochenen Degen gekauft, zugerufen habe:
Stich die Frau Woostin todt!
wobei er gedacht: Das thust du nicht, die Stimme aber erwidert habe:
Du thust es doch.
Um dieselbe Zeit hat er die Woostin in der Allee von Bosens Garten, auf ihre Weigerung, mit ihm zu gehen, mit der Faust ins Gesicht geschlagen, [502] wovon ihr dasselbe aufgeschwollen und mit Blut unterlaufen ist, und kurz nachher, als er sie mit seinem Nebenbuhler auf dem Tanzboden getroffen, sie die Treppe hinunter geworfen, und auf der Straße einen Stein aufgehoben, um damit nach ihr zu werfen, diesen aber wieder fallen lassen. Die Benadtin, Enkelin der Wittigin, welche mit ihm zugleich bei der Wittigin gewohnt hat, bezeugt, er habe sich für einen dienstlosen Markthelfer ausgegeben, nur sehr wenig, und in der letzten Zeit, wo er tiefsinnig gewesen, gar nicht gesprochen, sey aber in seinem Betragen höflich, bescheiden und ganz verständig, auch nur ein einziges Mal betrunken gewesen, wo er sehr viel gesprochen und erzählt habe, er habe selbigen Tages seine Geliebte geprügelt.
Von derselben Zeit sagt Warnecke, daß er damals Meßfremde in seinem Hause bedient, sich ganz still und vernünftig betragen, auch ihm und andern keine Vermuthung, daß er geisteskrank sey, gegeben habe, ausserdem aber gutes Muthes gewesen sey.
Von dem Tode der Wittigin an, hat er sich bis zur Ausführung seiner That, acht bis vierzehn Tage lang im Freien herumgetrieben und von Unterstützungen guter Menschen gelebt, die er aber schriftlich gebeten zu haben vorgiebt, weil er seine Bitten mündlich vorzutragen unvermögend gewesen und dabei zuweilen in Verlegenheit gekommen sey. Uebrigens erhellet aus den Akten, daß die Woostin, ungeachtet ihres offnen Umgangs mit einem Andern, dennoch auch den Umgang mit Woyzeck keineswegs gänzlich abgebrochen, ihm sogar noch in der Ostermesse d. J. den vertrautesten Umgang gestattet; ein andermal, als er ihr in Begleitung der Böttnerin begegnet, ihn etwas zurückweisend behandelt, dennoch ihm auf den Tag, wo die Mordthat vorgefallen, auf der Funkenburg eine Zusammenkunft versprochen, ihm aber nicht Wort gehalten, sondern mit dem Soldaten Böttcher einen Spaziergang gemacht hat: daß Woyzecks Gedanken indessen immer mit der Woostin und ihrer Untreue beschäftigt gewesen, daß er, nachdem er sie am Morgen desselben Tags unter einem erdichteten Vorwande zu sprechen gesucht, den übrigen Theil des Tages unbeschäftigt herumgelaufen, auch auf der Funkenburg gewesen, aber, weil er geglaubt, sie komme doch nicht, nur ein paarmal hin und her gegangen (über welches er alles in einem seiner ersten Verhöre, am 4. Juli, sich umständlich verbreitet und sogar Personen namhaft macht, die er auf seinen Gängen gelegentlich habe sprechen wollen, späterhin aber, und besonders beim artikulirten Verhöre, sich an alle diese Umstände nicht mehr erinnern will, sondern gegen seine frühern Aussagen, bemerkt, daß er dieselben blos um deswillen abgelegt habe, weil man wissen wollen, wo er die Woostin getroffen und er sich nicht darauf besinnen können), daß er ferner gegen Abend, in der Absicht, die Woostin damit zu erstechen, die Degenklinge in ein Heft stoßen lassen, und als er [503] hierauf der Woostin zufällig begegnet und von ihr erfahren, daß sie nicht auf der Funkenburg gewesen, sie nach Hause begleitet, auf diesem Wege an seinen Vorsatz nicht wieder gedacht, in der Hausflur des Hauses aber, wo die Woostin gewohnt, und als ihm diese etwas gesagt, wodurch er in Zorn gerathen, die That vollzogen, nach vollbrachter That sich im Geschwindschritt entfernt, bei seiner Verhaftung den Dolch wegzuwerfen gesucht, und gleich nachher, als ihm auf seine Frage, ob die Woostin todt sey, niemand geantwortet, gesagt hat: Gott gebe nur, daß sie todt ist, sie hat es um mich verdient!
Um vor allen Dingen Woyzecks Zutrauen zu gewinnen und ihn geneigt zu machen, um seines eignen Vortheils willen die reine Wahrheit zu sagen, stellte ich demselben zuvörderst vor, daß er die Unterredungen mit mir nicht als ein strenges Verhör und mich nicht als seinen Richter zu betrachten habe, sondern daß er sich völlig frei und ungezwungen über alles erklären könne, was er auf seinem Herzen habe.
Zwar könne und dürfe ich keine Hoffnungen zu Milderung seines Schicksals in ihm erregen, schon aus dem Grunde, weil es ihm nachher desto schmerzlicher fallen würde, wenn sie dennoch nicht erfüllt werden sollten. Indessen könne und wolle ich ihm eben so wenig verbergen, daß das Geschäft zu dem ich beauftragt sey, allerdings Einfluß auf sein Schicksal haben werde. Nur müsse ich ihm bemerklich machen, daß er in dieser für ihn so wichtigen Sache am sichersten gehen werde, wenn er sich in seinen Aussagen und Erzählungen aufs allerstrengste an die reine Wahrheit halte.
Er selbst sey nicht im Stande, zu beurtheilen, was für Folgerungen aus denselben gezogen werden könnten, und er möge daher wohl bedenken, daß eine Unwahrheit, mit der er sich vielleicht zu retten glaube, eben so gut zu seinem Verderben gereichen könne. Er möge daher seine Sache Gott befehlen, in dessen Hand Leben und Tod stehe, und mit getrostem Muthe und freudig die Wahrheit sagen, keinen Umstand erdichten oder im geringsten entstellen, aber auch nichts verschweigen, was er für sich und für die Richtigkeit seiner Aussagen anführen könne. Klugheit und Ränke, sollten sie auch noch so fein ausgesponnen seyn, würden ihn nicht retten, weil er sich dabei sicherlich in Widersprüche verwickeln werde. Wohl aber könne er überzeugt seyn, daß, wenn es Umstände gebe, die noch jetzt zu einer mildern Beurtheilung seiner That führen könnten, diese nur durch eine ganz offne Darlegung seines Innersten an den Tag kommen würden. Er möge sich daher in seinen Antworten und Aussagen nicht übereilen, [504] sondern alles wohl überlegen, zu welchem Ende ich ihm bei jeder Antwort soviel Zeit lassen wolle, als er nur verlange.
Nachdem ich diese Ermahnung an ihn gerichtet hatte, gab ich ihm auf, mir den Sinn derselben zu wiederholen, und er that dieses auf eine Art, aus der ich ersah, daß er selbige nicht nur vollkommen verstanden hatte, sondern, daß sie auch nicht ohne Eindruck auf sein Herz geblieben war.
Ich hielt es nun für zweckmäßig, meine Aufmerksamkeit zuerst auf die Vergleichung seines gegenwärtigen und seines früher von mir beobachteten körperlichen und geistigen Zustandes zu richten, um nach den Veränderungen, die sich mittlerweile in beiden ereignet haben konnten, mein weiteres Verfahren zu bestimmen, und seine Aeußerungen über die Hauptgegenstände der Untersuchung zu beurtheilen. Hierbei fand ich
1) Was sein Aeußeres und seine körperliche Gesundheit betrifft:
Blick, Miene, Haltung, Gang und Sprache völlig unverändert, die Gesichtsfarbe, wegen Entbehrung der freien Luft und Bewegung, etwas blässer, Athemholen, Hautwärme und Zunge völlig natürlich. Uebrigens versicherte der Inquisit, daß sein Schlaf ruhig und ohne beunruhigende Träume, sein Appetit gut, und seine natürlichen Ausleerungen in vollkommner Ordnung seyen. Beide zuletzt erwähnten Umstände bestätigte auch auf Befragen der Stockmeister Richter, und fügte hinzu, daß Woyzeck während der ganzen Zeit seiner Gefangenschaft, noch nie über das geringste Uebelbefinden geklagt habe.
Dagegen bemerkte ich, daß das schon früher während der ersten Minuten der Unterredung an ihm wahrgenommene Zittern des ganzen Körpers, besonders wenn mein Besuch ihm sehr unerwartet kam, etwas länger anhielt, und daß der Puls- und Herzschlag zwar regelmäßig und gleichförmig, aber nicht nur voller und beschleunigter war, sondern daß auch der Puls, so oft ich ihn im Laufe der Unterredung untersuchte, immer etwas unruhig, der Herzschlag aber stärker und fühlbarer blieb und einen größern Umfang einnahm, als im natürlichen Zustande. Wenn er dagegen, wie es einigemal geschah, eine halbe Stunde vorher von meiner Ankunft unterrichtet war, bemerkte ich alles dieses in weit geringerem Grade.
2) Was den dermaligen geistigen Zustand des Inquisiten und zwar
a) den Verstand desselben anlangt, so fand ich an ihm weder Unstätigkeit und Zerstreuung, noch Ueberspannung, Abspannung, Vertiefung oder Verworrenheit der Gedanken und Vorstellungen sondern ungetheilte und anhaltend mehrere Stunden ausdauernde Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Unterredung, so daß er mit demselben, auch während ich von Zeit zu Zeit meine Bemerkungen niederschrieb, ununterbrochen beschäftigt schien, und nachher öfters den Faden da [505] wieder aufnahm, wo ich ihn hatte fallen lassen, in seinen Erzählungen es meistens selbst erinnerte, wenn er sich von der Zeitfolge entfernte, oder bei Nebenumständen verweilte, auch nachher jedesmal von selbst, in einer natürlichen und zusammenhängenden Gedankenfolge, zur Hauptsache zurückkehrte. Den Sinn der an ihn gerichteten Fragen faßte er augenblicklich, so daß ich nie genöthigt war, eine Frage zu wiederholen, und beantwortete sie nicht nur schnell und treffend, sondern war auch, so oft ich es verlangte, im Stande, den Sinn derselben mit andern Worten zu wiederholen, was mir besonders bei den Fragen nöthig schien, die seinen Gemüthszustand unmittelbar vor, bei und nach der That betrafen. Sein Gedächtniß war ihm völlig treu geblieben, so daß er Begebenheiten, die er mir vor anderthalb Jahren erzählt hatte, mit denselben Nebenumständen wiederholte. Seine Begriffe sind, soweit sie sich auf Gegenstände und Verhältnisse der Sinnenwelt beziehen, richtig und dem Grade seiner geistigen Bildung angemessen, und ob er gleich in Beziehung auf Begriffe von religiösen und übersinnlichen Gegenständen nicht frei von gewissen, in seinem Stande und bei seiner Erziehung nicht ungewöhnlichen Irrthümern und Vorurtheilen ist, die ihn zu falschen Ansichten und Meinungen verleiten, wie ich dieses weiter unten ausführlich entwickeln werde, so ist doch bei ihm keine Spur von krankhafter Exaltation, Abstumpfung oder Verworrenheit der Begriffe zu bemerken, und ich habe mich durch fortgesetzte Unterredungen über den Gegenstand dieser Irrthümer, überzeugt, daß sein Verstand in Rücksicht auf selbige der Belehrung fähig und für bessere Ueberzeugung zugänglich ist.
b) In Rücksicht auf das Gemüth des Inquisiten fand ich zwar ebenfalls, so wie bei meinen frühern Unterredungen mit ihm, keine Spur einer ungestümen Aufregung, Reizbarkeit, Spannung, Unruhe und Leidenschaftlichkeit, oder von Abstumpfung, Erstarrung, Vertiefung und Niedergeschlagenheit, und mithin nichts, was auf die Gegenwart irgend eines krankhaften Zustandes des Gemüths, auf Wahnsinn, Tollheit oder Melancholie und deren verschiedene Formen, Grade und Complicationen zu schließen berechtigen könnte. Dagegen aber bemerkte ich sehr bald, daß seit meiner frühern Untersuchung in Rücksicht auf die Stimmung seines Gemüths, unter dem Einfluße der einfachen und regelmäßigen Lebensart im Gefängnisse, einer humanen Behandlung, des Zuspruchs des Geistlichen, der Lesung der Bibel und andrer religiösen Schriften, der langen Einsamkeit und Zurückgezogenheit auf sich selbst, und der Aussicht auf den Tod, dessen Pforten er so nahe gestanden hat, eine sehr wesentliche und günstige Veränderung mit ihm vorgegangen sey. Er ist um vieles zugänglicher, offner, zutraulicher und gesprächiger geworden, und scheint das Bedürfniß zu fühlen, sich mitzutheilen.
[506] Das gleichgültige, kalte, rauhe und verwilderte Wesen, das ich früher an ihm beobachtete, hat sich verloren. Er hat Zeit und Aufforderung gefunden, einen ernsthaften Blick in sein Inneres, auf Vergangenheit und Zukunft zu werfen; die Reue ist in ihm erwacht und mit ihr die Liebe zum Leben. Er scheut sich nicht mehr, zu gestehen, daß er den Tod durch Henkers Hand fürchte, und daß er einen mildern Urtheilsspruch wünsche, so wie sein ganzes Benehmen zeigt, daß er einige Hoffnung dazu nährt. Daher scheinen die psychologischen Erscheinungen, über die er bereits vor Gericht ausführlich befragt worden ist, und deren Beziehung auf den Ausgang seines Schicksals er ahndet, jetzt den Hauptgegenstand seines Sinnens und Denkens auszumachen. Ganz unaufgefordert fing er, schon während ich die vorläufigen nöthigen Fragen über den gegenwärtigen Zustand seiner körperlichen Gesundheit an ihn richtete, davon zu sprechen an, und suchte angelegentlich immer von Neuem darauf zurückzukommen. Als ich nun, dem mir entworfenen Plane gemäß, wirklich auf diesen Hauptgegenstand der Untersuchung näher einging, war er unerschöpflich in seinen Erzählungen und Erläuterungen, und es drängte ihn sichtbar, sich ausführlich darüber mitzutheilen, um nichts zu übergehen, was ihm zur Sache zu gehören schien.
Auf Befragen, warum er mir von allen diesen Dingen nicht schon bei der ersten Untersuchung erzählt und auf eine Menge dahin führender Fragen geschwiegen habe, erwiderte er: Er sey damals noch desperat gewesen, weil er kein Zutrauen zu den Menschen gehabt und geglaubt habe, daß er von ihnen verfolgt werde. – Es sey ihm gleichgültig gewesen, wie es ginge. – Er wisse nicht, ob er sich vielleicht geschämt habe. – Er habe gedacht: wozu solle das viele Schreiben. – Er habe mir auch für die Mühe noch nicht gedankt, die ich mir damals mit ihm gegeben und wolle es nunmehr thun etc. Ob ich nun gleich in seinen Aeußerungen durchaus kein Bestreben wahrnahm, mich durch offenbare und geflissentliche Unwahrheiten zu täuschen, gegen welche ich ihn wiederholt dringend warnete, so bemerkte ich doch sehr deutlich, daß er sich von Zeit zu Zeit durch seine Einbildungskraft fortreißen ließ, die Begebenheiten auszumalen, oder ihnen willkürliche Beziehungen unterzulegen, und daß er sich bei fortgesetztem Nachgrübeln über diese Vorfälle, aufgeregt durch den schwachen Schimmer der auf sie gebauten Hoffnung, und verleitet durch die ihm ohnehin anhängenden Vorurtheile über die Bedeutung der Träume, über Geistererscheinungen u. s. w. (S. u.) von Selbsttäuschung nicht völlig frei erhalten hatte.
Nach diesen vorläufigen Erörterungen über den gegenwärtigen körperlichen und geistigen Zustand des Inquisiten, die als das Resultat meiner sämmtlichen Unterredungen mit ihm zu betrachten sind, und [507] die ich um deßwillen zusammen fassen und vorausschicken zu müssen geglaubt habe, weil sie wesentlich dazu beitragen, den Gesichtspunkt festzusetzen, von dem die Beurtheilung der ganzen Sache ausgehen muß: wende ich mich zu dem Theile meiner Untersuchung, der sich zunächst auf den besondern Gemüthszustand, in dem sich der Inquisit zu verschiedenen Zeiten seines Lebens befunden hat, und auf die Erscheinungen und andern Begegnisse, die er gehabt zu haben vorgibt, beziehet.
Es ist hierbei zu bemerken, daß der Inquisit schon bei seinen frühern Unterredungen mit mir angegeben hat, wie er schon seit seinem 30sten Jahre manchmal sehr ärgerlich und desperat gewesen, und öfters, wenn er über irgend einer Arbeit lange nachgedacht, in einen Zustand gerathen sey, in dem er gar nichts mehr gedacht habe. Da die, auf meinen Antrag, hierüber abgehörten Zeugen, auf die sich Woyzeck berufen hatte, diese Angaben nicht bestätigten, so ist von mir ausdrücklich erinnert worden, »daß diese Umstände bei der gegenwärtigen Begutachtung dieses Falles um deßwillen nicht zu berücksichtigen seyen, weil sie blos auf dem Zeugnisse des Inquisiten beruheten, und daß dieserhalb die weitere Bestätigung abzuwarten sey«. Zu gleicher Zeit ist bei gedachter Untersuchung bemerkt worden, daß der Inquisit gemeiniglich während der ersten Minuten der Unterredung am ganzen Körper gezittert habe, daß er den Kopf stille zu halten nicht vermögend und sein Puls und Herzschlag in diesem Zustande sehr beschleunigt und verstärkt, ingleichen daß er seiner eignen Angabe nach etwas vollblütig und mit Nasenbluten behaftet gewesen sey. Da nun alle diese Zufälle sehr oft von Unordnungen und Störungen des Blutlaufs herrühren, da sich einige derselben, dem obigen zufolge, jetzt in etwas verstärktem Grade zeigen, und da es bekannt ist, daß Visionen, wie sie der Inquisit gehabt zu haben vorgibt, sehr oft mit dergleichen Störungen des Blutlaufs zusammen hängen, so schien es mir nothwendig an jene schon früher beobachteten Thatsachen die gegenwärtige Untersuchung anzuknüpfen. Aus den hierüber an ihn gerichteten Fragen ergab sich Folgendes:
Er sey allerdings in seinen frühern Jahren, besonders unmittelbar vor und nach dem 30sten, etwas vollblütig gewesen und habe dabei zuweilen eine Spannung und Auftretung der Adern und ein Stechen im Kopfe gefühlt. Dieser Zustand sey öfters durch Nasenbluten erleichtert worden. Unter andern habe er einmal in Stockholm eine ganze Stunde lang aus der Nase geblutet, worauf ihm so leicht geworden, daß es ihm, als er auf der Straße gegangen, gewesen sey, als ob er kaum die Erde berühre. Vor ungefähr sechs Jahren habe sich manchmal dazu ein Gefühl von schmerzhafter Zusammenziehung in der Gegend des Herzens, oder als ob das Herz mit einer Nadel berührt werde, und ein krampfhafter Schmerz in den Gliedern nach der Richtung der Blutgefäße gesellt, auf [508] welchen Herzklopfen, Angst, Schlagen in den Adern und Hitze im Kopfe gefolgt sey. Während dieses Zustandes sey es ihm einmal vom Herzen ins Genicke und von da in den Kopf gefahren, wobei es ihm gedäucht, als ob es in der Gegend des Hinterkopfes sitzen bliebe, und wobei er in demselben Augenblicke ein Prasseln, Schnurren oder Brummen im Genicke verspürt habe. Dergleichen Anfälle habe er seitdem öfters und auch jetzt noch, zuweilen alle Tage, wobei ihn anfänglich, ohne alle äußere Veranlaßung, ein allgemeines Zittern anwandle. Durch Bewegung des Körpers und durch Richtung der Gedanken auf einen andern Gegenstand verliere sich dieser Zufall, und es sey ihm nachher ordentlich wohl. Um sich seinen Zustand nicht merken zu lassen, habe er meistens wenig gesprochen, auch zuweilen das, was andere mit ihm gesprochen hätten, nicht recht gehört, weil es ihm immer vor dem rechten Ohre gesaust und gebraust habe. Zuweilen sey ihm auch dunkel vor den Augen geworden und ihm gewesen, als ob er seinen Kopf nicht fühle. Zuweilen habe ihm dabei das Herz, unter einem Gefühl von krampfhafter Zusammenziehung, wie still gestanden, sich nachher gleichsam aufgeblasen und dabei sey ihm wohler geworden. Bei dergleichen Zufällen sey er manchmal sehr ärgerlich gewesen; auch könne er nicht läugnen, daß er überhaupt und besonders während seiner Dienstzeit oft zu viel Branntwein getrunken habe. Der Anfang dieser Zufälle habe sich gerade zu der Zeit ereignet, wo er zu Stralsund mit der Wienbergin Umgang gehabt, und seine Gedanken immer auf die Vollziehung seiner Verbindung mit ihr gerichtet habe. Da er nun deßhalb häufig zerstreut gewesen, so habe ihm dieses allerhand Neckereien von seinen Kameraden zugezogen, weßhalb er sich von ihnen entfernt habe, und gleichgültig gegen alles und menschenscheu geworden sey. Bei dieser Verstimmung hätten sich die vorhin gedachten Beängstigungen am Herzen und die Benommenheit des Kopfes vermehrt, so daß er zuweilen, wenn er lange die Gedanken auf etwas gerichtet, zuletzt gar nichts mehr gedacht habe.
Da er nun immer mehr vexirt worden sey, da er auch von den Officiers mancherlei unverdiente Kränkungen habe erfahren müssen, und sich zugleich seiner beabsichtigten Heirath immer mehr Schwierigkeiten in den Weg gestellt hätten, so habe sich Groll, Bitterkeit und Mißtrauen gegen die Menschen überhaupt eingefunden. Er habe sich immer zwingen müssen, freundlich gegen die Menschen zu seyn, und es sey ihm gewesen, als ob ihn alle für den Narren halten wollten. Daher sey er sehr empfindlich geworden, so daß ihn das Geringste habe aufbringen können. Bei geringeren Veranlaßungen zum Unwillen habe er am ganzen Körper gezittert, aber dabei noch immer an sich halten können; bei stärkern Anreizungen aber sey ihm der Zorn in den Kopf und vor die Stirne gefahren, und habe ihn dergestalt überwältigt, daß er seiner nicht [509] mehr mächtig gewesen. Namentlich habe er diese Abstufungen des Zornes bei seinen Zänkereien mit der Woostin wahrgenommen, und sich bei Verübung der Mordthat in einem solchen Zustande von Ueberwältigung befunden, daß er darauf losgestochen habe, ohne zu wissen, was er thue. – Zuweilen sey es ihm dabei gewesen, als ob er eine Force habe, um alles zerreißen zu können, und als ob er die Leute auf der Gasse mit dem Kopfe zusammenstoßen müsse, ob sie ihm gleich nichts zu Leide gethan. Uebrigens habe er einen Gedanken, den er einmal gefaßt habe, nicht leicht wieder los werden können, besonders unangenehme Vorstellungen, und dabei öfters lange hinter einander immer auf einen einzigen Gegenstand hingedacht, bis ihm zuletzt ganz die Gedanken vergangen seyen und er gar nicht mehr habe denken können. Dieses sey der Zustand der Gedankenlosigkeit gewesen, den er einigemal erwähnt habe, und der von ihm gewichen sey, wenn er die Gedanken auf einen andern Gegenstand gerichtet habe. Inzwischen habe ihn alles dieses nicht gehindert, alle seine Geschäfte ordentlich zu verrichten, und so habe er z. B. in diesem Zustand beim Regiment den Dienst eines Gefreiten, der ihm eigentlich nicht zugekommen, und wobei öfters zu schreiben gewesen, ohne Anstoß versehen. Sein ganzes Unglück aber sey eigentlich gewesen, daß er die Wienbergin habe sitzen lassen, da ihm doch seine Officiers späterhin zu dem Trauschein hätten behülflich seyn wollen. Blos dadurch, daß er hierzu keine Anstalten gemacht, sey sein vorher guter Charakter verbittert worden, weil es nun einmal vorbei gewesen sey, und er es nicht wieder habe gut machen können. Der Gedanke an sein Kind und an diese von ihm verlassene Person sey ganz allein die Ursache seiner beständigen Unruhe geworden, und daß er nie habe einig mit sich selbst werden können. Späterhin habe er sich auch Vorwürfe wegen seines Umgangs mit der Woostin gemacht, da er doch eigentlich die Wienbergin habe heirathen sollen. Er habe sich daher auch geärgert, wenn die Leute von ihm gesagt hätten, daß er ein guter Mensch sey, weil er gefühlt habe, daß er es nicht sey. –
Ueber seine Erscheinungen und die übrigen dahin einschlagenden Begebenheiten eröffnete er mir Folgendes:
Er habe von jeher an die Bedeutung der Träume geglaubt und sie nach seiner Art auszulegen gesucht, wobei vieles zugetroffen habe. Vor Gespenstern habe er sich zwar eigentlich nie gefürchtet; allein da es doch Geister gäbe, so glaube er, daß diese durch Gottes Schickung auf die Menschen wirken und in ihnen allerhand Veränderungen hervor [510] bringen könnten. Da ihm nun verschiedene Male in seinem Leben Dinge begegnet seyen, die er sich aus dem gewöhnlichen Laufe der Natur nicht habe erklären können, so sey er auf den Gedanken gekommen, daß Gott sich auch ihm auf diese Weise habe offenbaren wollen, und sollte dieß auch nicht der Fall gewesen seyn, so könne er sich doch nicht überzeugen, daß diese Dinge blos in seiner Einbildung beruht haben sollten. – Zugleich gestand er auf Befragen, er habe die Gewohnheit gehabt, bald heimlich, bald, wenn er allein gewesen, laut mit sich selbst zu sprechen und dazu Gesticulationen zu machen, oder wie er sich ausdrückte, allerhand bei sich auszufechten.
Schon auf seinen Wanderungen habe er von reisenden Handwerksburschen allerhand nachtheilige Gerüchte über die Freimaurer gehört, unter anderm, daß sie durch heimliche Künste, zu denen sie nichts als eine Nadel brauchten, einen Menschen ums Leben bringen könnten. Er habe dieses damals nicht geglaubt, glaube es auch jetzt nicht mehr, allein er habe sich doch immer mit diesem Gedanken beschäftiget und sich allerhand Vorstellungen gemacht, woran sich wohl die Freimaurer unter einander erkennen möchten. Da habe ihm einmal geträumt: er sehe drei feurige Gesichter am Himmel, von denen das mittlere das größte gewesen. Er habe diese drei Gesichter auf die Dreieinigkeit bezogen und das mittlere auf Christus, weil diese die größte Person in der Gottheit sey. Zugleich habe er gedacht, daß in dieser Zahl auch das Geheimniß der Freimaurer liegen könne, das ihm auf diese Art offenbart werden solle, und habe sich eingebildet, daß das Aufheben dreier Finger das Freimaurerzeichen sey. Als ich ihn aufforderte, mir dieses Zeichen zu machen, verweigerte er solches anfänglich und versicherte, das habe er noch Niemanden gesagt. Als ich ihm aber zuredete, ergriff er mit dem Daumen, dem Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand meine Fingerspitzen und brachte nachher die genannten drei Finger seiner Hand in aufgehobener Stellung ungefähr so, wie es bei der militärischen Begrüßung gewöhnlich ist, an seine Stirne. Einst habe er in Stralsund einen Baugefangenen zum Verhör führen müssen, und als er während desselben an der Thür Wache gestanden, sey ihm eingefallen, dieses Zeichen zu machen, um zu sehen, ob wohl der Platzkommandant ein Freimaurer sey, jedoch ohne diesem die Hand zu geben. Dieser habe ihn scharf angesehen, ihm nachher ein Glas Wein einschenken lassen und zu ihm gesagt: Wenn man was wisse, müsse man’s hübsch sagen! Da er nun weiter nichts gewußt, habe er sich in den Kopf gesetzt, nun werde er schön ankommen. Nach einigen Tagen habe der Platzkommandant [511] nach dem Exerciren zum Feldwebel gesagt: Wenn der Kerl Blutspeien kriegt, so melden Sie mirs gleich, und es sey ihm gewesen, als ob er ihn dabei angesehen habe. Es könne aber auch ein anderer gemeint gewesen seyn. Dennoch habe er sich darüber gewaltig beunruhigt, sey gleich nach dem Exerciren bei großer Hitze ins Freie gelaufen und habe hier dreimal ein Zittern am Herzen verspürt, als ob eine Flüssigkeit in einem Fläschchen auf und nieder geschüttelt werde, gleich nachher aber einen Schlag im Nacken empfunden und dabei ein Zischen gehört. Dieses habe er nun mit seiner Meinung, daß die Freimaurer durch heimliche Künste schaden könnten, in Verbindung gebracht und geglaubt, der Augenblick ihrer Rache sey nun gekommen. Er habe aber immer fortgebetet und gedacht: sie sollen dir doch nichts anhaben. Jetzt glaube er von allem diesen nichts mehr, und bedaure es, daß er sich so viele Unruhe darüber gemacht habe.
Was nun seine einzelnen Visionen, besonders diejenigen, von denen in den Akten Erwähnung geschieht, anlangt, so erzählte er mir mit vieler Umständlichkeit folgendes:
Es habe ihm einst von einem Geiste geträumt, den er in der Kleidung eines Mönchs gesehen. Sechs Tage nachher als er an einem Sonntag Nachmittags mit seinem Kameraden allein zu Hause und die Hausthür verschlossen gewesen sey, hätten sie beide Fußtritte vor dem Zimmer gehört. Es sey dann auf den Boden gegangen, und nicht wieder herunter gekommen, und er habe deßhalb geglaubt, es sey ein Geist, sich auch bis Abends nicht getraut aus dem Zimmer zu gehen, um nachzusehen, was es wäre! –
Er sey einst im October Abends, ungefähr um sieben Uhr, aus der Festung Graudenz nach der eine halbe Stunde davon entlegenen Stadt gegangen, und habe da am Himmel drei feurige Streifen gesehen, die nachher wieder verschwunden seyen. Als er sich umgesehen, habe er an der entgegengesetzten Seite des Himmels einen einzelnen ähnlichen Streifen gesehen, und dabei Glockengeläute gehört, was ihm unterirdisch geschienen hätte. Weil er sich nun damals immer noch mit dem Gedanken an die Freimaurer beschäftiget und geglaubt habe, daß ihm schon einmal durch die drei feurigen Gesichter hierüber eine Offenbarung zu Theil geworden sey, so habe er sich eingebildet, daß dieses wohl ähnliche Beziehung haben könne, und daß wohl die Freimaurer ihr Zeichen verändert, und ein anderes gewählt haben möchten, worauf [512] das Verschwinden der drei Streifen und das Erscheinen des Einzelnen hindeute. Er habe nachher eine alte Frau darüber gefragt, und diese ihm gesagt: von dem Streifen am Himmel habe sie nichts gesehen, das Glockengeläute hätten aber schon viele gehört, es gehe die Sage, daß ehedem an dieser Stelle ein Schloß versunken sey. Er selbst habe diese Sage für ein Volksmärchen gehalten.
In der Festung Graudenz sey unter der Garnison das Gerede gewesen, daß der verstorbene Commandant umgehe. Da er sich nun eines Abends nach dem Zapfenstreich, ohne Wissen seiner Vorgesetzten, aus der Festung geschlichen, bis des Nachts um 2 Uhr in einer Schenke zugebracht und daselbst getanzt und schlechten Branntwein getrunken, sich jedoch nicht betrunken habe, sey er bei seiner Zurückkunft in große Verlegenheit gerathen, wie er unentdeckt wieder hineinkommen solle. Er sey daher mit Gefahr den Hals zu brechen an einer Stelle der Festungswerke herab und an einer andern wieder hinauf geklettert, und habe sich, um die Patrouille vorüber zu lassen, auf dem Glacis auf die Erde gelegt, an welches der Kirchhof gestoßen habe. Hier sey eine große Figur in einem blauen Ueberrock und mit einem kleinen dreieckigen Hut nicht weit von ihm in der Nähe des Kirchhofes vorüber gegangen und habe ihm mit barscher Stimme zugerufen: Guten Morgen. Er selbst habe nunmehr den Augenblick wahrgenommen, wo die Wache abgelöst worden und sey in das nahe befindliche Thor hineingeschlüpft. Der Unterofficier habe ihn auch bemerkt, aber weil das Thor finster gewesen, sey er dennoch unentdeckt in seine Kaserne gekommen.
Er sey grob gegen Warnecke gewesen, weil er geglaubt habe, daß ihn dieser für den Narren haben wolle. – Den Ausdruck: der Kerl pfeift dunkelblau[4], habe er mehrmals gehört, könne aber nicht mehr sagen, was er damals eigentlich damit gemeint habe. Die Reime an Warnecke hätten sich darauf bezogen, daß dieser einmal auf der Redoute den türkischen Kaiser vorgestellt habe. Seine Absicht sey gewesen, daß er ihm seine Grobheit nicht nachtragen solle.
In der von ihm bewohnten Kammer sey ungefähr in der Mitte ihrer Höhe eine Art von Verschlag oder Bucht gewesen, in der während der Messe jemand geschlafen, damals aber Stroh gelegen habe. Von Mäusen und Ratten habe er gerade nichts bemerkt, denn es habe manchmal Fleisch oder Brod an der Erde gestanden, welches von ihnen nicht berührt worden sey. Allein in der Thür sey eine Oeffnung gewesen, durch die eine Katze habe hineinkriechen können, auch habe er manchmal des Nachts eine darinnen bemerkt. Zu dieser Zeit sey das Brausen in seinen Ohren sehr heftig gewesen, es habe ihm gedäucht, als ob ihm von oben her Hitze auf den Kopf ginge, und als ob ihm der Kopf zerspringen solle. Dabei habe er Schmerz in den Schläfen, Herzklopfen, allgemeine Hitze im ganzen Körper und Schweiß vor der Stirne gehabt. Auf dem gedachten Verschlage habe er es in der Nacht und nachher auch bei Tage öfters knistern und rumoren hören und sich dabei des Gedankens nicht erwehren können, daß es Geister wären. Um diese Zeit habe ihm einmal von einem Geiste geträumt, der zu ihm gesagt hätte: ich werde dir einen andern schicken! worauf er selbst im Traume geantwortet habe: ich fürchte mich nicht! –
Sechs Tage nachher, also gerade so lange, als nach einem ähnlichen Traume in Stettin, sey er Abends nach zehn Uhr in seine Kammer gekommen und habe die Thüre schon zugemacht gehabt. Da habe auf dem Verschlage eine ganz feine Stimme, wie die eines jungen Frauenzimmers, die Worte gesagt: o komm doch! Es hätten sich ihm die Haare in die Höhe gesträubt und er sey sogleich herunter zu Haasens gelaufen, wo er drei Nächte zugebracht habe. – Ein andermal, als er am Tage in dieser Kammer gesessen, und eben eine Arbeit beendiget, habe er in der Nebenkammer eine Stimme gehört, welche gesagt: was macht er nun? Als er nachgesehen, sey niemand in der Kammer gewesen. – Darauf habe es ihm einmal die Worte: aufs Deckbette, aufs Deckbette, und ein anderes Mal: auf dem Teller, auf dem Teller, zugeflüstert, wovon er auch der Haasin erzählt habe. Weil er aber von Haasens darüber ausgelacht worden, habe er ihnen nachher nicht mehr alles gesagt. – Einmal sey ihm gewesen, als ob eine Stimme mit ihm spräche und eine dritte dazwischen sage: die erzählen sich einander etwas. Meistens habe es ihm geschienen, als ob sich zwei miteinander stritten, gleichsam eine warnende Stimme, und eine andere, die ihn wolle auf Abwege führen. Er habe sich wohl zuweilen die Vorstellung gemacht, dieß sey die Stimme des Gewissens, aber das könne doch nicht laut sprechen. Mehrmals bediente er sich bei diesen Erzählungen des Ausdrucks: Es habe um ihn geschrieen. Als ich ihn aber deßhalb genauer befragte, nahm er diesen Ausdruck zurück und sagte: er habe diese Stimme immer nur leise vernommen, [514] aber doch so, daß er sie wirklich habe hören können. Uebrigens versicherte er zu wiederholten Malen, er habe diese Stimme immer nur mit dem rechten Ohre gehört. Gewöhnlich sey es ihm gewesen, als ob Jemand auf seiner rechten Seite neben ihm gehe und ihm zuflüstere. Zuweilen habe es ihm aber auch geschienen, als ob die Stimme in einer Entfernung von sechs Schritten, jedoch immer mehr auf der rechten Seite, sich vernehmen lasse. Blos wenn mehrere Stimmen untereinander gesprochen hätten, habe er nicht genau unterscheiden können, ob er sie blos mit dem rechten Ohre, oder mit beiden zugleich höre. Nach dem Vorfalle, der ihn veranlaßt habe, einige Nächte in Haasens Stube zuzubringen, sey ihm eine Zeitlang recht wohl gewesen. Doch erinnere er sich, daß ihn einmal, als ihn die Woostin bestellt, und er gesehen habe, daß sie ihn für den Narren halten wollen, worüber er sich geärgert, das Herz den ganzen Tag dermaßen geschlagen habe, daß er nichts mehr habe arbeiten können. Schon früher, als er mit den Mecklenburgern vor Lübeck gestanden, sey er einmal in einem Anfall von Unmuth ganz nahe daran gewesen, sich zu erschießen, und habe schon sein Gewehr geladen, und einen Bindfaden an dem Hahn befestigt gehabt, um mit dem Fuße loszudrücken, als im selbigen Augenblicke, wegen eines Ausfalls, den die Franzosen gemacht, Generalmarsch geschlagen und er hierdurch verhindert worden sey. In dem Sommer, wo er bei Haasens gewohnt, habe ihn der Gedanke an Selbstmord auch immer verfolgt, und er habe, als er einmal Baden gegangen sey, die Stimme gehört: Spring ins Wasser, spring ins Wasser!
Die hier beschriebenen Beängstigungen und Beunruhigungen durch Stimmen hätten übrigens zur Zeit seines Aufenthalts bei Haasen ihren höchsten Grad erreicht, und sich nachher allmählich beruhigt und vermindert.
Seine Eifersucht gegen die Woostin schreibe sich von der Zeit her, wo er bei dem Stadtsoldaten Pfeiffer gewohnt habe. Als in Gohlis die Kirmse gewesen, habe er Abends im Bette gelegen und an die Woostin gedacht, daß diese wohl dort mit einem anderen zu Tanze seyn könne. Da sey es ihm ganz eigen gewesen, als ob er die Tanzmusik, Violinen und Bässe durcheinander, höre, und dazu im Takte die Worte: Immer drauf, immer drauf! Kurz vorher habe ihm von Musikanten geträumt, und das habe ihm immer was übles bedeutet. Am andern Tage habe er gehört, daß die Woostin wirklich mit einem andern in Gohlis gewesen sey und sich lustig gemacht habe!
6) In Ansehung der Ereignisse von der Neujahrs- bis zur Ostermesse des Jahres 1821, ingleichen der Vergehungen, die er sich während dieser Zeit zu verschiedenen Malen gegen die Woostin erlaubt hat, blieb er ganz bei seinen in den Verhören erstatteten Aussagen stehen, und versicherte, daß er zu denselben blos durch Eifersucht, wozu ihm diese [515] Person häufig Gelegenheit gegeben, keineswegs aber durch die Stimmen, die sich um ihn vernehmen lassen, veranlaßt und gereizt worden sey. Ueberhaupt habe sie ihn schon lange vorher für den Narren gehabt, ihm manchmal schnöde begegnet, ihm einmal, als er beleidigt von ihr gegangen, zum Fenster heraus nachgerufen: Du kannst abkommen, und ihn überhaupt wegen seiner Armuth verachtet, dennoch aber sich manchmal wieder mit ihm abgegeben. Während er bei der Wittigin gewohnt habe, sey es ihm einmal, als die Woostin vor dem grimmaischen Thore von ihm Abschied genommen, und ihm noch aus der Entfernung dreimal: Leb’ wohl! zugerufen habe, gewesen, als ob eine Stimme zu ihm sage: Sie will nichts von dir wissen. – Die Stimme: Stich die Frau Woostin todt! habe er auf der Treppe nach seinem Logis gehört, als er eben die Degenklinge gekauft gehabt, und sie mit dem Gedanken besehen habe, daß sich daraus müßten hübsche Messer machen lassen. Uebrigens habe er, wie er wiederholt, und in mehreren Unterredungen versicherte, diese Stimme nur dieses einzige Mal und nachher nie wieder gehört, auch seyen in den acht Tagen vor der Mordthat, wo er herberglos herumgelaufen, und weil er kein Geld gehabt, weniger Schnaps getrunken habe, die Beängstigungen geringer und die Stimmen seltner gewesen. Am Tage der Mordthat selbst aber habe er gar keine Beängstigungen gehabt und gar keine Stimmen gehört, auch an die Stimme die ihn aufgefordert, die Woostin zu erstechen, gar nicht gedacht, wohl aber habe der Gedanke, die Woostin zu erstechen, ihn von jenem Augenblick an unablässig verfolgt, sey jedoch immer nur ein Uebergang und gleich wieder vorbei gewesen, auch habe er, um ihn los zu werden, den Degen in den Teich vor dem grimmaischen Thore werfen wollen. Was die Ereignisse des Tages betrifft, an dem die Mordthat geschehen ist, so versichert er zwar fortwährend, daß ihm davon nur ein dunkles Andenken geblieben sey. Dennoch erinnerte er sich nicht nur vollkommen deutlich an die Hauptumstände: nämlich daß er schon am Morgen dieses Tages die Woostin unter einem falschen Vorwand aufgesucht, den ganzen Tag herumgelaufen, die Degenklinge, in der Absicht zu morden, abgeholt, und den Griff daran befestigt, die Woostin, der er vor dem Petersthore zufällig begegnet sey, nach Hause begleitet und ihr in der Hausflur mehrere Stiche beigebracht habe; sondern er fügte auch noch ungefragt mehrere, bei den Akten noch nicht erwähnte Umstände hinzu, nämlich daß er am Mittage dieses Tages bei Herrn Lacarriere gewesen sey, ihm das nachher gefundene Bittschreiben überreicht, von ihm acht Groschen Almosen unter Zurückgabe des Briefes erhalten, und dafür sich zu essen habe geben lassen; ferner, daß er, als ihm die Woostin begegnet, sich zwar anfänglich gefreut habe, daß aber diese Freude bald vorbei gewesen sey, als er gemerkt, daß sie seine Begleitung nicht gerne sehe, aus Furcht, sein Nebenbuhler möchte sie mit ihm [516] gehen sehen, weßhalb er auch mehr ihr zum Tort noch mitgegangen sey; endlich: daß ihm die Woostin, als sie miteinander ins Haus getreten, die Worte gesagt habe: Ich weiß gar nicht, was du willst! so geh doch nur nach Hause! Wenn nun mein Wirth raus kommt. Diese Worte hätten ihn geärgert, und da habe ihn der Gedanke an das Messer und an seinen Vorsatz plötzlich wieder mit aller Macht ergriffen, und ihn mit einem Male dergestalt überwältiget, daß er darauf zugestoßen habe, ohne zu wissen, was er thue. Als er nach der That über den Roßplatz gegangen, sey ihm der Gedanke in den Kopf gekommen, sich zu erstechen, und er habe es blos deßhalb unterlassen, weil zu viel Leute dagewesen seyen, würde sich aber, wenn er nicht arretirt worden wäre, sicherlich noch in derselben Nacht und mit dem nämlichen Instrumente das Leben genommen haben.
Von neuerdings während seiner Gefangenschaft gehörten Stimmen will er nichts wissen. Wohl aber beschäftigt er sich viel mit Ahnungen und Träumen. So behauptete er bei einer seiner Unterredungen mit mir, es habe ihm den Augenblick zuvor geahnet, daß ich nun kommen würde. Auf seine Träume, die er sehr gerne erzählt, und auf seine Weise deutet, baut er auch seine Hoffnungen. So erzählte er mir einst mit großer Freude, daß ihm geträumt habe, er läge in einer Grube, um welche mehrere Menschen beschäftigt wären, ihn heraus zu ziehen. Selbst wenn dergleichen Traumgestalten gar keine Beziehung auf ihn selbst haben, sucht er dennoch in ihnen sein Schicksal zu lesen und hält z. B. Träume von Feuer oder klarem Wasser für günstige Vorbedeutungen.
Nach der sorgfältigsten und gewissenhaftesten Erwägung der im Vorhergehenden dargestellten Umstände verfehlte ich nicht, in Gemäßheit des allerhöchsten Rescripts vom 9. November vorigen Jahres, und mit Berücksichtigung der gemachten Anträge des Vertheidigers, Nachstehendes gutachtlich zu eröffnen, wobei ich, wegen der Vielseitigkeit des Gegenstandes und zur Erleichterung der Uebersicht, es für zweckmäßig halte, das Ganze in zwei Abschnitte einzutheilen, von denen der erste die medicinisch-psychologische Entwicklung der Thatsachen, der zweite aber die aus ihnen für die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten zu ziehenden Folgerungen enthalten wird.
1) Die an dem Inquisiten theils von mir beobachteten, theils von ihm selbst erzählten und wegen ihres natürlichen und erfahrungsmäßigen Zusammenhangs für völlig glaubwürdig zu achtenden körperlichen Zufälle, [517] nämlich die krampfhafte Zusammenziehung und das Stillstehen des Herzens, die darauf mit Erleichterung folgende Empfindung, als ob das Herz aufgeblasen werde, das Stechen und Zittern an selbigem, das Herzklopfen, die Angst, der krampfhafte Schmerz in den Gliedern nach der Richtung der Blutgefäße, die Spannung und Auftretung derselben, der durch überraschende äussere Ereignisse, so wie bei Angst und Verlegenheit verstärkte Herz- und Pulsschlag, von denen der letztere sich nach einigen Minuten wieder beruhiget, der erstere aber fortwährend etwas verstärkt bleibt und zugleich etwas unordentlich und weiter verbreitet ist als gewöhnlich, das sowohl bei solchen Gelegenheiten als auch zuweilen ohne äussere Veranlassung eintretende allgemeine Zittern des ganzen Körpers, das Stechen, die Hitze und die Wüstigkeit im Kopfe, die Empfindung, als ob es vom Herzen ins Genicke und von da in den Kopf fahre und im Hinterkopfe sitzen bleibe, das Prasseln oder Schnurren im Genicke, das Brausen oder Zischen vor den Ohren und die, auf erfolgtes reichliches Nasenbluten, zuweilen bemerkte Erleichterung, beweisen: daß derselbe sich in derjenigen krankhaften Anlage befinde, die man ehedem Vollblütigkeit und Neigung zu Wallungen und Congestionen des Blutes genannt, in neuern Zeiten aber durch die Ausdrücke: venöse Constitution und erhöhten Venenturgor näher zu bezeichnen versucht hat, und die ihrem Wesen nach, in vermehrter Reizbarkeit und unregelmäßiger Thätigkeit des Gefäß- und besonders des Venensystems gegründet ist, periodisch ab- und zunimmt, durch unordentliche Lebensweise und besonders durch den Mißbrauch starker Getränke vermehrt, durch freiwillig entstehende Blutflüsse aber, z. B. Nasenbluten oder Hämorrhoiden, auf eine lange Zeit vermindert wird, mit der Zeit sehr leicht in Gicht und andere mit dieser verwandte oder aus ihr entspringende Krankheiten übergeht, sehr oft aber auch zu entzündlichen Zufällen und zu Erweiterungen und andern organischen Fehlern des Herzens und der großen Gefäßstämme Gelegenheit gibt. Zugleich erhellet, daß die letztgedachte Richtung dieser Anlage bei dem Inquisiten die vorherrschende sey, da der größte Theil der obengenannten Zufälle sich auf krankhafte Empfindungen am Herzen und in den Blutgefäßen bezieht, und da die schon bei der ersten Untersuchung wahrgenommene Unruhe des Herz- und Pulsschlages, sowie das damit zusammenhängende Zittern des ganzen Körpers bei unerwarteten Ereignissen, während seiner Gefangenschaft einige, obwohl nicht bedeutende Fortschritte gemacht haben. Uebrigens muß hier, um allen Mißverständnissen und unrichtigen Deutungen vorzubeugen, ausdrücklich erinnert werden, daß vor der Hand blos eine Anlage zu solchen Uebeln, keineswegs aber eine schon wirklich ausgebildete Krankheit des Herzens und der Gefäße, oder irgend eine andere Krankheit, wie sie auch immer Namen haben möge, vorhanden sey.
[518] 2) Der im vorhergehenden geschilderte Zustand des Gefäßsystems ist sehr oft, besonders während seiner periodischen Exacerbationen, mit Benommenheit des Kopfes, mit Aufdringen beunruhigender Gedanken, mit unwillkührlichem Festhalten derselben, mit Unfähigkeit etwas anders zu denken und überhaupt mit einer finstern, hypochondrischen Stimmung und mit einer erhöhten Reizbarkeit des Gemüthes verbunden, bei der die damit behafteten Personen durch geringfügige Ursachen leichter, als gewöhnlich zum Unwillen gereizt werden, und sich stärker aufgefordert fühlen, demselben durch Wort und That Luft zu machen. Daß auch Woyzecks Benommenheit und seine finstere menschenscheue und reizbare Gemüthsstimmung von der körperlichen Anlage abhängig gewesen sey, kann nicht bezweifelt werden, besonders, wenn man erwägt, daß seinen Erzählungen zu Folge beide gleichen Schritt gehalten haben. Er selbst sagt nämlich: es sey ihm bei den obgedachten Zufällen der Kopf oft sehr eingenommen gewesen; er habe einen Gedanken, den er einmal gefaßt, und besonders unangenehme Vorstellungen, nicht leicht wieder los werden können, es seyen ihm, wenn er lange über etwas nachgedacht, zuletzt ganz die Gedanken vergangen; er sey dabei manchmal sehr ärgerlich gewesen und nach und nach menschenscheu, mißtrauisch und bitter geworden; bei Zunahme dieser Verstimmung habe sich auch seine Beängstigung am Herzen und seine Benommenheit des Kopfes vermehrt; er sey dabei sehr leicht von Zorn, dessen Abstufungen u. Wirkungen er ganz so beschreibt, wie sie die Beobachtung an jedem zum Zorn gereitzten Menschen kennen lehrt, überwältigt worden u. es sey ihm dabei gewesen, als ob er eine Kraft habe, alles zu zerreißen, oder als ob er die Leute sollte mit den Köpfen aneinander stoßen. So wie übrigens die tägliche Erfahrung lehrt, daß Personen, welche sich in dieser Anlage befinden, im Stande sind, allen ihren bürgerlichen und moralischen Pflichten zu genügen, so sagt auch Woyzeck, daß ihn alles dieses nicht gehindert habe, seine Geschäfte ordentlich zu besorgen, und mehrere Aeußerungen von ihm, z. B. daß er absichtlich wenig gesprochen habe, um seinen Zustand nicht merken zu lassen, und daß durch Richtung der Gedanken auf einen andern Gegenstand die Benommenheit des Kopfes sich verliere, geben zu erkennen, daß bei ihm die Freiheit des Willens in diesem Zustande keineswegs aufgehoben gewesen sey.
3) Der Inquisit hegt allerhand irrige, phantastische und abergläubische Einbildungen von verborgenen und übersinnlichen Dingen, denen bei ihm theils Mangel an Kenntniß und Erziehung, theils Leichtgläubigkeit zum Grunde liegt, und die durch Neugier, durch einen natürlichen Hang, über dergleichen Dinge nachzugrübeln, und durch die, in seiner hypochondrischen Stimmung begründete Scheu, sich mitzutheilen, genährt und unterhalten worden ist. Dahin gehört zuerst die [519] ihm aufgeheftete Lüge von den geheimen Künsten der Freimaurer, die ihn sehr angelegentlich beschäftigt und zu allerhand phantastischen Combinationen und Versuchen verleitet hat. Daß er einen solchen misglückten Versuch, den er sich gegen einen seiner Obern erlaubt hatte, in seinen Verhältnissen und bei seiner, auch bei andern Gelegenheiten vielfach bewiesenen Furchtsamkeit, als ein großes Ungebührniß betrachtete, daß er deßhalb, wie er sich gegen mich ausdrückte, übel anzukommen fürchtete, daß er einige Tage nachher die sehr leicht denkbare Besorgniß desselben Officiers, daß einer der Soldaten, nach dem Exerciren bei großer Hitze Blutspeien bekommen könne, auf sich bezog, und die bei ihm selbst, durch dieselbe starke Bewegung und durch den nachherigen Gang ins Freie rege gewordenen Wallungen und Empfindungen am Herzen für Strafe seines Vorwitzes und für Wirkungen geheimer Künste hielt, daß er endlich, bei der ihm und andern ähnlich constituirten Personen eigenen Tenacität unangenehmer Vorstellungen der Gedanken nicht los werden konnte, daß eine geheime Gesellschaft, der er nichts Gutes zutraute und die er beleidigt zu haben glaubte, ihn verfolge: - dieses alles hängt mit den Einbildungen und der Furchtsamkeit dieses Menschen, mit seinen damaligen Verhältnissen und seiner körperlichen Anlage so natürlich zusammen, daß es sich daraus vollständig und ungezwungen erklären läßt. - - Eben dahin gehört ferner seine Vorstellung von der Wichtigkeit der Träume, von denen er glaubt, daß sie theils buchstäblich in Erfüllung gehen, theils eine allegorische Bedeutung haben, vermöge deren durch sie bald verborgene Dinge, z. B. die von ihm als sehr wichtig betrachteten Zeichen der Freimaurer, angezeigt, bald die Zukunft enthüllt werde. - Aus derselben Quelle entspringt endlich auch sein Glaube an die Möglichkeit materieller Wirkungen der Geisterwelt und selbst an Verkörperung der Geister oder Geistererscheinungen. Die von ihm dafür gehaltenen Ereignisse sind offenbar von doppelter Art, nämlich theils solche, wo er aus Furcht und phantastischer Einbildung irgend eine äußere, natürliche Erscheinung, ohne sie näher zu untersuchen, für eine Wirkung übersinnlicher Wesen gehalten hat, theils solche, bei denen durch seinen unruhigen Blutumlauf eine Sinnestäuschung veranlaßt, diese aber durch die bei ihm vorwaltenden abergläubischen Vorstellungen zu einer übernatürlichen Erscheinung gestempelt worden ist.
Zu der ersten Art gehören die Fußtritte, die er selbst und sein Kamerad in einem verschlossenen Hause, in welchem er sich mit diesem allein zu befinden glaubte, gehört zu haben vorgiebt, und die er, ohne die Veranlassung des Geräusches zu untersuchen, bloß aus dem Grunde einem umgehenden Geiste zuschrieb, weil ihm sechs Tage vorher von dergleichen geträumet hatte! - Von gleicher Beschaffenheit ist die Erscheinung, die er, als er nach einer durchschwärmten Nacht von Tanz [520] und geistigen Getränken erhitzt und von der Furcht, entdeckt zu werden, geängstigt, in der Nähe des Festungskirchhofes gesehen haben will und bei der es um so wahrscheinlicher ist, daß in seiner Phantasie die Erinnerung an die unter der Garnison verbreiteten Spuckgeschichte die Gestalt des verstorbenen Commandanten irgend einer dort befindlichen und die Wache grüßenden Person geliehen habe, da er selbst sagt, daß er kurz zuvor, um die Patrouille vorüber zu lassen, sich auf das Glacis niedergelegt habe, und mithin mehrere Personen in der Nähe gewesen sind. - Daß er bei solchen abergläubischen Vorstellungen entferntes Glockengeläute für unterirdisches und einen Schimmer des Mondes oder der Abenddämmerung, oder ein Meteor, oder ein Signal für Zeichen am Himmel gehalten und ihnen eine Beziehung auf das Freimaurerwesen, mit dem sich seine Einbildungskraft so angelegentlich beschäftigte, gegeben haben könne, bedarf keiner Erinnerung. - Uebrigens ist der Umstand, daß er sich darüber bei einer alten Frau hat belehren wollen, für die Art und Weise, wie er überhaupt seine Visionen berichtigt haben mag, sehr bezeichnend. -
Zu der zweiten Art gehören die von dem Inquisiten angeblich öfters gehörten Töne und articulirten Stimmen, und es kommt bei Beurtheilung derselben vor allen Dingen der Umstand in Betrachtung, daß derselbe schon früher zu verschiedenen Malen, bei seinen Anfällen von Beängstigungen und Herzklopfen, ein Schlagen der Adern und Hitze im Kopfe, eine Empfindung, als ob es ihm aus dem Herzen in den Kopf fahre, und zu gleicher Zeit ein Zischen, Prasseln, Schnurren und Brummen im Genicke, oder vor den Ohren bemerkt hat.
Daß diese und ähnliche Täuschungen des Gehörsinnes als Folgen von Congestionen des Blutes nach dem Kopfe häufig vorkommen, lehrt die tägliche Erfahrung, und daß sie auch bei Woyzeck diese Ursachen gehabt haben, läßt sich bei seiner Anlage und unter den vorhergehenden und gleichzeitigen Umständen nicht bezweifeln. Wie sehr bei dergleichen Zufällen zugleich seine Einbildungskraft beschäftigt, und wie sehr er geneigt gewesen ist, die natürlichen Veranlaßungen zu übersehen und sich irgend etwas Ungewöhnliches und Uebernatürliches dabei zu denken, beweist der bereits weiter oben erwähnte Vorfall, wo er das nach dem Exerciren und Laufen bei starker Hitze entstandene Herzklopfen vor den Ohren für Wirkung geheimer Künste hielt. - Ein höherer Grad dieser Täuschungen des Gehörsinnes besteht darin, daß die mit dergleichen Zufällen behafteten Personen die Ursache des im Ohre vernommenen Geräusches für eine äußere halten und dabei bald nähere, bald entferntere Töne, z. B. Pochen, Glockengeläute, Musik etc. zu hören glauben. Es läßt sich daher mit aller, bei Entwicklung pathologischer Thatsachen möglicher Gewißheit und nach Grundsätzen der rationellen Heilkunde annehmen, daß das Knistern und Rumoren, das [521] Woyzeck in der Nacht und hernach auch bei Tage auf dem Verschlage in seiner Kammer gehört haben will (wenn es nicht irgend eine von ihm ununtersucht gelassene äußere Ursache gehabt hat), nichts anderes, als eine solche Täuschung des Gehörsinnes gewesen ist, die mit dem gleichzeitigen Brausen vor den Ohren und mit dem Gefühl, als ob ihm von oben Hitze auf den Kopf gehe, zusammen gehangen hat, und durch seine schon früher gehegte Geisterfurcht zu der Vorstellung von einer objektiven Veranlaßung gesteigert worden ist. - Allein auch hiebei ist er nicht stehen geblieben, sondern es hat diese Sinnentäuschung bei ihm einen noch höhern Grad erreicht, indem er nicht blos Lärm und Getöse, sondern sogar artikulirte Worte und Wortverbindungen zu hören geglaubt hat. Bei Erklärung dieser Erscheinung muß der Umstand in Erwägung gezogen werden, daß Woyzeck gewohnt gewesen ist, mit sich selbst zu sprechen, der es sehr denkbar macht, wie er, bei dem erhitzten Zustande seines Blutes und seiner Einbildungskraft, seine ebengedachten, oder laut ausgesprochenen Worte mit dem Lärm in seinem Kopfe verwechseln und selbigen bei seinem immer lebendigen Glauben an übernatürliche Einwirkungen für eine an ihn gerichtete fremde Stimme halten konnte. Diese Erklärung erhält dadurch noch größere Wahrscheinlichkeit, daß der Sinn dieser angeblich von einer fremden Stimme gehörten Worte sich fast immer auf das bezieht, was seine jedesmalige Gemüthsstimmung, oder eine natürliche Ideenassociation, ihm bei einem Selbstgespräche in den Mund legen konnte. So ist es höchst natürlich, daß er, als er mit einer Arbeit fertig gewesen, daran gedacht hat, was er nun machen solle, und zugleich bei den bereits vorausgegangenen Täuschungen seines Gehörs höchst wahrscheinlich, daß er, bei diesen gedachten, oder laut ausgesprochenen Worten, das Subjective mit etwas Objektivem verwechselt habe. - Die Worte: aufs Deckbette, aufs Deckbette, scheinen auf die vorhergegangene Einbildung, daß er aufs Deckbette getappt habe, und die Worte: auf dem Teller, auf dem Teller, auf den Teller, den er gerade vor sich gehabt, eine Beziehung zu haben. - Wenn bei dem Vorfall in des Zeitungsträgers Haasen Behausung, wo er, als er des Abends nach 10 Uhr in seine Kammer gekommen, auf dem ihm bereits verdächtigen Verschlage die Worte gehört haben will: o komm doch, eine solche natürliche Ideenverbindung weniger ungezwungen nachgewiesen werden kann, so liegt die Ursache darin, daß er selbst sich seiner vorher gehabten Ideen nicht mehr erinnert, und es ist dafür desto augenscheinlicher, daß ihm dabei seine Geisterfurcht einen Streich gespielt hat, da er selbst gar nicht in Abrede stellt, daß er es für die Stimme eines Geistes gehalten, weil ihm sechs Tage vorher (also gerade so lange als er, nach einem ähnlichen Traum in Stettin, einen Geist gehört haben will), von einem Geiste geträumt habe. - Dagegen ist es desto mehr anzunehmen, daß, bei seinem schon einmal [522] bis zur Ausführung gekommenen Vorsatz zum Selbstmord, die auf dem Wege nach dem Bade angeblich gehörte Stimme: Spring ins Wasser, sein eigner Gedanke gewesen ist. – Von gleicher Beschaffenheit ist der Vorfall, wo er, als er im Bette an der Kirmse und an seine dort anwesende Geliebte voller Eifersucht dachte, Violinen und Bässe durcheinander zu hören glaubte, und, nach dem Rhythmus der gewöhnlichen Tanzmusik, ihr die Worte unterlegte: immer drauf, immer drauf. Am deutlichsten erscheint diese Verwechslung des Objectiven mit dem Subjectiven in den, bei Untersuchung des Degens, der nachher zum Mordinstrumente gedient hat, angeblich gehörten Worten: Stich die Frau Woostin todt, die nach allem vorhergegangenen nichts anderes gewesen seyn können, als der lebhaft erwachende Vorsatz zu der nachher vollführten That, dem er, bei seiner Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, Worte gegeben, und den die Stimme des Gewissens mit den Worten: du thust es nicht, beantwortet, der damit kämpfende Vorsatz aber mit den Worten: du thust es doch, bestätiget hat. Sehr klar wird diese Ansicht durch den von ihm angeführten Umstand, daß es ihm öfters gewesen sey, als ob zwei Stimmen, eine warnende und eine andere, die ihn zum Bösen verleiten wollen, miteinander sprächen, von denen er selbst die erstere für die Stimme des Gewissens gehalten hat. Endlich ist auch der Umstand, daß es ihm immer nur vor dem rechten Ohre gesaust und gebraust hat, und daß er mit demselben Ohre auch die fremden Stimmen gehört haben will, ein, meines Erachtens, ganz unumstößlicher Beweis für den unmittelbaren Zusammenhang seiner Blutwallungen mit dem Lärm vor seinen Ohren und dieses Lärms mit den eingebildeten Stimmen, und zugleich einer der stärksten Beweise für die von mir aufgestellte Ansicht. – Daß übrigens die Einbildung, fremde Stimmen zu hören, bei Personen, die an Wallungen des Blutes, oder an Unterleibskrankheiten leiden, eine nicht ungewöhnliche Erscheinung und keineswegs nothwendig und in allen Fällen mit einer Hemmung, oder mit einem Verlust des freien Verstandesgebrauches verbunden sey, werde ich weiter unten durch mehrere Fälle aus meiner eignen Beobachtung beweisen.
Wenn die Frage entsteht: ob der von dem Inquisiten angegebene Zustand von Angst, Unruhe und Benommenheit des Kopfes und seine damit als nächste Wirkungen in Verbindung stehenden Vorstellungen von Geisterlärm und Zuruf von fremden Stimmen die Zurechnungsfähigkeit desselben in so fern zu vermindern, oder aufzuheben vermögen, als sie bei ihm entweder überhaupt ein Hinderniß für den freien [523] Gebrauch des Verstandes gewesen sind, oder als ein direkter Antrieb zu der That selbst betrachtet werden können, und ob sich von dem einen oder von dem andern, vor, bei und nach der That Spuren nachweisen lassen, so ist hierüber folgendes zu bemerken:
1) Was das daraus möglicher Weise hervorgehende Hinderniß für den freien Verstandesgebrauch überhaupt anlangt, daß zwar: a) ein unregelmäßiger Blutumlauf und Congestionen des Blutes nach dem Kopfe, oder diejenige krankhafte Anlage, die sich bei dem Inquisiten durch die mehrmals erwähnten Beängstigungen, Herzklopfen, Benommenheit des Kopfes, Ohrenbrausen etc. offenbart hat, so wie sie als entfernte und vorbereitende Ursache zu vielen andern Krankheiten, z. B. zu Blutflüssen, Hypochondrie, Fehlern des Herzens, Gicht, Steinbeschwerden etc. betrachtet werden muß, eben so auch öfters als Anlage zu Gemüthskrankheiten beobachtet wird, b) Woyzeck in Folge dieses Zustandes sich in einer finstern, hypochondrischen Stimmung befunden, sich von andern zurückgezogen, bei anhaltender Richtung der Gedanken auf einen Gegenstand zuletzt gar nichts mehr gedacht und sich mit allerhand leeren Einbildungen gequält hat, c) Wahnsinnige ebenfalls zuweilen ohne objektive Veranlassung Töne und Stimmen zu vernehmen und sich mit Personen zu unterhalten glauben, die nicht vorhanden sind; daß aber dagegen
ad a) die Anlage zu einer Krankheit etwas ganz anderes ist, als die Krankheit selbst, und der vorgedachte krankhafte Zustand des Gefäß- und insbesondere des Venensystems, ob er gleich die vorbereitende Ursache zu einer Gemüthskrankheit werden kann, dessen ungeachtet noch keine Gemüthskrankheit ist, so lange sich diese nicht durch die ihr eigenthümlichen Kennzeichen offenbart, weil man sonst mit gleichem Rechte auch alle diejenigen für gemüthskrank halten müßte, bei denen sich aus derselben Anlage und bei denselben Erscheinungen von Beängstigung, Herzklopfen, Benommenheit des Kopfes etc. später eine andere Krankheit, z. B. goldene Ader, Gicht, Steinschmerz etc. entwickelt;
ad b) eine finstere und zugleich reizbare Gemüthsstimmung, Menschenscheu, Liebe zur Einsamkeit, Benommenheit des Kopfes, Verminderung der gewohnten Kraft einen Gegenstand des Nachdenkens lange zu verfolgen, Zerstreuung und momentane Unfähigkeit zum Nachdenken überhaupt, oder auch Beschäftigung mit unwillkührlich sich aufdringenden Bildern, einer trüben Einbildungskraft, deren man sich oft mit aller Kraft des Willens nicht erwehren kann, bloß Symptome der Hypochondrie sind, welche, wie unzählige Erfahrungen bei den achtbarsten, geistreichsten und thätigsten Männern lehren, den freien Gebrauch des Verstandes nicht im mindesten beschränken, oder gar aufheben. Sollte gegen diese Ansicht der Einwurf erhoben werden, daß [524] eine solche reizbare Gemüthsstimmung wenigstens in sofern die Schuld eines in diesem Zustand begangenen Verbrechens vermindere, als es einem Menschen, der sich in demselben befindet, schwerer werden muß, gegebenen Anreizungen zu widerstehen, so müßte ich allerdings es richterlichem Ermessen anheimstellen, zu entscheiden, ob Temperamentsfehler, wie dieser, nicht blos die moralische, sondern die legale Schuld eines Vergehens vermindern, weil über die Schuld überhaupt, so wie über das Mehr oder Weniger derselben, und insbesondere der moralischen, dem gerichtlichen Arzt kein Urtheil zustehet, am wenigsten, wenn er nicht ausdrücklich darum gefragt wird, zugleich aber vom gerichtlich-medizinischen Standpunkt aus erinnern, daß hier nicht von der Leichtigkeit oder Schwierigkeit, sondern von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit leidenschaftlichen Antrieben zu widerstehen, die Rede sey. Erst da, wo diese Möglichkeit aufhört, ist die Grenze der Zurechnungsfähigkeit, welche die gerichtliche Medicin festhalten muß, wenn sie sich nicht in endlose Verwirrungen verlieren und zum Deckmantel aller und jeder Verbrechen herabgewürdigt werden soll. Um aber annehmen zu können, daß ein Mensch, bei Begehung eines Verbrechens, jenseits dieser Grenze gestanden habe, muß erwiesen werden, entweder, daß sich vor, bei oder nach der That in dem Erkenntniß- und Urteilsvermögen, in den Reden und Handlungen desselben, Abweichungen vom gesunden Seelenzustande überhaupt offenbart haben, oder daß derselbe, ohne durch die gewöhnlichen, leidenschaftlichen Motive angereizt worden zu seyn, nach einem ungewöhnlichen, blinden und instinktartigen Antriebe gehandelt habe. Daß weder das Eine noch das Andere bei Woyzeck der Fall gewesen sey, wird sich aus dem Folgenden näher ergeben und ich bemerke daher hier blos vorläufig, um der Vermuthung zu begegnen, als ob diese körperliche Anlage und reizbare Gemüthsstimmung dennoch vielleicht gerade in diesem individuellen Falle die Möglichkeit, mit Willensfreiheit zu handeln, aufgehoben haben könne, daß es dem Inquisiten mit derselben Willensfreiheit, mit der er wenige Augenblicke nach der That den Selbstmord unterließ, weil zu viele Leute in der Nähe waren, auch möglich gewesen seyn würde, die That selbst zu unterlassen.
ad c) Sinnestäuschungen und Verwechslung subjektiver Empfindungen mit objektiven Vorstellungen selbst bei gesundem und noch viel öfter bei krankhaftem Zustande der Sinnesorgane und der mit denselben in Beziehung stehenden Organe und Systeme, besonders des Verdauungs-, des blutführenden und des Nervensystems sehr häufig vorkommen, und zu falschen Urtheilen und Schlüssen, zu Irrthümern und Vorurtheilen Gelegenheit geben, ohne im Uebrigen dem freien Vernunftgebrauch Eintrag zu thun. Es ist kaum nöthig zu erinnern, daß zwischen Irrthum und Vorurtheil und zwischen krankhafter Störung des freien Vernunftgebrauches ein sehr großer Unterschied sey. Allerdings [525] sind im Wahnsinn und in der Verrücktheit auch Einbildungen und Vorurtheile herrschend, aber umgekehrt ist nicht jeder Eingebildete oder von Irrthum und Vorurtheil Verblendete verrückt! Beide, das Vorurtheil und die Verrücktheit, unterscheiden sich dadurch, daß jenes blos aus einer Beschränktheit der Mittel, seine Vorstellungen zu berichtigen und sich Kenntniß und Erfahrung zu verschaffen, oder aus Trägheit im Gebrauche derselben herrührt, ohne in allen übrigen Dingen die Thätigkeit der Seele überhaupt und die Möglichkeit, sich durch Unterricht und Nachdenken zu besserer Ueberzeugung zu verhelfen, aufzuheben; der Wahnsinn aber, oder die Verrücktheit, ihrem Wesen nach, keineswegs darin bestehen, daß man etwas, was nicht wirklich ist, fälschlich als wirklich voraussetzt, und aus diesen Voraussetzungen Schlüsse zieht, sondern daß die irrige Vorstellung sich des Verstandes ausschließend bemeistert, in alle Operationen desselben eingreift, den freien Gesichtspunkt für alle übrigen Verhältnisse verrückt und die richtige Beurtheilung derselben trübt. Daß dieses bei dem Inquisiten nie Statt gefunden habe, geht unbezweifelt daraus hervor, daß er seinen eignen Aussagen, und dem Zeugnisse Andrer zu Folge durch seine Einbildungen und Sinnestäuschungen niemals gehindert worden ist, seine Geschäfte fortzusetzen und sich in allen Verhältnissen des Lebens, als ein gesetzter, verständiger und besonnener Mensch zu zeigen; – daß er sie als eine, seine äußere Existenz nichts angehende Reihe von Vorstellungen, als eine geheime Angelegenheit seines Innern, betrachtet, und sie deßhalb bei seiner ersten Unterredung, wo ausdrücklich von diesem Zustande die Rede gewesen ist, absichtlich theils weil er sich ihrer geschämt hat, theils aus Verdruß und Mangel an Zutrauen, verschwiegen und eben so absichtlich schon früher, um seinen innern Zustand nicht zu verrathen, wenig gesprochen hat; daß er dagegen jetzt, da es ihm nicht hat entgehen können, daß die Entdeckung dieser Dinge einen Aufschub seines Urtheils bewirkt habe, und in welcher Beziehung er so genau über selbige befragt werde, unerschöpflich in seinen Aeußerungen und Erzählungen darüber ist, und daß er endlich, wie bereits oben angeführt worden, in dem Zustande von Benommenheit des Kopfes und angeblicher Gedankenlosigkeit noch immer Kraft genug übrig behält, um seine Gedanken auf etwas Anderes zu richten. – So wie ich nun glaube, mit psychologischen Gründen dargethan zu haben, daß Woyzecks Einbildungen blos als Sinnestäuschungen, Irrthümer und Vorurtheile, keineswegs aber Symptome eines kranken, den freien Vernunftgebrauch störenden Seelenzustandes betrachtet werden müssen, so läßt sich dieses auch mit Beispielen aus der ärztlichen, ja sogar aus der gemeinen und täglichen Beobachtung belegen. Die Meinung, daß die Sonne um die Erde laufe, beruht auf einer Sinnestäuschung, die Jahrtausende lang die besten Köpfe zu falschen Urtheilen und Schlüssen [526] verleitet hat und von Millionen vernünftiger Menschen noch jetzt keinen Augenblick bezweifelt wird. – So erzählt, um von unzähligen, der Sache näher liegenden Beispielen nur einige zu erwähnen, Sauvages Nosologia methodica, T. IV. p. 241. 271. das Beispiel eines Bauers, der bei einer Krankheit der innern Theile des Auges fortwährend eine Fliege vor seinen Augen zu sehen glaubte, ohne sich überzeugen zu können, daß es nur Täuschung sey, und es wird dabei sehr richtig bemerkt, daß dergleichen Täuschungen um so leichter für etwas wirkliches gehalten werden, je geringer die Geistesbildung solcher Personen ist.
Derselbe Schriftsteller erzählt von einem Flötenspieler, der neben dem von ihm geblasenen Ton, jedesmal noch einen ganz verschiedenen zu hören glaubte, weil er an Blutandrang nach dem einen Ohre litt und mithin auf beiden Ohren verschieden hörte. So kommen schon im gemeinen Leben häufig Beispiele vor, daß Personen, die an Blutandrang oder an Blähungen und andern Unterleibsbeschwerden leiden, allerhand Töne, Musik, Glockengeläute, entfernte Stimmen, das Rufen ihres Namens u. dergl. zu vernehmen glauben. Ich kann auf Eid und Pflicht versichern, daß ich vor mehreren Jahren von einem auswärtigen, geistreichen Schriftsteller persönlich um Rath gefragt worden bin, der unaufhörlich des Nachts und am Tage von verborgenen, bald nähern, bald entferntern Stimmen verfolgt wurde, die ihn bald bei Namen riefen, bald schlüpften, bald sich lustig über ihn machten, und der in diesem Zustande, ob er sich gleich von der Nichtexistenz einer objektiven Ursache derselben zuweilen schwer, oder gar nicht überzeugen konnte, dennoch unausgesetzt, in seinem Amte und als Schriftsteller, von seinem Verstande einen sehr ausgezeichneten Gebrauch machte und durch den Gebrauch des Karlsbades von seinem Uebel befreit wurde. – Ein zweites Beispiel solcher Beunruhigung durch entfernte Stimmen ohne die mindeste Störung aller übrigen Geistesfunktionen habe ich erst im verflossenen Sommer am hiesigen Orte beobachtet[5].
Hierzu kommt noch, daß
d) Sinnestäuschungen und namentlich die Einbildung, ohne objektive Veranlassung Töne und Stimmen zu vernehmen, wenn sie sich zu irgend einer Seelenkrankheit, sie sey nun Wahnsinn oder Narrheit, Tollheit, Melancholie u. s. w. gesellten, niemals isolirt erscheinen, sondern jedesmal mit andern allgemeinen Symptomen einer Seelenstörung verbunden sind, die nach Maaßgabe der speziellen Form der Krankheit, verschiedene Farben und Schattirungen annehmen. Zu diesen allgemeinen Symptomen gehören: ein ungewöhnliches, auffallendes und [527] phantastisches Betragen gegen Andere, unzusammenhängende, verworrene, die Empfindung, oder die Leidenschaft, von der das Innere erfüllt ist, verrathende Aeußerungen, zweckwidrige, widersinnige Fragen und Handlungen, ein wildes ungestümes, zänkisches oder stumpfsinniges und starres Wesen, Vernachlässigung der natürlichen Bedürfnisse und der gewohnten Beschäftigungen. Von allen diesen Symptomen ist keines bei dem Inquisiten beobachtet worden, sondern alle Zeugen stimmen darin überein, daß er vor, während und nach den Perioden, wo ihm dergleichen Sinnestäuschungen widerfahren sind, ein verständiges, sittsames, besonnenes, ruhiges und friedliches Betragen beobachtet und seine Geschäfte ordentlich besorgt habe. Aus eben diesem Grunde können daher auch die Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Verschlossenheit, die man zuweilen an ihm bemerkt hat, nicht als Symptome einer Seelenstörung angesehen werden, weil man dann mit gleichem Rechte alle diejenigen für geisteskrank erklären müßte, die sich wegen körperlicher Beschwerden, Nahrungslosigkeit oder Gewissensunruhe in einer ähnlichen Stimmung befinden, und die auch bei Woyzeck, allen Umständen und seinem eignen Geständniß nach, aus diesen Ursachen, besonders aus den beiden letztgedachten, herzuleiten ist, wie solches besonders aus seinem Geständniß über die Wienbergin erhellet.
2) Was die Möglichkeit betrifft, daß in der, im Vorhergehenden geschilderten, körperlichen und geistigen Verfassung des Inquisiten, gesetzt auch, daß sie als eine wirklich ausgebildete Seelenstörung nicht zu betrachten sey, dennoch ein außerordentlicher, blinder und unwillkürlicher Antrieb zu der von ihm begangenen Mordthat verborgen gelegen haben könne, und mithin dieser Zustand als stille Wuth (amentia occulta) betrachtet werden müsse, so läßt sich für diese Vermuthung anführen:
a) daß der Inquisit, seinen Erzählungen zufolge, bei seinen Blutwallungen und Beängstigungen und bei seinem Unmuth über widrige Schicksale, öfters Groll und Widerwillen gegen die Menschen überhaupt gehegt und eine ungewöhnliche Kraft, als solle er alles zerreißen, gefühlt hat, wobei ihm zuweilen gewesen, als solle er die Leute auf der Gasse, auch wenn sie ihm nichts zu Leide gethan, mit den Köpfen aneinander stoßen;
b) daß ihm, bei Besichtigung des nachherigen Mordinstruments, eine unsichtbare Stimme zugerufen haben soll: Stich die Frau Woostin todt;
c) daß er in der ersten Zeit nach seiner Verhaftung keine Reue gezeigt hat, welches man oft bei denen bemerkt haben will, die nach einem gebundenen Vorsatz handeln;
d) daß er sich der Begebenheiten des Tages, an dem er die Mordthat begangen hat, nicht mehr deutlich erinnert.
Ehe ich auf Beantwortung dieser Gründe eingehe, fühle ich mich gedrungen im Allgemeinen zu bemerken, daß die ganze Lehre von [528] amentia occulta (E. Platner Quaestion. medic. forens. I. II. Lips. 1797) von ausserordentlichem Antriebe zu einer Handlung oder durch gebundenen Vorsatz (Hofbauers psycholog. Rechtspflege S. 315 und 327) von Hemmung der moralischen, freien Kraft durch Ausartung thierischer Triebe (Grohmann in Nasses Zeitschrift für psychische Aerzte I. 501), trotz aller neuern Verhandlungen über diesen Gegenstand, noch keineswegs im Reinen ist, sondern im hohen Grade einer strengen Revision bedarf, und daß, wenn auf der einen Seite der Eifer einzelner Schriftsteller und medicinischer Collegien Entschuldigungsgründe für Handlungen aufzufinden, die im Sturme eines von ungewöhnlichen Veranlassungen bewegten Gemüths, oder im Drange eines instinktartigen, von den Banden der Natur umstrickten Willens begangen worden, höchst achtungswerth ist, dennoch auf der andern Seite auch die Verwirrung und der Nachtheil berücksichtiget werden muß, der aus der unvorsichtigen Anwendung dieser Lehre entstehen würde, wenn man fortfahren sollte, wie man bereits angefangen hat, einen Mordtrieb, eine Feuerlust, eine Rauflust, einen Stehltrieb und am Ende für jedes Verbrechen einen besondern Trieb oder einen instinktartigen Zwang, eine Notwendigkeit des Handelns, anzunehmen, hierdurch aber die Wirkung der Gesetze zu lähmen und die gerichtliche Medicin um ihr wohlverdientes Ansehen zu bringen. Ob ich daher gleich mich in eine weitere Erörterung über diesen schwierigen Gegenstand hier nicht einlassen darf, so halte ich es doch für nothwendig und zweckmäßig, der Grundsätze, die mich bei Beurtheilung des gegenwärtigen (und ähnlicher) Fälle geleitet haben, kürzlich anzugeben. Es darf nämlich, nach meiner Ueberzeugung, ein blinder Antrieb zu verbrecherischen Handlungen nur in den Fällen angenommen und zu deren Entschuldigung benutzt werden, wenn
1) entweder das Alter des Individuums einen vollständigen Gebrauch des Verstandes noch nicht zuläßt;
2) oder Entwicklungsperioden, z. B. die der Mannbarkeit und andere körperliche Ereignisse im Spiele sind, die ihrer Natur und der Erfahrung nach öfters mit unklaren Vorstellungen, Verworrenheit des Bewußtseyns und instinktartigen Handlungen verbunden zu seyn pflegen, z. B. unmittelbar vorhergegangene Niederkunft;
3) oder bei erweislicher Uebermacht ungewöhnlicher und individueller, körperlicher oder geistiger Anreizungen die gewöhnlichen egoistischen Motive zu einer Handlung fehlen, z. B. wenn ein Hypochondrist oder ein Schwärmer einen Mord begeht, um hingerichtet zu werden und desto seliger zu sterben.
Dieses vorausgesetzt erinnere ich:
ad a) daß Unmuth, Unzufriedenheit mit sich selbst, Argwohn, Mißtrauen und Bitterkeit gegen andere, Reizbarkeit zum Ausbruche eines ungerechten Zorns auf leichte Veranlaßungen u. s. w. bei Personen, die [529] an Blutbeschwerungen, Hypochondrie, Hämorrhoiden und dergl. leiden, ärztlicher Erfahrung zufolge, viel zu häufige Erscheinungen sind, um in ihnen eine unvermeidliche Nothwendigkeit und einen blinden instinktartigen Trieb zu verbrecherischen Handlungen zu finden, da Tausende von Menschen, bei gleicher Mißstimmung sich in den gesetzlichen und moralischen Schranken zu halten wissen. - Auf diese Mißstimmung bezieht sich auch Woyzecks Aeußerung: es sey ihm gewesen, als müsse er die Leute auf der Gasse mit den Köpfen an einander stoßen. Nichts ist nämlich gewöhnlicher, als Leute, die bei geringer Erziehung sich nicht gewöhnt haben, ihre Leidenschaften zu mäßigen, die Ausdrücke gebrauchen zu hören: es sey ihnen, als müßten sie mit den Füßen darein springen, als sollten sie alles zerreißen, oder den ersten besten ausprügeln, der ihnen begegnen würde. Wollte man vielleicht in Woyzecks Aeußerung etwas ähnliches von den Selbstgeständnissen mancher Hypochondristen finden, von deren einem Hofbauer a. a. O. S. 350 erzählt, es sey ihm gewesen, als ob er demjenigen, der mit ihm geredet, ins Gesicht speien müsse, ob er gleich alle Liebe zu ihm empfunden, so würde sich dagegen erinnern lassen, daß zwischen dem unwillkürlichen Aufsteigen eines abgeschmackten oder beunruhigenden Gedankens, der sich oft dem Gedächtniß auf eine höchst lästige Art immer von Neuem aufdrängt, und dem blinden instinktartigen Antriebe, der alle übrigen Regungen überwältigt, und die Möglichkeit ihn zu beherrschen aufhebt, ein sehr großer Unterschied sey, den Hofbauer nicht gehörig bemerklich gemacht hat. - Die Empfindung gesteigerter Körperkraft, verbunden mit dem Triebe, sie durch kräftige Bewegungen zu äußern, ist ebenfalls eine Erscheinung, die man bei Personen im jugendlichen und männlichen Alter häufig findet, besonders, wenn sie zugleich vollblütig und zu Congestionen geneigt sind, ohne daß man berechtigt ist, in solchen Fällen einen instinktartigen Trieb zu verbrecherischen Handlungen voraus zu setzen. Der Instinkt, welcher hier in Betracht kommt, besteht blos in dem Gefühl eines dringenden Bedürfnisses, zu Erleichterung des erschwerten Blutumlaufs oder zu Fortschaffung der angehäuften Blähungen eine starke Körperbewegung vorzunehmen, und in der Voraussehung der davon zu erwartenden Erleichterung, wie sich denn auch Woyzeck, seiner Versicherung nach, durch dergleichen Bewegungen öfters erleichtert gefühlt hat.
ad b) Was überhaupt von den fremden Tönen und Stimmen und insonderheit von dem Zurufe: Stich die Frau Woostin todt, zu halten, und daß der letztere sammt Antwort und Gegenantwort nichts anderes sey, als ein Selbstgespräch Woyzecks beim Erwachen des ersten Gedankens zur Mordthat, dieses alles ist bereits oben, wie ich hoffe, mit überzeugenden Gründen, dargethan worden, so daß hierüber nichts hinzugefügt werden kann. Allein es kommt hier noch insonderheit darauf an, zu [530] untersuchen, ob nicht die Einbildung, durch irgend ein unsichtbares Wesen zu der blutigen That aufgefordert worden zu seyn, sich Woyzecks in dem Grade ausschließlich bemeistert habe, daß dadurch die Freiheit seines Willens völlig gebunden und ein blinder, unwiderstehlicher Antrieb, sie zu vollziehen, in ihm rege geworden; somit aber diese Einbildung als ein ungewöhnliches und individuelles, und zwar als das einzige oder doch wichtigste Motiv zu derselben zu betrachten sey? Es enthalten jedoch Woyzecks sämmtliche, sowohl frühere als spätere Aussagen, sowie alle aus den Akten bekannte Umstände unmittelbar vor, bei und nach der That durchaus keine Spur, daß er diesem Zuruf, den er nur einmal und hernach nie wieder gehört hat, eine besondere Wichtigkeit beigelegt, sich mit demselben ausschließlich beschäftiget, ihn für einen höheren, seine That rechtfertigenden Befehl, oder für einen Urtheilsspruch des Schicksals, und sich selbst für den Vollstrecker desselben gehalten, und in demselben eine stets wiederkehrende Mahnung die That zu begehen, oder nach derselben eine Beruhigung oder Entschuldigung gefunden habe, sondern blos, daß er seit jenen Augenblicken von dem Gedanken die Woostin zu erstechen immer verfolgt worden, daß dieses aber auch immer blos vorübergehend und gleich wieder vorbei gewesen sey, daß er, um den Gedanken los zu werden, den Degen habe in den Teich werfen wollen, wobei überall von jener Stimme und von der Einbildung, daß diese ihn zur That antreibe, eben so wenig die Rede ist, als sich außerdem in Woyzecks weitläufigen Erzählungen eine Spur findet, daß er überhaupt jemals durch dergleichen Stimmen zu etwas positivem veranlaßt worden sey.
ad c) Mangel an Reue für sich allein beweist eben so wenig für als gegen die Zurechnungsfähigkeit einer Handlung, weil er aus sehr verschiedenen Ursachen entstehen kann, die sich blos aus den übrigen Umständen erkennen lassen. Es kann ihm nämlich eben sowohl ein gegen Recht und Unrecht und gegen die Folgen des letzteren gleichgültiger Wille, Abstumpfung oder absichtliche Unterdrückung der natürlichen Gefühle, Verschlossenheit, falsche Schaam und dergl. als die Meinungen zum Grunde liegen, pflichtmäßig oder auf höhere Eingebung und nach einer unabänderlichen Nothwendigkeit gehandelt zu haben. Blos im letztern Falle kann Mangel an Reue als ein Nebenbeweis für das Daseyn eines gebundenen Vorsatzes, oder eines individuellen Antriebes angesehen werden, um die übrigen direkten Beweise zu verstärken. Da sich nun aber, dem Vorhergehenden zufolge, dergleichen Beweise für Woyzeck nicht auffinden lassen, so kann auch der Mangel an Reue für sich allein nicht dafür gelten, sondern es kann mit um so größerer Wahrscheinlichkeit der erstere der oben gedachten Fälle angenommen werden, da sich wirklich im Laufe der ersten Untersuchung Gleichgültigkeit, Abstumpfung, Verschlossenheit und falsche Schaam bei ihm deutlich genug gezeigt [531] haben, und sogar gegenwärtig von ihm eingestanden worden sind. Gesetzt also auch, daß man, bei seiner nun erfolgten Sinnesänderung, auf jenen anfänglichen Mangel an Reue, der mit seiner anfänglichen Todesverachtung gleichen Ursprung gehabt und gleichen Schritt gehalten hat, bei Beurtheilung der Handlung Rücksicht nehmen wollte, so würde dieses dennoch eher dazu dienen, die Strafbarkeit der Handlung zu vermehren, als sie zu vermindern, da ein Verbrecher für um so gefährlicher gehalten werden muß, je mehr er gegen Folgen des Unrechts gleichgültig geworden ist, und je weniger er durch Strafen von Begehung ähnlichen Unrechts abgeschreckt, d. h. in gesetzlichen und moralischen Schranken gehalten werden kann. (Vergl. Hofbauer a.a.Orte S. 342. 349).
ad d) ist zu bemerken, daß sich Woyzeck in dem Verhör am 4. Juni 1821 aller Vorfälle des Tags, an dem die That geschehen, so weit er darüber befragt worden ist, sehr umständlich erinnert und sogar Personen namhaft gemacht hat, die er bei seinem Herumlaufen gelegenheitlich habe sprechen wollen, wobei es um so weniger wahrscheinlich ist, daß er so specielle Umstände blos aus Angst, um nur etwas zu antworten, solle ersonnen haben, da er übrigens während der ganzen Untersuchung nicht ein einzigesmal gelogen und nie hartnäckig geläugnet hat. Uebrigens sind es auch nur Nebenumstände, deren er sich in den spätern Verhören nicht mehr erinnert, wogegen ihm die Hauptumstände, z. B. daß er die Woostin am Morgen dieses Tags aufgesucht und dabei einen falschen Vorwand gebraucht, daß er den Dolch in der Absicht zu morden abgeholt, daß er und wo er der Woostin begegnet, welchen Weg er mit ihr genommen und wo und auf welche Weise er die Mordthat vollführt habe u. s. w. noch völlig gegenwärtig sind. Nun ist es aber eine allgemein bekannte psychologische Erfahrung, daß Vorfälle, die das Gemüth heftig erschüttern, sich auch des Gedächtnisses auf eine so ausschließende Art bemächtigen, daß sie in der Erinnerung ganz isolirt dastehen und das Andenken an die vorhergegangenen Nebenumstände je länger, je mehr schwächen und verdunkeln. Hierin findet daher auch Woyzecks Vergessen mehrerer Nebenumstände des verhängnißvollen Tages eine genügende Erklärung, auf jedem Fall aber kann dasselbe bei seinem übrigens sehr treuen Gedächtniß nicht als Symptom einer Seelenstörung überhaupt, und, bei dem gänzlichen Mangel aller andern Beweise, nicht als ein Beleg für das Daseyn eines blinden, instinktartigen Antriebes zu Morden angesehen werden.
Endlich kommt auch noch der Umstand hinzu, daß Woyzeck sich bei mehrerer Ruhe, als er beim Verhör gehabt haben kann, mehrerer sehr specieller Umstände von jenem Tage erinnerte, die er damals nicht namhaft gemacht hat, z. B. daß er bei Herrn Lacarriere gewesen, von ihm Almosen empfangen, was er auf dem Wege mit der Woostin gedacht und was sie zuletzt zu ihm gesagt habe.
[532] Da mit der Untersuchung, ob der Inquisit bei seiner That aus einem gebundenen Vorsatze oder aus einem individuellen Antriebe gehandelt habe (siehe oben), die nähere Betrachtung seines Gemüthszustandes unmittelbar vor, bei und nach der That aufs genaueste zusammenhängt, so habe ich es für zweckmäßig erachtet, selbige bis hieher zu versparen, um mit möglichster Evidenz alle dahin gehörende Umstände zusammen zu fassen, und die obigen Erörterungen dabei voraussetzen zu können. Es erhellt nämlich aus Woyzecks Erzählungen und den Zeugenaussagen:
d) daß in ihm, nachdem er schon früher zuweilen von der Woostin zum Besten gehalten worden, ungefähr ein halbes Jahr vor der Mordthat eine lebhafte Eifersucht über ihren Umgang mit Andern erwacht ist, daß ihn diese im hohen Grade beunruhigt und verschiedene Male zu Mißhandlungen gegen sie verleitet hat, daß ferner dieses Gefühl durch der Woostin unbeständiges und sich widersprechendes Betragen gegen ihn, da sie ihm bald den vertraulichsten Umgang verstattet, bald mit ihm zu gehen sich geweigert und dafür in Gesellschaft eines Nebenbuhlers öffentliche Oerter besucht hat, immer unausstehlicher geworden ist, ihn zu mancherlei Versuchen, Zusammenkünfte mit ihr zu halten, und ihre Schritte und Tritte zu belauern, veranlaßt, und endlich den Gedanken sie zu ermorden, in flüchtigen Augenblicken und unter Widerstrebungen seines Gewissens, vor seine Seele geführt habe; daß endlich am Tage der Mordthat selbst die Vorstellung, daß ihn die Woostin durch eine falsche Bestellung zum Besten habe, ihn wegen seiner Armuth und immer tiefern Versinkens ins Elend verachte und einen andern vorziehe, sich seines ganzen Wesens bemeistert, ihn nach unruhigem und zwecklosen Umherlaufen zu Abholung des Mordinstrumentes und zu Bestellung eines Griffes an selbiges bewogen, und ihn, so ausgerüstet zur That, der Woostin auf ihrer Rückkehr von der geargwohnten und durch ihr Benehmen bestätigten Zusammenkunft mit dem Nebenbuhler in den Weg geführt habe. Uebrigens ist zu bemerken, daß die Periode, wo Woyzeck am meisten von Blutwallungen und fremden Stimmen beunruhigt worden zu seyn vorgibt, nämlich die Zeit seines Aufenthaltes bei dem Zeitungsträger Haase, damals längst vorüber war, daß sich seine Beunruhigungen in den acht Tagen vor der That, wo er herbergslos herumgelaufen ist, keine sitzende Beschäftigung gehabt und weniger Brantwein getrunken hat, eher vermindert, als vermehrt haben, und daß er an dem Tage der Mordthat selbst weder Herzklopfen und ähnliche Zufalle gehabt, noch Stimmen gehört hat. Es läßt sich daher in dem Gemüthszustande des Inquisiten vor der That weder überhaupt eine Spur von Geistesstörung (siehe oben), noch insbesondere die Wirkung eines instinktartigen, individuellen, in den eigenthümlichen körperlichen Leiden oder phantastischen Einbildungen des Inquisiten begründeten Antriebes, oder eines durch diese Eigentümlichkeiten gebundenen Vorsatzes [533] nachweisen, sondern es läßt sich vielmehr dieser Zustand aus den ganz gewöhnlichen Wirkungen einer, durch das Gefühl verachteten und verspotteten Elends geschärften, Eifersucht nach einfachen und allgemeinen psychologischen Grundsätzen vollständig erklären und verstehen.
e) Von den Umständen bei der That: daß nämlich Woyzeck bei Erblickung der Woostin, sowie nachher bei dem kurzen Spaziergang mit ihr auf der Allee und bei der Rückkehr nach ihrer Wohnung, den Vorsatz sie zu ermorden und das bei sich habende Mordinstrument vergessen und nicht eher wieder daran gedacht hat, als in dem Augenblick, wo sie ihm beim Eintreten ins Haus etwas sagte, wodurch er in Zorn gerieth, daß dabei der Vorsatz zur Rache in seiner ganzen Stärke wieder erwachte, ihn körperlich und geistig überwältigte, und, von der Gelegenheit begünstigt, in demselben Augenblick zur That wurde; kann nur der einzige Umstand bei oberflächlicher Betrachtung als etwas Ungewöhnliches und Befremdendes erscheinen, daß der Inquisit auf dem ganzen Wege seines Vorsatzes und seines Instruments nicht gedacht haben will. Inzwischen läßt sich in der Verdrängung dieses Gedankens durch andere Vorstellungen weder ein Beweis für Seelenstörung überhaupt und noch viel weniger für das Daseyn eines blinden, instinktartigen Antriebes oder eines gebundenen Vorsatzes finden. Es ist vielmehr gerade dieser Umstand ein Beweis, daß ein solcher Antrieb bei Woyzeck nicht Statt gefunden habe, weil er sich dann nicht so leicht durch andere Vorstellungen würde haben verdrängen lassen, da er selbst seiner Natur nach die herrschende, alles andere verdrängende Vorstellung ist. Dagegen ist es nach allgemein bekannten psychologischen Erfahrungen sehr begreiflich, wie ein Mensch von Woyzecks Temperament und physischem Bedürfniß beim Anblick seiner Geliebten, die er von frühem Morgen an gesucht und ihm auf diesen Tag eine Zusammenkunft versprochen hatte, nach der er den ganzen Tag vergeblich herumgelaufen war und die er nun nach Hause zu begleiten die Aussicht hatte, alles Vorhergegangene vergessen konnte. Eben so begreiflich ist es, wie die beleidigende Rede der Woostin beim Abschiede gegen seine beinahe wieder besänftigten Empfindungen einen Contrast bilden, seinen Zorn desto mehr entflammen, und die blos schlummernde Rache zur blutigen That wecken konnte. Es ist daher nach allen Umständen bei der That selbst anzunehmen, daß das Uebergewicht der Leidenschaft über die Vernunft die einzige Triebfeder derselben gewesen sey. Eben so wenig läßt sich
f) aus Woyzecks Benehmen nach der That ein Beweis für die Existenz eines krankhaften Gemüthszustandes überhaupt, oder eines individuellen und ungewöhnlichen Antriebes herleiten. Er entfernte sich im Geschwindschritt, wie jeder andere Verbrecher gethan haben würde, weil ihn Niemand aufhielt. Es fiel ihm auf dem Wege über den Roßplatz der [534] Gedanke ein, sich zu erstechen, was bei einem Menschen, der schon einmal den Hahn gespannt hatte, um sich zu erschießen, und sich jetzt auf dem Rückwege von einem Verbrechen befand, wo der Wunsch nach Vernichtung die erste und natürlichste Regung zu seyn pflegt, nichts befremdendes ist. Er unterließ es, weil auf dem Roßplatze viele Leute waren, was eben so von Bewußtseyn, Ueberlegung und Willensfreiheit zeigt, als daß er das Instrument in dem Augenblicke der Verhaftung unbemerkt wegzuwerfen suchte.
Er äußerte endlich, als ihm unmittelbar nach der Verhaftung seine Frage, ob die Woostin todt sey, Niemand beantwortete: »Gott gebe nur, daß sie todt ist, sie hat es um mich verdient«, welche Aeußerung, nach Maaßgabe der übrigen Umstände, für nichts anders, als für einen Ausdruck der befriedigten Rache, auf keinen Fall aber für ein Symptom von irgend einer Seelenkrankheit oder von einem ungewöhnlichen Motiv zu der eben begangenen That angesehen werden kann. Daß beim Transport ins Gefängniß und bei dem sogleich mit ihm angestellten Verhör keine Spur von Betrunkenheit an ihm zu bemerken, seine Antworten den an ihn gerichteten Fragen entsprechend und sein Benehmen verständig gewesen sind, wird ausdrücklich in den Akten bemerkt; und es kann mithin hierüber kein Zweifel entstehen.
Aus den im Vorhergehenden dargestellten Thatsachen und erörterten Gründen schließe ich: daß Woyzecks angebliche Erscheinungen und übrigen ungewöhnlichen Begegnisse als Sinnestäuschungen, welche durch Unordnungen des Blutumlaufes erregt und durch seinen Aberglauben und Vorurtheile zu Vorstellungen von einer objektiven und übersinnlichen Veranlassung gesteigert worden sind, betrachtet werden müssen, und daß ein Grund, um anzunehmen, daß derselbe zu irgend einer Zeit in seinem Leben und namentlich unmittelbar vor, bei und nach der von ihm verübten Mordthat sich im Zustande einer Seelenstörung befunden, oder dabei nach einem nothwendigen, blinden und instinktartigen Antriebe und überhaupt anders, als nach gewöhnlichen leidenschaftlichen Anreizungen gehandelt habe, nicht vorhanden sey.
Indem ich diesen Bericht und dieses Gutachten als der Wahrheit und den Grundsätzen meiner Wissenschaft gemäß, durch meines Namens Unterschrift und Siegel bestätige, füge ich wegen der ungewöhnlichen Schwierigkeit, Vielseitigkeit und Wichtigkeit des von mir beurtheilten Gegenstandes den Antrag hinzu, daß über die von mir aufgestellte Ansicht, selbst wenn gegen dieselbe erhebliche Zweifel nicht beigebracht werden sollten, annoch ein Responsum der medizinischen Fakultät eingeholt werden möge.
Leipzig, den 28. Februar 1823
[535] Die gegen vorstehendes in der am 7. Jan. 1823 eingereichten dritten Verteidigungsschrift erhobenen Einwendungen wurden in dem am 4. Oct. d. J. eingegangenen Urtheil des hiesigen Schöppenstuhls als unzureichend erkannt[6], die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten als vollständig erwiesen dargestellt, und die Einholung eines Gutachtens der medizinischen Fakultät unter diesen Umständen für unnöthig erachtet.
Nachdem in Folge dieses der Vertheidiger unter nochmaliger Berufung auf landesherrliche Gnade gegen die zuerkannte Todesstrafe, seine Gründe für die Befragung einer Medicinalbehörde nochmals dringend vorgestellt und unter andern bemerklich gemacht hatte, daß, da der Physikus aus eigenem Antriebe auf die Bestätigung seiner Ansicht durch die medicinische Fakultät angetragen habe, dieses Gutachten selbst nicht eher als völlig geschlossen betrachtet werden könne, bis diese Bestätigung erfolgt sey; so wurde in dem hierauf erlassenen Rescripte vom 23sten Jan, 1824 zwar der Berufung auf Gnade Statt zu geben Bedenken gefunden, jedoch »In Betracht des von dem Stadtphysikus Hofrath Dr. Cl..... geäußerten Wunsches, daß wegen der ungewöhnlichen Schwierigkeit, Vielseitigkeit und Wichtigkeit des von ihm beurtheilten Gegenstandes über die von ihm aufgestellte Ansicht ein Responsum der gedachten Fakultät eingeholt werden möchte, für angemessen erachtet, das Gutachten derselben über den vorliegenden Fall annoch zu vernehmen.«
Mittlerweile wurde (14. Feb.) auf des Vertheidigers Antrag von dem Stadt- und Landgericht zu Stralsund über Woyzecks Vernehmen allda Erkundigungen eingezogen. Aus der Befragung von sechs Personen, unter denen sich sein Hauswirth, die erwähnte Wienbergin, sein ehemaliger Feldwebel und mehrere Kameraden befanden, ergab sich, daß Woyzeck beim Regimente den Namen Wutzig und einen falschen Vornamen geführt, dem Trunk sehr ergeben, auch einmal, wegen eines [536] Diebstahls, auf sechs Monate unter die Sträflinge versetzt gewesen sei, daß man aber weder von seinen angeblichen Erscheinungen etwas erfahren, noch irgend etwas Auffallendes in seinen Reden und Handlungen, oder gar Zeichen von Geistesverwirrung oder von Anlage dazu, an ihm bemerkt habe. Insonderheit gibt die Wienbergin, deren mit Woyzeck erzeugtes Kind sich noch am Leben befindet, an, daß sie mit seinem Benehmen immer sehr zufrieden gewesen sei, daß er sich aber theils durch Eifersucht, theils durch Trunkenheit oft zu Härte und zu Thätlichkeit gegen sie habe verleiten lassen. Uebrigens gab sie aus dem Gedächtniß den Inhalt eines verlornen Briefes von ihm zu Protokoll, dessen zum Theil räthselhafte Ausdrücke sie aus seiner Eifersucht und Trunkfälligkeit erklärlich findet. (3. Apr.)
Die medizinische Fakultät allhier fand kein Bedenken in ihrem hiernächst unterm 17. April eingegangenen Responsum das von mir abgegebene Gutachten in seinem ganzen Umfange zu billigen und zu bestätigen, wobei sie sich zugleich aus Gründen gegen die Zulässigkeit eines zweiten Arztes bei Untersuchung zweifelhafter Seelenzustände erklärt, und die von mir aufgestellten Grundsätze zur Bestimmung der Fälle, in denen allein ein blinder Antrieb zu verbrecherischen Handlungen anzunehmen sei, geeignet findet, bei Untersuchung und Bestimmung ähnlicher Fälle als Norm zu dienen[7].
Nachdem nun durch ein Rescript vom 12. Juli die Vollstreckung des Urtheils anbefohlen und dieses dem Inquisiten am 30. Juli eröffnet worden war, so erklärte derselbe, daß er sich dabei beruhige, da er sich stets vorgestellt habe, daß es nicht anders kommen könne. Der hierauf am 3. Aug. erfolgte Antrag des Vertheidigers, dem Inquisiten eine nochmalige Vertheidigung zu gestatten, weil die über seinen Gemüthszustand angestellte Untersuchung nur bei einer Vertheidigung habe benutzt werden können und selbige, von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, als die erste anzusehen sei, wurde durch ein Rescript vom 10. Aug. abgewiesen, die Vollstreckung der Todesstrafe nochmals anbefohlen und nunmehr endlich der 27. Aug. zum Tage der Hinrichtung angesetzt.
aus einem Schreiben des Herrn Hofrath Clarus an den Herausgeber
Zu Bestätigung meines Urtheils, daß der Verbrecher zurechnungsfähig, aber im hohen Grade kalt und gefühllos gewesen sei, kann nachträglich noch folgendes dienen:
[537] 1) daß an demselben während seiner mehr als dreijährigen Gefangenschaft, während welcher er a) von dem Prediger der Gefangenen, dem Bruder des Vertheidigers, unabläßig scharf beobachtet worden ist, b) die Einflüsse der heftigsten Gemüthsbewegungen erfahren hat, c) einem ungewöhnlich heißen Sommer und einem eben so ungewöhnlich harten Winter ausgesetzt gewesen ist, endlich auch d) durch den Einfluß des Gefängnißes anderweitigen Nachtheil an seiner Gesundheit (scorbutische Beschaffenheit des Zahnfleisches) erfahren hat, dennoch nicht die geringste Spur von seinen angeblichen Visionen hat bemerkt werden können.
2) Daß er mit der größten Gleichgültigkeit sich bis zum letzten Tage mit Fertigung von Papparbeiten beschäftiget, die Vertheilung der ihm in diesem Tage zugekommenen Almosen an seine Verwandte, an seine frühere Geliebte, an das mit dieser erzeugte Kind und an dessen Lehrer angeordnet, den bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen Religionsübungen sich gern, aber ohne sonderliche Rührung, unterzogen, ein von ihm selbst aufgesetztes Gebet, um es auf dem Schaffot laut zu halten, noch am Morgen der Hinrichtung auswendig gelernt, aber auch unmittelbar vor dem Anfang des hochnothpeinlichen Halsgerichts noch einmal zu frühstücken verlangt, eine Gänsekeule mit gutem Appetit, doch mit der Aeußerung, daß ihm die Bißen etwas gros würden, verzehrt und das Blutgerüst mit einer Fassung bestiegen hat, als stiege er in einen Reisewagen. Den Schlüssel hierzu giebt theils sein unbedingter Glaube, daß seine Seele geradenweges in das Paradies gelange, von dem er sich eine sehr materielle Vorstellung machte, theils auch wohl seine bis zum lezten Augenblick genährte Hoffnung auf Begnadigung, weshalb er auch das gedachte Gebet, welches er laut und mit sehr lebhaften Gestikulationen verrichtete, absichtlich zu verlängern schien. Uebrigens kam auch wohl soldatisches Ehrgefühl, Todesverachtung und – – Eitelkeit bei seinem ganzen Benehmen mit ins Spiel. – –
Bei der auf dem anatomischen Theater von dem Prosector D. Bock unternommenen Section fanden sich alle Organe in der Kopf-, Brust- und Unterleibshöhle in vollkommen gesundem Zustande und nur das Herz mit einer ganz ungewöhnlichen Menge von Fett umgeben. Beim Fallen des Hauptes bemerkte man einen sehr schwachen Sprung des Blutes aus den Halsschlagadern, vielleicht eine Folge der durch die Falllage verminderten Propulsionskraft des Herzens. Ich erinnere mich in den Zeitungen gelesen zu haben, daß bei der Hinrichtung von Sand, der bekanntlich ein Empyem hatte, etwas ähnliches bemerkt worden ist.
Nebst einem Vorworte des Herausgebers
Im IV. Ergänzungshefte ist das, vom Herrn Hofrath Dr. Clarus zu Leipzig, über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Woyzeck, unter dem 28. Febr. 1823 an das Gericht erstattete Gutachten mitgetheilt worden. Der Hr. Verf. hatte dasselbe in einer eigenen Schrift (die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde actenmäßig erwiesen von Dr. Joh. Christian August Clarus. Leipzig 1824) bekannt gemacht und demselben ein Vorwort und eine kurze historische Einleitung vorangesetzt, welche beide auch im 4. Ergänzungshefte S. 3-7 sich finden.
In Nro. 180 und 181 der Jena'schen Literatur-Zeitung Sept. 1824 erschien nun eine Recension der Schrift des Herrn H. Clarus, die derselben zwar im Allgemeinen Gerechtigkeit wiederfahren ließ, aber gleich mit der unrichtigen Behauptung anfing, daß die Schrift ein doppeltes, nämlich ein früheres und ein späteres Gutachten des Verfassers enthalte. Diese Angabe war aber durchaus irrig und verleitete den Recensenten zu einer sehr unbilligen und falschen Beurtheilung des früheren Gutachtens, welches derselbe in jener Schrift ebenfalls zu finden glaubte. Das Wahre an der Sache besteht aber darin, daß allerdings zwei Gutachten des Herrn H. Clarus eingeholt worden waren, daß aber in der bezeichneten Schrift nur das spätere, ausführlichere, mitgetheilt wurde. Von dem früheren gab der Hr. Verf. in der vorangeschickten gedrängten Darstellung des Proceßganges nur ganz kurz die Resultate historisch an. Diese dem spätem Gutachten beigegebene historische Einleitung hatte keinen andern Zweck, als den der Akten unkundigen Leser in den Stand zu setzen, den gesetzwidrigen Vorgang, so wie den Gang des Processes und die Lage der Sachen selbst in dem Zeitpunkt, in welchem das spätere Gutachten von Hrn. H. Clarus gefodert wurde, klar zu übersehen.
Wie nun der, sonst verständig urtheilende, Recensent die wenigen Worte, mit denen in der historischen Einleitung der Ergebnisse einer frühern Untersuchung Erwähnung geschah, für ein vollständiges gerichtsärztliches Gutachten ansehen konnte, ist nicht wohl zu begreifen! [539] Indessen ist er doch in diesen Irrthum verfallen und nennt, sehr ungerechter Weise das frühere Gutachten (welches er noch gar nicht kannte und nicht kennen konnte) übereilt und oberflächlich.
Eben so unbegründet und ungerecht ist die Behauptung des Recensenten: daß bei der ersten Untersuchung gar keine Rücksicht auf die vita anteacta des Inquisiten genommen worden sey, und daß Hr. H.Clarus dadurch den Zweck der Untersuchung gänzlich verfehlt habe.
Die vollgültigen Beweise für dieses Urtheil werden sachverständige Leser in dem nachfolgenden frühern Bericht und Gutachten finden, welches Hr. Hofr. Clarus dem Herausgeber mitzutheilen die Güte gehabt hat. Es wird die Ueberzeugung begründen, daß derselbe auch bei der ersten Untersuchung als Gerichtsarzt redlich seine Pflicht erfüllte, und es wahrlich nicht verdiente, von einem Recensenten der Uebereilung und Oberflächlichkeit beschuldigt zu werden, der einen Actenauszug nicht von einem gerichtsärztlichen Gutachten zu unterscheiden wußte.
Die Lage der Sachen in dem Augenblick, wo das frühere Gutachten vom Gericht gefordert wurde, war aber folgende:
In den Nürnberger Zeitungen hatte die Nachricht gestanden, daß Woyzeck gemüthskrank sey. In den Acten befand sich bis dahin noch nicht die geringste Spur, die auf eine solche Vermuthung hätte führen können. Das Gericht requirirte daher Hrn. H. Clarus: »den Gemütszustand des Inquisiten ärztlich zu untersuchen und ein Gutachten darüber abzugeben.« Es war dabei lediglich von dem damals bestehenden Gemüthszustande und von der Prüfung der Wahrheit des Gerüchts, daß Woyzeck verrückt sey, die Rede. Die Frage hingegen: ob der Inquisit zu irgend einer Zeit seines Lebens gemüthskrank gewesen sey? war gar nicht vorgelegt worden. Dennoch richtete Hr. H. Clarus als Gerichtsarzt seine Untersuchung mit Recht vorzüglich darauf, und verfuhr, wie das Gutachten nachweist, mit großer Umsicht und Gründlichkeit.
In der That wurde Hr. H. Clarus durch Woyzecks Erzählungen auf einige Umstände geführt, die Zweifel wegen seines frühern Seelenzustandes erregen konnten, und es theilte derselbe sofort, noch vor Abgabe seines Gutachtens, dem Gerichte diese Zweifel in einer besondern Eingabe, die sich bei den Acten befindet, mit dem Antrage mit, sie durch Zeugenabhörung zu verificiren, um sich nachher in seinem Gutachten darauf stützen zu können. Das Gericht vernahm hierauf den Juden, der zu W. gesagt haben sollte: »du bist verrückt und weist es nicht«; ingleichen den Stiefvater des Inquisiten und mehrere seiner nähern Bekannten. Alle diese Personen sagten aus, nie etwas an Woyzeck bemerkt zu haben, was eine solche Vermuthung begründen könne. Das Gericht sandte hierauf die Acten an Hrn. H. Clarus zurück und dieser fand sich nun dadurch veranlaßt, sein Gutachten so zu stellen, wie die Schlußsätze desselben lauten.
[540] Wenn nun in dem ersten Schlußsatze ausgesprochen wurde: daß allerdings die Erörterung der gedachten Aussagen des Inquisiten zur gesetzmäßigen Vollständigkeit der Untersuchung gehörten, daß aber vor der Hand, weil es zur Zeit noch bloß eigene Behauptungen des Inquisiten wären, noch keine Rücksicht daraufgenommen werden könne, sondern die weitere Bestätigung abzuwarten sey: so lag darin wohl allerdings ein Wink für den Vertheidiger und das Gericht, daß jene gedachten Aussagen noch einer nähern Erörterung bedürften, und daß auf diese ein neues gerichtsärztliches Gutachten gegründet werden müsse. - Vorschriften zu geben, wie das Gericht verfahren solle, um einen, als noch zweifelhaft und zur gesetzlichen Vollständigkeit gehörend, bemerklich gemachten Punkt genügend aufzuklären, liegt nicht in der Zuständigkeit des Gerichtsarztes.
Den Vertheidiger, die Inquirenten und das Spruch-Collegium scheint die Ueberzeugung geleitet zu haben, daß aus einer weitern Nachforschung über diesen bezeichneten Punkt kein irgend erhebliches Resultat mehr hervorgehen könne.
Sollte aber diese Ueberzeugung vielleicht nicht von einem Jeden getheilt werden, so wird doch Jeder anerkennen, daß der Gerichtsarzt nicht zu vertreten habe, was Vertheidiger, Untersuchungs- und Spruchrichter in einem solchen Falle thun oder unterlassen.
des Inquisiten Johann Christian Woyzeck;
eingegeben den 20. Sept. 1821.
In Gemäßheit der von Seiten E. Hochlöbl. Königl. Sächsischen Criminalgerichts allhier unterm 24. Aug. d. J. an mich Endesgenannten ergangenen Requisition:
- »den Gemüthszustand des Inquisiten Johann Christian Woyzeck ärztlich zu untersuchen und mein Gutachten darüber abzustatten«
habe ich mit gedachtem Woyzeck am 26., 28. und 29. August ingleichen am 3. und 14. September, in allem fünf, dreiviertel bis einstündige Unterredungen gehabt, zu denen er jedesmal in die sogenannte Armensünderstube auf dem Rathhause allhier bandenfrei gebracht wurde, und bei denen ein Polizeidiener immerwährend zugegen blieb.
Die Resultate dieser Unterredungen bestanden theils in den Aussagen des Inquisiten auf die, nach Anleitung des allergnädigsten Generalis vom 29. Juni 1810, bei der Untersuchung gemüthskranker Personen zu erörternden Fragen, theils in den Beobachtungen, welche sich unmittelbar [541] aus der Untersuchung des körperlichen und geistigen Zustandes desselben, und unabhängig von seinen eigenen Aeusserungen, ergaben. Beiderlei Resultate wurden, während der Unterredungen selbst, von mir zu Papier genommen und ich halte es, zum Behuf des darauf zu gründenden Gutachtens, für zweckmäßig, sie sorgfältig von einander zu trennen.
I. Aussagen des Inquisiten auf die ihm, nach Anleitung des allergnädigsten Generalis vom 29. Juni 1810, vorgelegten Fragen:
Er heiße wie oben angegeben ist, sey am 3. Januar d. J. 41. Jahr alt geworden und von seinen drei noch lebenden Geschwistern der älteste. Sein Vater sey Perückenmacher allhier gewesen und habe, ohne in vermögenden Umständen zu seyn, dennoch sein hinlängliches Auskommen gehabt. Seine Mutter sey als er acht Jahr alt gewesen, in ihrem 26. Jahre an der Auszehrung gestorben, nachdem sie, wie er sich genau erinnere im Aerger über einen Verwandten, wegen der großmütterlichen Erbschaft, Schnaps getrunken und davon eine Brustentzündung bekommen habe. Uebrigens sey selbige bei völligem Gebrauche ihres Verstandes und von nicht sehr heftigem Temperament gewesen, habe auch mit seinem Vater in friedlicher Ehe gelebt. Dieser habe sich nach seiner Mutter Tode anderweit verheirathet, sey aber in seiner zweiten Ehe nicht glücklich, und deshalb tiefsinnig oder vielmehr niedergeschlagen und nachdenkend gewesen. Auch sey er meistens für sich allein geblieben ohne viel in Gesellschaft zu kommen, (wozu vorzüglich der Umstand beigetragen habe, daß er der deutschen Sprache nicht ganz mächtig gewesen sey) und in seinem 44. Jahre ebenfalls an der Auszehrung gestorben, als er selbst, der Inquisit, 13 Jahr alt gewesen. Als noch lebende Personen, welche seine Eltern gekannt haben sollen, nannte er den hiesigen Wollenmacher Richter und die Schneiderwittwe Trabertin. Daß irgend jemand in seiner Familie gemüthskrank gewesen sey, erinnert er sich nicht gehört zu haben, versichert auch bei dieser Gelegenheit, daß seine Geschwister, so wie er selbst, einen ziemlich guten Kopf gehabt und leicht gelernt hätten. Um seine Erziehung habe sich sein Vater wenig bekümmert, ihn aber doch zuerst in eine Winkelschule und nachher in eine Freischule geschickt. Harte Behandlung und schwere Züchtigungen habe er nie erfahren und erinnere sich nur ein einzigesmal von seinem Vater, wegen eines kindischen Muthwillens, gestraft worden zu seyn.
In seinem 13½ Jahre sey er zu dem Perückenmacher Stein allhier in die Lehre gekommen, bei dem er jedoch nur wenig habe lernen können, weil er mehr zu häuslichen Geschäften und zum Kinderwarten gebraucht worden sey, weshalb er sich nach einem Jahre zu dem Perückenmacher Knoblauch anderweit in die Lehre begeben habe und bei diesem [542] noch 4 Jahre als Lehrling und 1½-2 Jahre in Condition gestanden habe. Die von ihm ermordete Woostin geb. Ottin sey die Stieftochter dieses seines Lehrherrn, mehrere Jahre älter, als er, keinesweges schön, auch zu der Zeit, als er in die Lehre gekommen, bereits seit ihrem 15. Jahre verheirathet gewesen, so daß zu dieser Zeit weder ein näherer noch entfernterer Umgang zwischen ihnen Statt gefunden habe. Im Jahre 1798 sey er nach Dessau und Berlin, von da durch das Hanöverische und Hessische und, weil er nirgends Arbeit gefunden, wieder um Leipzig herum nach Wurzen gegangen, wo er bei dem Perückenmacher Bärwolfinger ein Jahr lang in Condition geblieben sey. Hierauf habe er ein Jahr lang in Berlin und eben so lange in Breslau gearbeitet, einige Jahre in Wittenberg einem Studierenden von Adel als Bedienter aufgewartet, und sich endlich, nachdem er mittlerweile wieder eine Zeitlang in Leipzig gewesen, abermals auf Reisen begeben, wo er sich, weil sein Gewerbe immer schlechter geworden, freywillig bei dem siebenten holländischen Regiment, welches damals Lübeck besetzt gehabt, habe anwerben lassen. Noch als Recrut sey er am 7. April 1807 von den Schweden vor Stralsund gefangen und nach Stockholm transportirt worden, wo er unter dem damaligen Engelbrechtischen Regiment Dienste genommen, und den Feldzügen der Schweden in Finnland gegen die Russen, beigewohnt habe. Als hierauf sein Regiment nach Deutschland übergesetzt und von den Franzosen entwaffnet worden, sey er, um nicht französische Dienste zu nehmen, unter die Meklenburgischen Truppen gegangen, mit ihnen vor Ratzeburg und Hamburg gewesen, nach einiger Zeit aber, aus keinem andern Grunde als weil er sich nach seinen alten Kameraden gesehnt, wieder zu den Schweden desertirt. Bei der Abtretung von Schwedisch-Pommern sey sein Regiment an Preussen übergegangen, er selbst aber habe, einige Zeit nachher, nicht als Invalid, sondern auf sein Ansuchen, den Abschied bekommen, und sich wieder nach Leipzig begeben, wo er vor nunmehr 3½ Jahren, gerade vor der Neujahrmesse, angekommen sey.
So lange er Soldat gewesen, habe er es überall sehr gut gehabt, sich zur Zufriedenheit seiner Obern aufgeführt und niemals Regimentsstrafe, oder auch nur einen Schlag bekommen. Er sey von Natur weichmüthig gewesen, und habe es nicht mit ansehen können, wenn andere sich gezankt, auch habe er nie selbst Zank und Streit gesucht, oder Duelle und Schlägereien gehabt. Noch weniger habe er heimlichen Groll genährt, sondern sich leicht über Beleidigungen hinweggesetzt, auch es nie lange ausgehalten, wenn Jemand böse auf ihn gewesen, ohne sich wieder mit ihm zu vertragen.
Vergnügungen, Zerstreuungen, Tanz, Trunk u. dergl. habe er nicht sonderlich geliebt, sondern sich immer etwas abgesondert gehalten, seinen Dienst pünktlich verrichtet und sich in den Zwischenstunden [543] nicht mit Lesen oder müßigem Herumstreichen, sondern am liebsten mit Versuchen in allerlei mechanischen Arbeiten beschäftiget. Da er geraume Zeit bei einem Schneider und ein anderesmal bei einem Buchbinder im Quartier gewesen, habe er von diesen verschiedene Vortheile abgesehen und selbige nachher durch eigenes Nachdenken zu vervollkommnen gesucht. Besonders habe er es in der Schneiderarbeit zu einiger Fertigkeit gebracht und eine Zeitlang bei einem Commißschneider ausgeholfen.
Nach seiner Zurückkunft hieher habe er sich durch Bedienungen von Fremden, Haarschneiden, Kleiderausbessern und Papparbeiten nothdürftig genährt und namentlich in letzterem Artikel für den Buchhändler Hrn. Klein und für einen Juden gearbeitet.
In der letzten Zeit sey es ihm sehr übel ergangen, weil es ihm öfters an Arbeit gefehlt habe und ihm selbst die Versuche, als Handlanger bei den Maurern oder auf der Ziegelscheune etwas zu verdienen, fehlgeschlagen seyen. Er sey daher, weil er kein Schlafgeld bezahlen können, oft acht Tage lang des Nachts unter freiem Himmel geblieben, ohne sich jedoch, weil er das Bivouakiren gewohnt sey, viel daraus zu machen, sey auch am Tage mißmuthig und ohne zu wissen, was er anfangen solle, im Felde und an den einsamsten Orten umhergestrichen, bis ihn der Hunger dann und wann in die Stadt getrieben habe, um sich von seinem Stiefvater oder seinem Stiefbruder etwas zu essen geben zu lassen, worauf er immer wieder aufs Feld zurückgekehrt sey. Unterstützungen und Almosen habe er unter andern von Herrn Förster auf der Grabengasse und von Herrn Lacarriere erhalten, welcher letztere ihm ein an ihn gerichtetes Bittschreiben wieder zurückgegeben habe.
Den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht habe er zwar nicht sehr gesucht, aber auch die Gelegenheiten dazu nicht verschmäht, sich jedoch immer mehr zu einer Person gehalten, obwohl es ihm dabei ziemlich gleichgültig gewesen sey, ob diese es mit mehrern zu thun gehabt, oder nicht.
Sein Umgang mit der Woostin schreibe sich von der Zeit her, wo er bei ihrer Mutter gewohnt habe, und es sey, obgleich ein ausdrückliches Versprechen nicht Statt gefunden, dennoch ihr beiderseitiger Wille gewesen, sich zu ehelichen, wozu es aber, weil es mit ihm immer nicht fort gewollt habe, nicht gekommen sey. Unterstützungen habe er von der Woostin nicht erhalten, weil sie selbst nicht viel gehabt habe, und der fleischliche Umgang mit ihr sey dadurch, daß sie sich seit einiger Zeit auch mit einem andern eingelassen, obwohl es deshalb zwischen ihnen zu Streitigkeiten und Thätlichkeiten gekommen sey, dennoch nicht unterblieben, da sie ihm nicht nur den Beyschlaf niemals verweigert, sondern ihn sogar oftmals deshalb bestellt habe. Dieses sey auch am Tage der That, nachdem er gerade mehrere Nächte unter freiem Himmel [544] zugebracht, aber doch noch einige Groschen gehabt habe, um nicht hungern zu dürfen, geschehen, indem ihm die Woostin des Morgens am Zuchthauspförtchen gesagt habe, er möge Nachmittags um 4 Uhr auf der Funkenburg auf sie warten. Was er an diesem Tage weiter vorgenommen, wo er herumgelaufen, und ob er auf der Funkenburg gewesen sey, wisse er nicht mehr genau, glaube aber, daß er nicht da gewesen sey, weil er sich gleich vorgestellt habe, daß die Woostin nicht kommen und lieber mit einem andern gehen werde. Inzwischen erinnert er sich dennoch, daß er die Degenklinge abgeholt und einen Griff daran bestellt habe, und meint, er müsse wohl dabei die Absicht gehabt haben, die Woostin damit zu erstechen, versichert aber, daß er es nachher wieder vergessen und nicht einmal mehr daran gedacht habe, daß sich das Instrument in seiner Tasche befinde. Daher habe er sich auch gefreut, als ihm Abends in der Dämmerung die Woostin auf dem Wege vom Palmsthore nach dem Kruge begegnet sey, und zu ihr gesagt, weil er schon Verdacht gegen sie gehabt: »Du bist auch nicht auf der Funkenburg gewesen«, worauf sie gelacht und er daraus ersehen habe, daß sie würklich nicht da gewesen sey. Ob ihn dieses gleich geärgert, habe er dennoch sich erboten, sie nach Hause zu begleiten, sich auch unterwegs weder mit ihr gezankt, noch empfindliche Reden von ihr bekommen, auch den ganzen Weg über nicht daran gedacht, sie zu erstechen. Erst in dem Augenblicke, als er mit der Woostin ins Haus getreten, und diese zu ihm gesagt habe, er möge nun nach Hause gehen, sey der Gedanke daran plötzlich wieder in ihm erwacht, und so sey die That geschehen, ohne daß er sehr in der Hitze oder in heftigem Grimme gewesen wäre. Nach der That sey es ihm gewesen, als sey ihm etwas vom Herzen, auch fühle er seit der Zeit mehr Ruhe in sich selbst.
Ueber religiöse Gegenstände äußert er sich kurz und ziemlich kalt, versichert aber dennoch, daß er an Gott und Zukunft glaube, sein Morgen- und Abend-Gebet nie unterlassen und in seinem letzten hülflosen Zustande manchmal Gott auf den Knieen angerufen habe, auch noch am Himmelfahrtstage, zwei Tage vor der That, in der Kirche gewesen sey. »Aber« setzte er mit rauher Stimme hinzu, »was hat mirs denn geholfen?« – Mit gleicher Rohheit antwortete er auf die Frage, welche Vorstellung er sich wohl von dem Ausgange seines Processes mache? »Es kann mir den Kopf kosten! Aber da mache ich mir nichts draus; – Sterben muß ich einmal!« –
In Rücksicht auf Krankheiten und andere Zufälle, denen er im Laufe seines Lebens unterworfen gewesen, giebt er folgendes an: Er erinnere sich nicht, gehört zu haben, daß seine Mutter bei seiner Geburt mehr als gewöhnlich gelitten, noch daß er in seiner früheren Kindheit durch einen Fall, Stoß u. dgl. am Kopfe beschädigt worden, noch auch daß der Durchbruch der Zähne mit gefährlichen Zufällen verbunden gewesen [545] sey. Die Masern und Pocken habe er gehabt, und zwar letztere so stark, daß er blind daran gewesen, Scharlachfieber aber nicht. Auch habe er in seiner Kindheit Würmer, bösen Kopf und Krätze gehabt, welche letzterm beiden Krankheiten schnell, und zwar die Krätze durch eine Salbe, welche eine Bauerfrau gegeben, vertrieben worden sey, jedoch, so viel er wisse, ohne alle nachtheilige Folgen. Von Anschwellung der Drüsen, Ausfluß aus den Ohren und Krämpfen ist ihm nichts bekannt.
In seinem erwachsenen Alter sey er zwar etwas vollblütig und öfters mit Nasenbluten behaftet, aber dabei sehr gesund gewesen, und habe ein einziges Mal, nachdem er im finnischen Feldzuge lange hungern müssen, zehn Tage lang im Lazareth gelegen, kann aber nicht angeben, was für eine Krankheit dieses gewesen sey. Auch habe er einmal bei den Schweden lange Zeit die Krätze gehabt, welche ordentlich behandelt worden sey. Blessuren oder andere zufällige Verletzungen, namentlich am Kopfe, habe er nie erlitten, auch sey er nie venerisch, oder mit Hämorrhoiden, Gicht, Flechten, epileptischen oder andern Krämpfen behaftet gewesen.
Dagegen giebt er an: Schon seit seinem dreißigsten Jahre sey er manchmal sehr ärgerlich und »desperat« gewesen, ohne daß ihm Jemand etwas zu Leide gethan. Auch sey er öfters, besonders wenn er über irgend eine Arbeit lange nachgedacht, in einen Zustand gerathen, in dem er gar nichts mehr gedacht habe. In diesem Zustande habe er zwar still fortgearbeitet, aber nachher oft gesehen, daß es verkehrt gewesen, habe nicht gehört, was die Leute mit ihm gesprochen hätten, und sey oft genöthigt gewesen, noch einmal zu fragen. Diese Anwandlungen hätten sich zwar nicht periodisch, aber doch sehr häufig, und zuweilen, so wie auch jetzt noch, alle Tage ereignet, und ob er sich gleich nicht erinnere, daß er in diesem Zustande verkehrte Reden geführt, oder Handlungen begangen habe, die ihm oder andern hätten gefährlich werden können; so habe ihm doch einmal bei einer solchen Gelegenheit Jemand, auf den er sich aber nicht besinnen könne, gesagt: »Du bist verrückt und weißt es nicht.« - Auch müsse der jüdische Kaufmann Schwabe, Sohn aus Dessau, den er in der Messe zu bedienen gehabt, diesen Zustand an ihm bemerkt haben.
Der Stockmeister Richter versichert, daß er von diesen Anwandlungen nichts bemerkt habe, und daß übrigens der Inquisit sehr stark esse, seine natürlichen Ausleerungen regelmäßig habe, ruhig schlafe und während seines Arrestes noch nie über irgend ein Uebelbefinden geklagt habe. Auch habe er von den Mitgefangenen gehört, daß er immer sorglos, und sogar lustig scheinen wolle.
[546] II. Beobachtungen, welche sich unmittelbar aus der Untersuchung des körperlichen und geistigen Zustandes des Inquisiten, und unabhängig von dessen eigenen Aeusserungen, ergeben haben.
Der Inquisit hat das Ansehen eines Mannes von 40 Jahren und ist von mittler Statur, kräftigem, gedrungnem und völlig regelmäßigen Körperbau, mittelmäßig genährt und von ziemlich starkem Bart und Haarwuchs. Der Kopf steht in richtigem Verhältniß zu dem übrigen Körper und ist von keiner ungewöhnlichen Form auch ohne Narben und andere Spuren erlittener Gewaltthätigkeiten. Während der ersten Minuten, nachdem er vorgeführt worden war, zitterte er gemeiniglich am ganzen Körper, so daß er selbst den Kopf nicht still zu halten vermögend war, und sein Puls- und Herzschlag war in diesem Zustande sehr beschleunigt und verstärkt, sobald er sich aber etwas beruhigt hatte, ließ das Zittern nach, und ich fand Puls- und Herzschlag natürlich, ingleichen das Athemholen frei und gleichförmig. Man bemerkt keinen üblen Geruch aus dem Munde, die Zunge ist ohne Beleg, obgleich von Tobak, den er zu kauen pflegt, etwas braun gefärbt, der Leib nicht aufgetrieben oder gespannt, und die Eingeweide desselben, so viel sich durch äußere Untersuchung erkennen läßt, von natürlicher Lage und Größe und ohne Spuren von Verhärtungen und andern organischen Fehlern. Die Haut ist von natürlicher und gleichförmiger Wärme, ohne Spur von Krätze, Flechten und andern Ausschlägen, auch bemerkt man bei Untersuchung derselben keine Krampfadern, Drüsenanschwellungen, Narben, oder venerische Merkmale, ausgenommen, daß der Kopf des rechten Nebenhoden sich etwas dicker und härter anfühlt, als gewöhnlich. Sein Auge ist nicht sonderlich belebt, aber von natürlichem Glanz und sein Blick fest, ernst, ruhig, und besonnen, keinesweges wild, frech, verstört, unstät oder zerstreut, aber auch eben so wenig traurig, niedergeschlagen, verlegen, gedankenlos oder erloschen. Das Gesicht ist blaß aber nicht eingefallen, die Lippen roth, die Züge ziemlich tief gefurcht, aber weder ungewöhnlich gespannt, noch erschlafft. Seine Miene hat nichts Tückisches, Lauerndes, Abstossendes oder Zurückschreckendes und kündigt weder Furcht und Kummer, noch Unwillen und verhaltenen Zorn, überhaupt nichts Leidenschaftliches an, auch bleibt sich dieselbe fast immer gleich, und nur einigemale bemerkte ich, bei Erzählungen aus seinen Jugendjahren, wie sich ein schnellvorübergehendes Lächeln über dieselbe verbreitete, welches aber nichts Unangenehmes, Bitteres, Höhnisches oder Grinsendes hatte. Die Haltung und Stellung des Körpers ist zwar etwas nachläßig, aber nicht schlaff, der Gang und die übrigen Bewegungen sind rasch und lebhaft. Seine Sprache ist stark und vernehmlich, auch gehörig articulirt und betont, nicht affectuirt, nicht polternd oder schleppend, seine Art sich auszudrücken kurz, bestimmt, treffend, ohne Abschweifungen und Wiederholungen. In seinen [547] Reden und Antworten zeigt er ohne alle Ausnahme Aufmerksamkeit, Besonnenheit, Ueberlegung, schnelles Auffassen, richtiges Urtheil und treues Gedächtniß. Der Verstand, dessen Anlagen zwar nicht ausgezeichnet, aber doch mehr als mittelmäßig zu nennen sind, erscheint weniger durch Erziehung und Unterricht ausgebildet, als durch mannichfaltige Schicksale, Aufenthalt in verschiedenen Ländern, Kriegsdienste, Gefahren und Mühseligkeiten geübt, gereift und zu einer praktischen Sicherheit gediehen. Seine Begriffe von den Gegenständen und Begebenheiten, die er gesehen und erfahren hat, sind seinem Stande und seiner Erziehung vollkommen angemessen, zeugen von ruhiger, mit freyem, unbefangenem Sinne angestellter Beobachtung, und sind eben so weit entfernt von exaltirter Verkehrtheit als von stumpfer Verworrenheit. Daher findet sich auch in seinen Erzählungen und Urtheilen nicht die geringste Spur, daß irgend eine unrichtige oder überspannte Vorstellung von den Gegenständen der sinnlichen oder übersinnlichen Welt, oder von den Verhältnissen seiner eigenen physischen und moralischen Persönlichkeit sich seines Verstandes ausschließend bemeistert, den freyen Gesichtspunkt für andere Verhältnisse verrückt und die richtige Beurtheilung derselben getrübt habe, oder, mit andern Worten, zur fixen Idee geworden sey. Eben so wenig läßt sich aus seinem Benehmen bei den Untersuchungen, aus den Empfindungen, die er äußert, und aus seiner Gedankenfolge nachweisen, daß irgend eine Leidenschaft, Gefühl oder Phantasie sein Gemüth beherrsche, und ihm die wirkliche Welt unter falschen Formen, Verhältnissen und Beziehungen vorspiegele. Endlich giebt sich auch in den Aeußerungen des Inquisiten und in seinem ganzen Wesen auf keinerlei Art ein hoher Grad von Reizbarkeit des Temperaments, von Ungestüm und körperlicher Aufregung, oder von Störrigkeit, Tücke und Bosheit zu erkennen, um daraus mit nur einiger Wahrscheinlichkeit den Schluß ziehen zu können, daß er zu denjenigen gehöre, welche, ohne in ihrem Bewußtseyn, oder in ihren Begriffen gestört zu seyn, dennoch in ihren Handlungen einem unwillkürlichen, blinden und wüthenden Antriebe folgen, welcher alle Selbstbestimmung aufhebt. Dagegen finden sich bei ihm desto deutlicher die Kennzeichen von moralischer Verwilderung, von Abstumpfung gegen natürliche Gefühle und von Gleichgültigkeit in Rücksicht der Gegenwart und Zukunft. Die Spuren religiöser Empfindung, die er zuweilen äußert, wenn er dazu angeregt wird, sind viel zu schwach, frostig und vorübergehend, um ihnen einen Einfluß auf Gesinnungen und Handlungen zugestehen zu können, besonders in Ermangelung der äußern Rücksichten und Antriebe, durch welche oft rohe und ungebildete Menschen, auch bei schlaffen, oder fehlenden, moralischen und religiösen Grundsätzen in den Schranken der bürgerlichen Ordnung bewahrt werden.
[548] So fehlt es dem Leben dieses Menschen an innerer und äußerer Haltung, und kalter Mißmuth, Verdruß über sich selbst, Scheu vor dem Blick in sein Inneres, Mangel an Kraft und Willen sich zu erheben, Bewußtseyn der Schuld, ohne die Regung, sie durch Darstellung seiner Bewegungsgründe, oder durch irgend einen Vorwand zu vermindern und zu beschönigen, aber auch ohne sonderliche Reue, ohne Unruhe und Gewissensangst und gefühlloses Erwarten des Ausganges seines Schicksals, dies sind die Züge, welche den gegenwärtigen Gemüthszustand desselben bezeichnen.
Hieraus erhellet:
1. daß die sub I. angeführten Umstände, ob sie gleich zur gesetzmäßigen Vollständigkeit der mir übertragenen Untersuchung gehören, dennoch, in sofern sie auf keinem andern Zeugnisse, als auf den Aussagen des Inquisiten, beruhen, bei der gegenwärtigen Begutachtung seines Gemüthszustandes nicht berücksichtiget werden können, und daß mithin, was insonderheit dessen Vorgeben, als habe er sich von Zeit zu Zeit in einem gedankenlosen Zustande befunden, anlangt, die weitere Bestätigung abzuwarten sey;
2. daß die sub II. dargestellten Beobachtungen über die gegenwärtige körperliche und geistige Verfassung des Inquisiten kein Merkmal an die Hand geben, welches auf das Daseyn eines kranken, die freye Selbstbestimmung und die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden Seelenzustandes zu schließen berechtige.
Vorstehenden Bericht und Gutachten bestätige ich, als der Wahrheit und den Grundsätzen meiner Wissenschaft gemäß, durch meines Namens Unterschrift und Siegel.
Leipzig, den 16. September 1821
Die Leser der Zeitschrift haben also nun die zwei Gutachten, welche Hr. H. Clarus über den Gemüthszustand und die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Woyzeck dem Gerichte erstattet hat, vollständig. Das vorstehend mitgetheilte ist das frühere, am 20. Sept. 1821 eingereichte; das spätere ausführlichere, das am 28. Febr. 1823 erstattet wurde, findet sich in dem IV. Ergänzungshefte dieser Zeitschrift S. 13-91 abgedruckt.
Für diejenigen Leser, denen nicht alle Flugschriften vor Augen kommen, möge hier noch die Anzeige einen Platz finden: daß Hr. Dr. Marc, Landgerichtsphysicus zu Bamberg, in seiner Schrift:
- War der am 27. Aug. 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder J. C. Woyzeck zurechnungsfähig? Bamberg 1825. 8.
zu erweisen versucht hat, der Mörder Woyzeck sey nicht zurechnungsfähig, oder doch mindestens dessen Zurechnungsfähigkeit sehr zweifelhaft [549] gewesen: von dem Herrn Professor D. Heinroth aber in seiner Schrift (über die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath Dr. Clarus von Hrn. D. C. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift: war der am 27. Aug. 18 24 in Leipzig hingerichtete Mörder J. C. Woyzeck zurechnungsfähig? Leipzig 1825. 8.)
durch eine ausführliche, gründliche und scharfe Kritik widerlegt worden sey.
Beide Schriften eignen sich nicht zu einem Auszuge für die Zeitschrift, werden aber Gerichtsärzten und Rechtsgelehrten ein mannigfaches Interesse gewähren.
Der Herausgeber wiederholt hier nur zum Schluß sein früher ausgesprochenes Urtheil, daß die Gutachten des Hrn. H. Clarus zu den ausgezeichnetsten und gründlichsten gehören, die wir in diesem Fache besitzen und daß er Demselben in allen wesentlichen Punkten, die bei dem vorliegenden Falle die Entscheidung leiten und bestimmen konnten, vollkommen beipflichte.
- ↑ Am 20. August 1790 wurde an dem Mörder Jonas die letzte Execution an hiesigem Orte vollzogen.
- ↑ Man erinnere sich an die Vorgänge nach der Hinrichtung des eben erwähnten Jonas, wo zarte Frauen Blumen streuend zum Hochgericht walleten, und am Schafte des Rades die Inschrift gefunden wurde: 'Ruhe sanft guter Jonas!
- ↑ Die im Originale bei jedem einzelnen Punkte angeführten Seitenzahlen der Akten sind beim Abdrucke weggelassen worden. – Der gedrängte, juristische Styl der Relation, welche die Thatsachen und Aussagen aus zwei ansehnlichen Aktenbänden zusammenfaßt, bedarf bei Kennern solcher Arbeiten keine Entschuldigung.
- ↑ Hierbei ist zu bemerken, daß der Ausdruck: der Kerl pfeift dunkelblau, unter dem niedrigen Pöbel in hiesiger Stadt ein sehr gewöhnlicher Provinzialismus ist, und ungefähr soviel bedeutet, als: er macht sich gewaltig breit.
- ↑ Anm. des Verf. Dieselben Beobachtungen an sich selbst gemacht zu haben, versicherte mir, nach Lesung dieser Schrift, einer der berühmtesten Schauspieler Deutschlands, den ich im Spätsommer 1824 während seines Gastspiels in Leipzig an den heftigsten Convulsionen, die aus hämorrhoidalischen Ursachen entstanden waren, behandelte.
- ↑ Obgleich die von dem Vertheidiger gegen meine Ansichten erhobenen Zweifel, nach meiner aufrichtigsten Ueberzeugung, selbige zu erschüttern auf keine Weise vermögen und also ihren Zweck für den gegenwärtigen Fall verfehlt haben, so sind einige seiner Bemerkungen dennoch geeignet, zu sehr wichtigen Erörterungen zu führen. Dahin gehört besonders die Frage: ob es rathsam sey, bei Untersuchung zweifelhafter Seelenzustände mehrere Sachverständige zu hören, und in welchen Fällen die Einholung eines Gutachtens der medicinischen Fakultät, in sofern sie nicht bereits durch die Gesetze bestimmt ist (s. Gener. v. 29. Jul. 1750, 30. Apr. 1783. §. 3, 18. Jan. 1791. §. 23, 8. Apr. 1797) notwendig sey. Ohne mich hier auf die sehr weit führende Beantwortung dieser Frage einzulassen, die ich mir, so weit sie aus meinem Gesichtspunkte möglich ist, für eine andere Zeit vorbehalte, kann ich doch nicht umhin, meine, auf vieljährige Beschäftigung mit gerichtsärztlichen Arbeiten aller Art und auf Bekanntschaft mit fremden Arbeiten gegründete Meinung vorläufig dahin zu äussern, daß es im Allgemeinen gewiß nicht wohl gethan seyn würde, den Gerichten und Spruchcollegien, durch allzubestimmte Vorschriften die Hände zu binden, sondern daß Umsicht, Erfahrung, Kenntniß der Sache, der Personen, der bereits vorliegenden Arbeiten u. s. w. meistens am sichersten bestimmen werden, was in einzelnen Fällen das rathsamste ist.
- ↑ Ich würde diesen, eben so wie alle übrige Ausdrücke des Beifalls, ganz mit Stillschweigen übergangen haben, wenn nicht die Sanktion der von mir aufgestellten Grundsätze durch ein Medicinalcollegium bei Anwendung derselben vor Gericht Bemerkung verdiente.