Zum Inhalt springen

Die Zahlen. Ein Comptoir-Spuk

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: G. H–r.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Zahlen. Ein Comptoir-Spuk
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 237b–238b
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[237b]  Die Zahlen.

 Ein Comptoir-Spuk.

Das große Hauptbuch vor mir aufgeschlagen,
Saß ich am Pult bis in die tiefe Nacht,
Um Legionen Zahlen einzutragen.
Die schier bis zur Verzweiflung mich gebracht.
Gerechnet hatt‘ ich und gerechnet wieder
Die langen Ziffernsäulen auf und nieder;
Mein Kopf war wirr und wüst von all’ den Zahlen.
Und ingrimmsvoll verwünscht’ ich diese Qualen.

Da draußen spielte in den Blüthenbäumen
Mit leisem Hauch die laue Lenzeslust;
Mich zog’s hinaus, im Waldesgrün zu träumen,
Zu baden meine Brust im süßen Duft.
Doch angekettet saß ich, schwarze Zahlen
Auf weißem Grunde mühsam hinzumalen,
Und eh’ in’s Reine Alles ich gebracht,
Befiel mich über meinem Werk die Nacht.

Da stampft’ ich wild die Feder auf das Pult,
Und rief im raschen Zorn der Ungeduld:
„Verflucht seid ihr, verflucht zu tausend Malen!
Ich wünschte in der Hölle sie zu sehn,
Die schwarzen Quäler alle, diese Zahlen, –
Zusammt den Büchern all’, darin sie steh’n!“

Und schwerer wurden meine Augenlider,
Und deckten mir die trüben Augen zu;
Mein müdes Haupt sank auf die Brust hernieder,
Und legte auf dem Hauptbuch sich zur Ruh’. –

So war ich denn in tiefen Schlaf begraben
– Der träge Geist erlag dem schwachen Fleisch –,
Und lange mocht’ ich schon geschlummert haben:
Da weckte mich ein sonderbar Geräusch.
Ich fuhr empor; – das Hauptbuch war verschwunden,
Auf dem ich ein so süßes Bett gefunden,
Und bei dem Mondlicht, welches hell und klar
Erleuchtete das ganze Comptoir,
Blickt’ ich umher, es forschend zu erspäh’n. –
Und sah es endlich mitten in dem Zimmer,
Beleuchtet von des Mondscheins blassem Schimmer
Auf einem Stuhle aufgerichtet steh’n;
Und voll Erstaunen sah ich und voll Schrecken
Aufklappen sich die schweren Pappendecken,
Und aus den hin- und herbewegten Blättern
Erklang ein seltsam Rauschen, Stöhnen, Schmettern.
Die Töne wurden klarer, immer klarer,
Und deutlich hört’ ich endlich das Geschrei:
„Herbei, der Zahlen treuliche Bewahrer!
Herbei, ihr Bücher alle, kommt herbei!“

Da regt es plötzlich sich in dem Gemache,
Da ward’s lebendig flugs in jedem Schrein;
Sie krochen, schlichen, hüpften aus dem Fache,
Die Handlungsbücher alle, groß und klein.
Journal und Cassa-Buch und Prima-Note,
Das Waarenbuch, die Strazzen, hoch und schmal,
Sie standen schnell dem Rufe zu Gebote,
Und schaarten sich um ihren General.
Der aber sprach mit gravität’schen Mienen:
„Ich rief euch her als euer Präsident;
Gehorsam meinem Wort seid ihr erschienen;
Constituirt euch nun als Parlament! –
Der Fall, den ich euch vorzutragen habe,
Betrifft den Menschen, der da sitzt am Pult,
Und während er dort schläft, als wie im Grabe,
Beschließen wir die Strafe seiner Schuld.
Er, der uns dienen sollt’ als treuer Wächter,
Er zeigt sich uns als Frevler und Verächter,
Hat uns verflucht, uns alle auf einmal,
Und unser Lebenselement, – die Zahl!
So laßt uns jetzt zum Rathe uns vereinen,
Wie wir ihn strafen, der sich das erfrecht!
Mylords und ihr vom Hause der Gemeinen,
Sagt, wie man solchen schnöden Frevel rächt!“

Da raschelten die Blätter durcheinander,
Da rauscht’ und zischt’ und heult’ es rings wie toll;
Der Präsident, auch nicht ein Wort verstand er,
Bis erst sein Ruf: „Zur Ordnung!“ laut erscholl.
Die Strazzen näselten: „Wir woll’n ihn quälen!
Aus unserm Wirwarr werd’ er nimmer klug!“
Das Cassa-Buch schrie wüthend: „Stets soll fehlen!
Die Cassa stimme niemals mit dem Buch!“
Dazwischen rief das Waarenbuch, das dicke,
Im tiefsten Basse aus: „Ich meine sehr,
Wir stürzen Alle über ihn uns her,
Und brechen dem Verräther das Genicke!“
Das Hauptbuch aber sprach mit argem Hohne:
„Ich bin dafür, daß man ihn jetzt noch schone;
Doch wenn dereinstens er beim Jahresschluß
Nach soviel durchgerechnet schweren Tagen
Nun die Bilanz des Ganzen ziehen muß,
Dann überlaßt es mir, ihn abzuplagen!
Dann soll ein Groschen hier im Debet fehlen,
Und dort zuviel ein Tausend Thaler steh’n.
Und wie er sich auch immer möge quälen,
Er soll es nimmer richtig stimmen seh’n!
Da soll er Stunden, Tage, Wochen suchen,
Und immer neue Fehler finden nur.
Und kommt er nie dem letzten auf die Spur.
Verzweiflungsvoll sich selber dann verfluchen!“

Ein Beifallssturm brach los bei diesen Worten;
„Bravo! Bravo!“ – so rief’s aus einem Mund,
Ich aber war jetzt munter ganz geworden,
Und nunmehr ward mir’s endlich doch zu bunt.
Ich faßte mir ein Herz; mit einem Satze
Sprang ich von meinem Bocke schnell empor,
Ergriff die äußerste Notizen-Strazze
Und schleuderte sie in den dichten Chor.
„Was?“ – rief ich aus – „Wie könnt ihr euch erfrechen,
In schnöden Aufruhrs tollem Uebermuth
Von Richten und von Strafen hier zu sprechen?
Legt euch zur Ruh’, und schweigt, verdammte Brut!

[238b]

Ihr niederträchtigen Rebellengeister!
Ich, ich befehl’ es, euer Herr und Meister!“

Doch kaum war meinem Mund das Wort entflohen,
So brach ein unbeschreiblich Toben los,
Ein Schimpfen, Schelten, Schnauben, Schreien, Drohen,
und der Tumult erhob sich riesengroß.
Des großen Hauptbuchs mächt’ge Donnerstimme
Bot endlich dem verrückten Haufen Ruh’,
Und rief sodann mit unverhalt’nem Grimme
Aus seinem Blättermund mir höhnend zu:
„Elender Wurm! Du unser Herr und Meister?
Was bildet dieser Erdenkloß sich ein?
„Buchhalter“ – nicht wahr? – doppelter“ – so heißt er,
Und darum denkt er unser Herr zu sein? –
Anmaßender? Wenn ich jetzt meinen Schaaren,
Den Hunderttausenden von Ziffern hier,
Gebiete, daß sie auseinander fahren,
Und sich zerstreu’n im weiten Luftrevier:
Wärst du etwa der Mann, sie festzuhalten?
Und wenn sie ausmarschirten auf mein Wort,
Fingst du sie ein mit menschlichen Gewalten,
Und stelltest wieder sie an ihren Ort?“ –

„Unwürdiges Geschöpf von Papp’ und Leder!“
Rief ich ergrimmt, – „du schwatzest hirnverbrannt;
Was ich geschrieben habe mit der Feder,
Das steht, – an seinem Platze festgebannt!“

Ich sprach es, und ein teuflisch Hohngelächter
Des ganzen Haufens war die Antwort drauf.
„Ha!“ – schrie das Hauptbuch, „zeigt es dem Verächter,
Ihr Zahlen! Vorwärts! Marsch! – in schnellem Lauf!“

Da plusterten die Blätter auseinander
Von all’ den Büchern und im Nu begann
Auf ihnen ein Gelauf und ein Gewander,
Als käm ein Heer von hunderttausend Mann.
Aus ihrer Linien rothen Barrieren
Zog jede lange Zifferreihe aus,
Und alle Spalten sah ich rasch sich leeren;
Mir stand das Haar zu Berg vor Schreck und Graus.
Erst zogen sie in schnurgeraden Zügen.
Im richtigen Kolonnenmarsch einher;
Doch plötzlich machten sie sich’s zum Vergnügen,
Umherzustieben in die Kreuz und Quer.
Ameisen ähnlich kroch der ganze Haufen
Um mich herum in scheußlichem Gewirr:
Das war ein Gehen, Kommen, Rennen, Laufen;
Das war ein hirnverrückendes Geschwirr!
Die Nullen kugelten sich auf den Dielen;
Die Achten ringelten sich Schlangen gleich;
Die Sechsen sah man mit den Neunen spielen;
Die Fünfen trieben manchen Possenstreich;
Die Einsen stachen mich mit ihren Spitzen,
Und ließen, wie ein zornig Bienenchor,
Den gift’gen Stachel in der Haut mir sitzen;
Die Zweien krochen heimlich mir in’s Ohr.
Dazwischen scholl der Bücher höhnisch Lachen;
Sie schlugen höhnisch ihre Blätter auf,
Um die Verzweiflung in mir voll zu machen. –
Nicht eine einz’ge Zahl stand mehr darauf!

In Todesangst rief ich in das Gewimmel:
„Ich bin verloren, ein geschlagner Mann!
Weh’ mir! Was wird aus mir? Hilf Himmel!
Was fang ich nun, ich Aermster, morgen an?
Schon seh’ ich, wie in Winkeln und in Ecken
Die losgelass’nen Ziffern sich verstecken;
Wie, wo such’ ich sie wiederum zusammen,
Zu setzen jed’ an ihre Stelle hin?“ –
Und, Hirn und Herz durchtobt von Höllenflammen.
Sank ich zu Boden, und mir schwand der Sinn.

Da rief mit triumphirend stolzem Tone
Das große Hauptbuch, zu mir hingewandt:
„Beugst du dich nun vor meinem Herrscherthrone,
Hast du nun endlich meine Macht erkannt?
Ich sehe dich zerknirscht in tiefer Reue,
Und bin voll Huld geneigt, dir zu verzeih’n.
Wohlan, so schwör’ aufs Neue jetzt mir Treue;
Dann soll die Angst allein dir Strafe sein!“ –

Ich schwor – was hätt’ ich Alles nicht versprochen,
Um nur die Zahlen wieder fest zu sehn?
Zerschmettert, unter lautem Herzenspochen
Kroch ich zu Kreuz mit unterwürf’gem Flehn.

Das Hauptbuch commandirte nun Retraite:
„Halt! Achtung! Richtet euch, und rücket ein!“
Und gleich, als wenn ein Wind darunter wehte,
Zerstob der wilde Knäul der Zahlenreihn.
Schnell sah ich die Colonnen sich formiren,
Auf’s Schönste, trotz dem besten Grenadier.
Und zugweis wiederum zurückmarschiren
In’s alte, kaum verlass’ne Standquartier.

Ich dankte Gott, daß sie nur wieder standen
In Reih’ und Glied; das Hauptbuch aber sprach:
„Noch eine Lehre geb’ ich dir zu Handen;
Der denk’ an jedem Tage ernstlich nach! –
Die Zahl erkühntest du dich zu verachten?
Du blöder Thor! Begreifst du auch die Zahl?
Das Tiefste, was die höchsten Geister dachten.
Es ist verfaßt, gegründet in der Zahl.
Pythagoras, der Weiseste der Weisen,
Hat schon das tiefe Dunkel aufgehellt,
Und in den Sphären, die das All durchkreisen,
Gilt rings das Wort: „Die Zahl regiert die Welt!“
Wo Ordnung ist und Ebenmaaß und Regel,
Da ist’s die Zahl, die Alles das erschafft;
Im stolzen Tempelbau, im bläh’nden Segel
Spürst du die Zahl und ihre hohe Kraft;
Des Liedes Rhythmus und der Fall der Töne,
Sie sind begriffen in dem Maaß der Zahl,
Und alles Große, Herrliche und Schöne
Begrenzet und bestimmt sich durch die Zahl;
Das Weltall selbst mit jenen tausend Flammen,
Die wunderbar am Sternenhimmel glühn,
Die Zahl fügt es mit ew’ger Kraft zusammen,
Läßt Alles die gewies’nen Bahnen ziehn.
Drum acht’ es nicht gering, der Zahl zu dienen!
Du dienst damit dem Urprinzip der Welt,
Das Alles bindet wie mit eh’rnen Schienen,
Das Alles regelt, ordnet und erhält!“

Ich lauschte noch nach diesen hohen Worten. –
Sie tönten wie vom Himmel mir herab;
Da war es ruhig in mir selbst geworden,
Und um mich tiefe Stille, wie im Grab.
Mir aber war’s, als wär’ ich neu geboren;
Erstaunt sah ich mich um im ganzen Raum,
Und fast schien Alles nur ein wüster Traum;
Doch jedes Wort klang mir noch in die Ohren.

Am Morgen zum gewohnten Tagewerke
Kam ich und schlug das große Hauptbuch auf. –
Mit scheuem Blick, ob ich noch etwas merke
Von meiner Zahlen grauenvollem Lauf.
Doch ruhig standen sie in ihrer Reihe,
Und sah’n vertraut und liebevoll mich an;
Mir war’s, als wär’ mit einer höhern Weihe
Mir des Berufes Arbeit angethan.
Und mit gestärkter Kraft und frischern Sinnen
Konnt’ ich auf’s Neu’ mein Tagewerk beginnen.
Konnt’ ich auf’s Neu’ mein Tagewerk beginnen.G. H–r.