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Die Wahrsagerin

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Textdaten
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Autor: Alfred Pförtner
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Titel: Die Wahrsagerin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 217–222
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Wahrsagerin.


Von Alfred Pförtner.


An einem trüben Februarmorgen vorigen Jahres ward ich, da meine Kopfwunde ziemlich geheilt war, aus dem Mainzer Lazareth entlassen und begab mich mit militärischem Urlaub in meine Heimath Berlin, um meinen noch angegriffenen Körper mütterlicher Pflege anzuvertrauen und neue Kräfte zu sammeln, ehe ich zum Regimente nach Frankreich zurückkehrte. Der Hausarzt verordnete mir vor allen Dingen Ruhe und gestattete mir täglich nur eine Stunde auszugehn. Das behagte mir in den ersten Tagen ganz wohl; dann aber begann mich die Langeweile zu plagen, zumal die meisten meiner Bekannten jenseit des Rheins waren, und also fast jeder Freundesbesuch, der mir die Zeit hätte kürzen können, ausblieb. Mißmuthig lag ich eines Vormittags auf dem Sopha und studirte gähnend die endlosen Beilagen der „Vossischen Zeitung“: erst die Familienanzeigen, in denen sachgemäß auch die Verlobungen, die Vermählungen, dann die Entbindungen und schließlich, weil nichts mehr übrig bleibt, die Todesfälle folgen; hieran schlossen sich die Ankündigungen öffentlicher Vergnügungen, daran die Course, Notizen über verlorene und gefundene Gegenstände, und so hatte ich mich schließlich zu den „Personen, die eine Beschäftigung suchen“ durchgearbeitet. Diese interessirten mich eigentlich am wenigsten, obwohl ich, genau genommen, selbst zu ihnen gehörte, als mein gleichgültiger Blick durch die folgende Annonce gefesselt ward: „Eine zuverlässige Wahrsagerin, die aus der Hand, aus Karten und aus Kaffeegrund prophezeit, und deren Vorherverkündigungen stets eintreffen, wohnt Rosengasse Nr. 52 zwei Treppen hoch und ist täglich von Morgens neun Uhr bis Nachmittags fünf Uhr in Geschäftsangelegenheiten zu sprechen.“ Hinterdrein folgten noch drei oder vier Inserate ähnlichen Inhalts. Lachend las ich dieselben meiner Mutter vor, die Liebessocken strickend am Fenster saß; aber sie verrieth keine Verwunderung, da ihr die Sache längst nicht mehr neu war. Sie belehrte mich vielmehr, daß seit dem Beginn des Krieges, der ja immer den Aberglauben befördere, diese neue Geschäftsbranche en vogue sei, zumal gerade die besseren oder vielmehr die wohlhabenderen Stände derselben ihre Gunst zugewandt hätten. Einzelne dieser Wahrsagerinnen erfreuten sich, versicherte meine Mutter, solchen Zuspruchs, daß oft gleichzeitig mehrere Equipagen vor ihren Häusern hielten.

Die Neugier reizte mich, und ich äußerte die Absicht, eine jener Damen zu besuchen, um mir die Zeit zu vertreiben.

„Du brauchst nicht weit zu gehen,“ erwiderte meine Mutter, „wenige Häuser von uns entfernt wohnt eine der angesehensten ihres Faches; biege um die nächste Straßenecke links und steige im dritten Hause zwei Treppen hoch: da findest Du die neue Pythia.“

Ich kleidete mich an und ging hin. Es war ein sogenanntes „herrschaftliches“ Haus, das mir der Portier auf einen Zug mit der Hausglocke öffnete. Flur und Treppen waren mit Teppichen belegt, das Geländer der letzteren von Mahagoniholz; auf den Simsen der buntfarbigen Fenster standen hohe, frischgrünende Dracänen und Farren. Als ich zwei Treppen hinaufgestiegen, zog ich die Glocke vor einem Entreezimmer, das durch eine Glaswand vom Flur abgeschlossen war; ich bemerkte nichts Auffälliges, als daß auf dem Porcellanschilde unter dem Glockenzuge kein Name geschrieben stand. Eine ältliche Dienerin, deren Gesicht mir merkwürdiger Weise bekannt erschien, ohne daß ich mich doch besinnen konnte, wo ich es gesehen, öffnete und führte mich, als ich mein Begehren ausgesprochen, in ein mäßig großes, elegant ausgestattetes Zimmer, dessen innere Einrichtung von dem gewählten Geschmack der Besitzerin zeugte. Ich hatte kaum Zeit gehabt mich genauer umzuschauen, als sich eine Seitenthür öffnete, und eine schlanke Dame von etwa dreißig Jahren in einfachem, aber modischem schwerseidenem Kleide hereintrat. Ich sah sie einen Augenblick an und – stand sprachlos vor Erstaunen. Kannte ich doch diese majestätische Gestalt, dieses feine, aristokratische Antlitz, diese großen dunklen Augen, deren seelenvollen Blick Niemand, der ihn einmal im Leben geschaut, vergessen konnte.

„Sie sind –“ stammelte ich.

„Leopoldine von Krey,“ erwiderte die Dame, über deren blasses Angesicht eine helle Röthe flog, während um den feingeschnittenen Mund der Ausdruck bittern Schmerzes zuckte. Sie warf sich in einen Fauteuil und bedeckte ihr Gesicht mit den zarten, weißen Händen, während sie tief aufathmete und schluchzte. Aber fast eben so schnell, als dieser Ausbruch inneren Leidens über sie gekommen war, ermannte sie sich, richtete sich auf und sagte, während sie sich mit dem Tuche die Augen trocknete:

„Entschuldigen Sie, Herr Assessor, die Heftigkeit meiner Bewegung, die durch Ihr plötzliches und unerwartetes Erscheinen hervorgerufen ward – bitte, nehmen Sie Platz!“

Ich setzte mich ihr gegenüber; ehe ich aber noch fragen konnte, begann sie gefaßt folgendermaßen:

„Ja, ich bin Leopoldine von Krey, jene einst so glücklich gepriesene, so hochgefeierte Tochter des Commerzienrathes Pohl, [218] bin die einst vielbeneidete Gemahlin des Bergraths von Krey, bin die – Wahrsagerin, die Sie suchen! Kaum zwei Winter sind verflossen, seit Sie in Köln in meinen Salons die fashionable Welt zu Concerten und Bällen versammelt sahen; Hunderte umdrängten mich und trachteten nach einem freundlichen Lächeln von mir, und jetzt –“

„Aber,“ warf ich, mit Mühe nach Worten ringend, ein, „wie war diese Umwandlung Ihres Schicksals möglich? Ihr Gatte war in einträglichem Amte, wohlhabend, angesehen; Sie selbst besaßen ein beträchtliches Vermögen –“

„Mein Mann,“ erwiderte sie mit tonloser Stimme, „ist todt. Er starb im vergangenen Frühjahr und ließ mich mit zwei Kindern trostlos zurück. Am Tage nach seinem Tode ward Alles in unserer Wohnung gerichtlich versiegelt und wenige Stunden nachher erfuhr ich, daß ich – eine Bettlerin sei. Alphons, dessen unruhiges Wesen mir seit Monaten aufgefallen war, ohne daß mir die Ursache davon zum Bewußtsein gekommen wäre, hatte hoch und unglücklich gespielt: erst hatte er sein Vermögen angegriffen, darauf, als dieses verloren, das meinige. Mein guter Vater hatte ihn richtiger als ich beurtheilt und im Heirathsvertrage meine Zukunft sichern wollen; aber auf meine dringenden Bitten hatte er Abstand davon genommen, die Gütertrennung aussprechen zu lassen. Er war, wie Sie sich erinnern werden, wenige Wochen nach unserer Hochzeit gestorben; so stand ich nach dem Tode meines Mannes allein da!“

„Aber Ihre Verwandten,“ rief ich aus, „die Freunde Ihrer Familie –“

„Meine Verwandten!“ erwiderte sie bitter, „unsere Freunde! Alle zogen sich von mir zurück; kaum, daß man mich, wenn ich einen Besuch machen wollte, annahm! Sie, der vertrauteste Freund meines Mannes, hatten ein Jahr vorher schon Köln verlassen, und ich kannte Ihren Aufenthaltsort nicht. Aber selbst wenn ich Sie während der im Juli beginnenden Kriegswirren hätte ausfindig machen können, so würde ich nach den Erfahrungen, die ich in Köln gemacht, mich wohl kaum an Sie gewandt haben: ich hatte das Vertrauen zu den Menschen verloren. Wir sind Alle Egoisten!“

„Aber wie kamen Sie nach Berlin?“ fragte ich, da mir der Muth fehlte, ihr zu widersprechen.

„Als alle Angelegenheiten meines Gatten geordnet, unser Haus und die kostbare Einrichtung desselben verkauft und mit dem Erlös die letzten Schulden bezahlt waren, verließ ich Köln, wo ich bei jedem Schritte auf der Straße neuen Demüthigungen ausgesetzt war, und begab mich mit meinen Kindern hierher, da ich glaubte, hier in der Stille unbekannt leben und mir außerdem zu der unzureichenden kleinen Wittwenpension, die ich beziehe, durch eigene Thätigkeit so viel hinzu erwerben zu können, um meinen Kindern eine genügende Erziehung zu geben.“

„Da trafen Sie die Verhältnisse bei Beginn des Krieges freilich übel genug für Ihre Zwecke!“ schaltete ich ein.

„Ich versuchte zuerst mein Glück mit Clavierunterricht,“ erzählte sie weiter. „Galt ich doch für eine Meisterin auf dem Clavierflügel! Aber obwohl ich mich in einem halben Dutzend Zeitungen anpries, so fand ich doch nur wenig Beschäftigung: anfangs glaubte ich, ohne Unbescheidenheit einen Thaler für die Stunde fordern zu können; nach wenigen Wochen begnügte ich mich mit eben diesem Honorar für zwölf Stunden. Und doch mehrte sich die Zahl der Schülerinnen nicht! Darauf ging ich in ein Tapisserie- und Stickereigeschäft – Sie erinnern sich vielleicht noch meiner Fertigkeit in Arbeiten dieser Art. Man gab mir einen kaum angefangenen Teppich, den ich möglichst schnell vollenden sollte; ich arbeitete fünf Tage daran vom frühen Morgen bis zur Mitternacht, daß mir die Augen schmerzten, schließlich bekam ich anderthalben Thaler als – Lohn!“

Nach kurzer Pause fuhr sie fort: „Meine Gesundheit fing an zu leiden. Ach! übermäßige Anstrengung, Gram und Noth sind selbst schon drei böse Krankheiten, wir hatten kaum den nothdürftigsten Lebensunterhalt; da hörte ich eines Tages – es war in der Mitte des November –, daß eine Nachbarin vom ‚Wahrsagen‘ lebe und ein reichliches Auskommen habe. Armuth macht nachdenkend, und ich überlegte, daß ich vielleicht auch Talent zu diesem Geschäft haben dürfte. Da entschloß ich mich nach hartem Kampfe – um meiner Kinder willen, bei Gott! nicht um meinetwillen, Herr Assessor –, mein Glück zu versuchen und kündigte in den Zeitungen an, eine erfahrene Frau in der und der Straße verstehe die Zukunft vorherzusagen. In wenigen Tagen hatte ich so viel verdient, um eine bessere Wohnung miethen, Kleidung für mich und die Meinigen anschaffen zu können; wie Sie sehen,“ schloß sie mit Bitterkeit, „die Thorheit meiner Mitmenschen macht mich wohlhabend, meine Kinder hungern nicht mehr, und ich erfreue mich jetzt wenigstens wieder des Scheines jenes Wohlstandes, in dem ich einst wirklich lebte!“

Sie hielt inne und sah mich mit einem fragenden Blick an, gleich als erwarte sie von mir ein Urtheil über ihre Handlungsweise, und ihr Auge ward trüber und trüber, da ich nachdenkend schwieg. Was konnte ich ihr auch sagen! Mit steigendem Interesse, mit tiefem Mitgefühl hatte ich ihren Worten gelauscht; mein Herz sprach für sie, und doch durchzuckte mich eine widrige Empfindung, daß diese hochgebildete Frau auf die Thorheit der Menschen speculire, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. In diesem Augenblick trat durch die Thür eines Nebenzimmers ein kleines vierjähriges Mädchen von auffallender Schönheit und eilte schüchtern in den Schooß der Mutter, als es den Besuch erblickte. Frau von Krey drückte einen Kuß auf die Stirn des Kindes, und indem sie ihm die blonden Locken streichelte, führte sie es wieder hinaus. Dann sagte sie mit zitternder Stimme: „Nicht wahr, ich mußte für die Meinigen sorgen?“

„Gewiß, gewiß!“ stotterte ich. „Aber doch, gnädige Frau, sollte ich meinen, daß auch der beste Zweck einen Betrug, geschweige denn einen auf stets erneuten Betrug begründeten Beruf nicht zu rechtfertigen vermag!“

Bei dem Worte „Betrug“ zuckte ihr Körper zusammen. „Ist das nicht ein hartes Wort?“ sagte sie, und mit lebhafterer Stimme fuhr sie zu ihrer Vertheidigung also fort: „Bin ich denn wirklich eine Betrügerin? Erinnern Sie sich nicht mehr, wie häufig Sie in Köln an mir das Talent bewunderten, mir bei Begegnung mit Fremden aus ihren Gesichtszügen, ihrer Art sich zu bewegen, aus wenigen anscheinend gleichgültigen Aeußerungen derselben schnell ein scharfbegrenztes Bild des innern Menschen zu entwerfen, und überraschte es Sie nicht oft, wenn ich aus der äußern Erscheinung über die mir unbekannten Erlebnisse derselben Folgerungen zog? Ist es doch nur die unbegrenzte Liebe zu meinem Alphons gewesen, die mich gegen die Schwächen desselben blind machte; hundert Mal habe ich mir seit einem Jahre gesagt, daß ich bei ruhiger Beobachtung vom ersten Tage unserer Ehe an seine unglückselige Neigung zum Spiel hätte entdecken müssen! Was thue ich jetzt anders, als daß ich jenes Talent, mit dem ich einst meine Gäste unterhielt, zu meinem Vortheil benutze? – Da kommt ein siebenzehnjähriges Mädchen in eleganter Toilette, furchtsam und scheu, um mich über ihre Zukunft zu befragen. Ich weiß nach zwei Minuten, ohne daß sie selbst es mir sagt, daß sie die Tochter eines reichen Bankiers ist; ihre Aengstlichkeit sagt mir, daß sie ohne Erlaubniß des Vaters kommt; daß sie aber überhaupt kommt, verräth mir, daß sie liebt, heimlich hinter dem Rücken der Angehörigen liebt! Sie zieht den Handschuh von der kleinen zitternden Hand, um aus den Linien derselben sich wahrsagen zu lassen. Ich sage ihr, ihr Herz sei nicht mehr frei. Sie erröthet. Ich füge hinzu, der Geliebte sei ein trefflicher Mann. Sie hebt den gesenkten Blick, und ein Lächeln des Glücks, der Verklärung fliegt über ihre Züge. Ich lobe seinen edeln Charakter, der frei von jeder Selbstsucht sei. Liebt denn ein siebenzehnjähriges Mädchen jemals, ohne den Gegenstand ihrer Liebe in ihrer Phantasie mit den idealsten Eigenschaften des Herzens zu schmücken?! Schon hat sie Vertrauen zu mir gefaßt, und dreister geworden behaupte ich, ihre Angehörigen wüßten nichts von ihrer Herzensneigung und würden dieselbe, wenn sie sie erführen, mißbilligen. Und das leise Zittern ihrer Hand verräth mir, auch ohne daß sie einen Laut zur Antwort giebt, daß meine Vermuthungen mich nicht täuschen. Wenn ich ihr nun sage, sie müsse zurückhaltend und vorsichtig gegenüber dem Geliebten sein, sie solle Vertrauen zu demjenigen Mitgliede ihrer Familie haben, das sie am meisten verehre, und demselben Mittheilung machen, dann werde sie zwar in der nächsten Zeit viel Kummer haben, ihr Leben sich aber schließlich glücklich gestalten etc., – nun, wie betrüge ich denn da? oder [219] versündige ich mich etwa mit diesem vernünftigen Rathe an dem jungen Mädchen? Sie kommt zu mir, um Hoffnung zu kaufen, und ihr wird das von mir, was sie wünscht; ich verspreche ihr nicht den Besitz des Geliebten, sondern ich prophezeie ihr nur im Allgemeinen reiches Lebensglück, falls sie verständig handle und ach von thörichten und übereilten Schritten fern halte. Und habe ich nicht ein Recht, ihr dies zu versprechen? Ich sehe wahrlich nicht ein, wie in diesem meinen Thun etwas Unmoralisches liege!“

Sie schwieg, um an dem Ausdrucke meines Gesichts zu prüfen, welchen Eindruck ihre Vertheidigungsrede auf mich gemacht; doch schien sie wenig befriedigt von ihrer Wahrnehmung, denn noch ehe ich meinen Empfindungen Ausdruck gegeben, sagte sie: „Ich sehe, daß ich Sie nicht überzeugt habe.“

„Gewiß nicht!“ antwortete ich. „Ich bewundere wahrlich den Verstand, mit dem Sie verfahren, und glaube gern, daß Ihr Herz zu edel ist, um durch Ihre Prophezeiungen thörichte Wünsche und tadelnswerthe Hoffnungen bei Denen zu nähren, die Ihren – Rath in Anspruch nehmen; aber gestehen Sie sich nicht selbst ein, daß die Art und Weise, wie Sie denselben ertheilen, darauf berechnet ist, zu täuschen, indem Sie nach Manier des Charlatans mit einer angeblich geheimen Kunst prunken, da Ihre Weissagung doch nichts als das Product des gesunden Menschenverstandes ist?“

„Giebt es einen Kaufmann,“ fragte sie dagegen, „giebt es einen Arzt, der frei ist von – Charlatanerie? Ja, ich möchte fast fragen, welcher Stand ist das überhaupt? Und andererseits, wenn der Bauer den Uhrmacher oder den Telegraphisten für einen Schwarzkünstler hält, weil er ihr Thun nicht begreift und ihnen geheime Wunderkräfte zuschreibt, sind sie deshalb Charlatans?“

Ich war mir augenblicklich nicht klar darüber, wie ich diese Spitzfindigkeiten, deren Werthlosigkeit ich doch zu empfinden glaubte, zu widerlegen vermöchte, während mir zugleich meine Theilnahme für die schwergeprüfte Frau, für die mein Herz vor Jahren feurig geschlagen, verbot, sie durch meine Bedenken zu beunruhigen und auf’s Neue zu erregen, nachdem sie vielleicht mühsam die Einwendungen des eignen Herzens zur Ruhe gebracht. Deshalb brach ich, zumal ihre Mittheilungen über den Tod ihres mir nahestehenden Gatten mich tief ergriffen hatten, die Unterredung, die für beide Theile peinlich zu werden begann, ab und kehrte, nachdem ich versprochen, ihrer Aufforderung, sie bald zu besuchen, in den nächsten Tagen nachzukommen, nach Hause zurück, um meiner Mutter das seltsame Abenteuer, das ich erlebt, mitzutheilen.

Am folgenden Tage lag ich im Fieber; doch siegte meine gute Constitution schnell über den leichten Rückfall in die Krankheit, und nach Verlauf einer Woche ging ich auf’s Neue zu Frau v. Krey, um mein ihr gegebenes Versprechen zu erfüllen. Die Zwischenzeit hatte mir Muße gewährt, über mein zukünftiges Verhalten ihr gegenüber nachzudenken. Ich war entschlossen, die Erneuerung des streitigen Punktes zu vermeiden, im Uebrigen ihr in jeder Beziehung meinen Rath und, so weit es meine beschränkten Mittel mir gestatteten, meine Hülfe anzubieten. Als ich ihr gemeldet worden, kam sie mir bis zur Thür entgegen, reichte mir ihre Rechte und sagte mit sichtlicher Freude: „Wie brav ist es, daß Sie wiederkommen, da wir doch im Widerspruch mit unseren Anschauungen geschieden sind! Nun weiß ich doch, daß ich noch Ihre Achtung besitze: Sie wissen nicht, wie bang ich gewartet habe, ob auch Sie die Wittwe des Jugendfreundes aus der Liste Ihrer Bekanntschaften streichen würden.“

Ich nahm Platz, entschuldigte mein Ausbleiben durch mein Unwohlsein und versicherte, daß mein erster Ausgang seit jenem Tage, wo ich sie gesehen, mich zu ihr geführt habe. Sie wiederholte den Ausdruck ihrer Freude, und ihr Gesicht zeigte zum ersten Male hierbei nicht jenen Zug fast trotzigen Schmerzes, der mir jüngst einen so tiefen Eindruck gemacht hatte. Dann fragte sie nach meiner Wunde, meinen Erlebnissen im Felde, und ich mußte ihr viel erzählen. Als ich geendet, lenkte sich das Gespräch auf ihre letzten Tage in Köln, und die Zeit verrann mir bei der geistreichen Frau so schnell, daß ich, als ich nach der Uhr gesehen, erschreckt aufsprang und um Verzeihung für die lange Dauer meines Besuches bat.

„Aber Sie stören mich ja nicht,“ erwiderte sie, „denn es ist jetzt nicht gerade die Zeit, wo meine geschäftlichen Constitutionen stattfinden; bleiben Sie noch einen Augenblick, und ich erzähle Ihnen ein kleines Abenteuer, das ich vor drei bis vier Tagen gehabt.“

Ich nahm wieder Platz und sie begann:

„Es war um die Visitenstunde Nachmittags, als meine alte Dienerin, die mich schon als Kind gepflegt und auch in der Zeit der höchsten Bedrängniß in treuer Anhänglichkeit nicht verlassen hat, mir einen Rittergutsbesitzer Bärwald meldete, der die ‚Wahrsagerin‘ zu sprechen wünschte. Ich ging, nachdem die Lampe angezündet, aus dem Kinderzimmer hier herein und fand einen etwas sonderbaren Herrn vor, der, wie es schien, von einem stattlichen Diner kam, so daß ich in einem Anfluge von Besorgniß die Thür zum Nebenzimmer nicht schloß, um nöthigen Falles rufen zu können. Aber meine Aengstlichkeit war unbegründet, denn mein Anblick, den sich der gute Pommer wohl ganz anders vorgestellt hatte, verblüffte ihn dermaßen, daß er selbst gänzlich außer Fassung gerieth und kaum im Stande war, seinen Wünschen in zusammenhängenden Worten Ausdruck zu geben. Doch verstand ich so viel, daß er, der seit mehreren Jahren die Residenz nicht besucht, auf seinem einige Meilen von Stolpe gelegenen Gute in der Zeitung meine Annonce gelesen und, da seine Vorfahren stets viel von Prophezeiungen gehalten, sich entschlossen habe, hierher zu reisen, um sich von mir Auskunft über den günstigen oder ungünstigen Erfolg eines für ihn außerordentlich wichtigen Unternehmens zu holen. Ich gerieth in die peinlichste Verlegenheit. Dieser einfache, aber offenbar keineswegs natürlichen Scharfsinnes entbehrende Mann verlangte keine allgemein gehaltene Prophezeiung, sondern eine kurze und bestimmte Antwort auf eine Frage, die er mitzutheilen sich auf’s Sorgsamste hütete. ‚Denn,‘ sagte er, ‚sind Sie eine richtige Prophetin, so wissen Sie die Frage, um die es sich handelt, auch ohne daß ich sie Ihnen sage.‘

In meinem Herzen gab ich ihm, der an Einsicht so viele vornehme Größen der Residenz übertraf, vollkommen Recht, und da ich es nicht über mich gewinnen konnte, auf’s Gerathewohl hin ihm ein Ja oder Nein zu antworten, das ihn möglicher Weise für die Zeit seines Lebens unglücklich machen konnte, so war ich nahe daran, aus der Rolle zu fallen und auf die Gefahr hin, von ihm verspottet zu werden, meine Unkenntniß der Zukunft einzugestehen, als mir mein altes Talent zur Hülfe kam, und ich, während ich anscheinend seine Hand studirte, folgende Betrachtungen anstellte. Dieser Mann, der etwa vierzig Jahre zählt und, abgesehen von einer gewissen ländlichen Schwerfälligkeit und dem Mangel großstädtischer Tournüre, in Nichts den wohlhabenden und gebildeten Menschen vermissen läßt, der die Gegenstände, die in seinem Gesichtskreise liegen, klar und scharfsinnig beurtheilt, wird niemals so thöricht sein, die ungewohnte Reise in die Hauptstadt zu unternehmen, um sich über Angelegenheiten, die seinen landwirthschaftlichen Beruf oder ein industrielles Unternehmen betreffen, wahrsagen zu lassen. Denn über Pläne, die auf ersteren Bezug haben, zu urtheilen, ist er selbst Mannes genug, und auf letzteren läßt er sich, wenn er nicht fähig ist, ihre Rentabilität selbst zu prüfen, nicht ein: dazu ist er zu klug. Es handelt sich mithin bei Herrn Bärwald nicht um ein Geschäft, sondern um eine Familienangelegenheit wichtigster Art. Ist er aber verheirathet oder nicht? Er trägt keinen Trauring; aber dies Zeichen kann trügerisch sein, selbst bei einem pommerschen Gutsbesitzer. Aber er ist scheu und unbeholfen mir gegenüber; er hat also wenig oder keinen Umgang mit Damen. Der Anhängsel an seinem Ueberzieher ist abgerissen, ein kleines Stückchen ragt über den Kragen heraus. Das kann freilich erst heute im Hôtel geschehen sein, so daß die Frau es noch nicht hat repariren können. Das Stückchen Chemisette, das die Weste blicken läßt, ist fein und kostbar, aber nicht weißgebleicht; es ist kein Zweifel: seinem Hause mangelt die Hausfrau. Er besitzt etwas Embonpoint, liebt also die Bequemlichkeit; nichts desto weniger sitzt er kerzengerade mir gegenüber auf dem Stuhle, ohne sich anzulehnen: Herr Bärwald ist also nie verheirathet gewesen, denn verheirathete Männer lassen sich meist in diesem Punkte den Damen gegenüber gehen, Herr Bärwald ist Junggeselle.

Diese Gedanken gingen mir im Fluge durch den Kopf; ich überlegte weiter. Will er einen Neffen adoptiren, eine Schwester, Cousine oder verwittwete Schwägerin in’s Haus nehmen? will er heirathen? Herr Bärwald hat sich heute, obwohl es nicht regnet, einen feingeschnitzten Regenschirm gekauft, denn die kleine [220] Marke mit der Preisnotirung sitzt noch daran; der Hut ist gleichfalls neu; er kommt vom Friseur, denn das Haar ist kurz verschnitten und auf dem Rockärmel liegen noch zwei Härchen; und siehe da, nachdenklich streicht er mit der Hand längs der Wange: ei, mein lieber Herr Bärwald, Sie haben bisher einen Vollbart getragen, den Sie sich nachdenklich zu streichen pflegten; Sie haben sich den Vollbart abschneiden lassen – den Vollbart, den schönen, leider wohl etwas struppigen Vollbart: das thut kein Rittergutsbesitzer, wenn er nicht eine Passion für Zahnschmerzen hat, es sei denn, er gehe auf Freiersfüßen; mein Herr Bärwald, Sie wollen wissen, ob Sie heirathen sollen. Das ist in der That eine kritische Frage, besonders wenn man vierzig Jahr alt ist, wo die Junggesellen anfangen, ein gewisses Mißtrauen gegen ihre Anlage zu guten Ehemännern zu fassen. Und da Sie trotz Ihrer Klugheit hierüber nicht in’s Klare kommen können, so machen Sie es wie viele Männer von Geist, die an keinen Gott, aber an Gespenster glauben, Sie werfen sich dem Fatalismus in die Arme und erinnern sich rechtzeitig, daß Ihre Vorfahren bei wichtigen Gelegenheiten Zigeunerinnen und andere Hexen befragt haben. Ich hörte nach diesen Resultaten meines Nachsinnens mit der Betrachtung seiner breiten, wohlgenährten Hand auf und sprach mit strengem Ernst:

‚Nur bei vollständigem gegenseitigen Vertrauen und festem Glauben an das glückliche Gedeihen des Vorsatzes kann er zur That, die Segen bringt, werden.‘

Er schwieg einen Moment nachdenklich; dann sagte er: ‚Ich habe um ein Ja oder Nein gebeten.‘

‚Aber das Orakel antwortet nicht mehr und nichts Anderes,‘ erwiderte ich und wiederholte meinen Ausspruch.

Herr Bärwald wiegte den Kopf hin und her, dann meinte er: ‚Dunkel wie der delphische Spruch in Jacobs’ griechischem Lesebuch, den ich als Quartaner übersetzt habe. Aber ’s ist richtig: gegenseitiges Vertrauen – fester Glaube! da muß ich doch selber entscheiden, ob das da ist.‘

Damit beruhigte er sich und empfahl sich mit einigen Dankworten, nachdem er in zartfühlender Weise, die ich ihm kaum zugetraut, ein reiches Honorar heimlich auf die Sophalehne gelegt hatte.“

Als Frau von Krey so weit erzählt hatte, unterbrach ich ihren Bericht und rief: „Bewunderungswürdig, gnädige Frau! wahrlich, Ihr Scharfsinn und Ihre Beobachtungsgabe ist beneidenswerth; und ich werde bei ernster Veranlassung nicht unterlassen, Sie um Ihre Prophezeiung zu bitten!“

Mit feinem Lächeln erwiderte sie: „Wie? Sie tugendhafter Mann wollen mich selbst zum Betruge, zur Ausübung meines auf stets erneutem Betruge basirenden Berufes auffordern? Doch – lassen wir das: hören Sie weiter! Am folgenden Tage, zur selbigen Stunde, ja ich könnte fast sagen, zu derselben Minute, erschien Herr Bärwald auf’s Neue. Diese Pünktlichkeit gefiel mir; auf solche Menschen kann man sich in jeder Beziehung verlassen. Er redete mich mit dem Titel ‚gnädige Frau‘ an, während er mich Tages vorher ‚Madame‘ genannt hatte, und ich schloß daraus, daß ihm mein Orakelspruch gefallen habe und ich in seiner Achtung gestiegen sei. Seine Worte bestätigten diese Voraussetzung.

‚Sie haben mir,‘ sagte er, ‚gestern eine Antwort gegeben, deren Werth ich, je länger ich darüber nachdenke, um so mehr erkenne und die mich bereits in der fraglichen Angelegenheit zu einer bestimmten Entscheidung geführt hat. Ich hätte mich also heute Morgen getrost auf den Zug setzen können, um auf der Stettiner Bahn nach Hause zurückfahren zu können. Aber es ist merkwürdig, daß mir jede Neigung dazu fehlte; ich hatte das Bedürfniß, Sie noch einmal zu sprechen, um noch eine Frage an Sie zu richten.‘

Ich machte ihm eine leichte Verbeugung und wartete, daß er mir dieselbe mittheilen sollte. Aber – und Sie werden mir zugestehen, Herr Assessor, bei einem Bärwald ist das sehr merkwürdig – er stellte diese Frage nicht, sondern fing im Gegentheil an zu plaudern, zuerst von seinem Aufenthalte in Berlin, dann von seiner Heimath. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Vergaß er denn ganz, daß er nicht einer Dame von Stande eine Visite machte, sondern bei der Wahrsagerin, der Hexe saß? Und als nach einer Stunde ein neuer Besuch gemeldet wurde, stand er eilig auf, hat wegen seines längern Verweilens um Entschuldigung, versprach wiederzukommen, um seine Frage zu stellen, und – fort war er.“

„Sonderbar!“ rief ich aus. „Und ist er wiedergekommen?“

„Gestern, genau um dieselbe Zeit,“ erwiderte Frau v. Krey. „Und er hat wieder ganz allerliebst geplaudert, mir mit prächtigem Humor von seiner Junggesellenwirthschaft und dem gemüthlichen Verkehr mit den Nachbarn und seiner Studentenzeit – er ist eine Zeitlang in Bonn gewesen – erzählt, so daß ich mich trefflich unterhalten habe. Aber die Frage hat er auch gestern nicht vorgebracht.“

Sie hatte den letzten Satz kaum beendet, als die Dienerin die Thür öffnete und einen Besuch meldete: „Herr Rittergutsbesitzer Bärwald!“

„Lupus in fabula,“ dachte ich, „der kommt wie gerufen.“ Ich wollte gehen; Frau v. Krey aber bat mich, noch zu bleiben.

„Treten Sie, bitte, in’s Nebenzimmer; ich werde die Thür nicht ganz schließen. Es wäre mir lieb, wenn Sie ihn sähen. Sie brauchen nicht zu fürchten, dort lange verharren zu müssen, denn ich werde ihn heute nicht lange behalten.“

Ich folgte ihrem Wunsche und sah durch die Thürspalte einen Mann eintreten, der in der That durch seine Erscheinung Interesse erregen konnte. Er war von mehr als Mittelgröße und von breiten Schultern. Zu dem kräftigen Gliederbau paßte der große Kopf mit dem gebräunten Antlitz und den klaren, munteren, lichtgrauen Augen, über denen sich struppige Brauen wölbten. Soweit war die Erscheinung der Typus eines kräftigen, kerngesunden Landwirths und ließ auf eine tüchtige, derbe innere Natur schließen, die die reale Welt mit kluger Umsicht anschaut und sich in ihr so wohl fühlt, daß sie keinen Hang nach Beschäftigung mit idealen Aufgaben empfindet und selbst die für feiner organisirte Naturen unentbehrliche Erholung bei Kunstgenüssen und wissenschaftlicher Lectüre verschmäht. Betrachtete man nun aber die Züge dieses Antlitzes genauer, so bemerkte man mit Verwunderung, daß weder der schmalen, leicht gebogenen Nase die Feinheit mangele, noch den leicht geschwungenen Lippen jene leise eingeprägten, ausdrucksvollen Linien, welche zarte Empfänglichkeit selbst für schwächere seelische Eindrücke und jenen seltenen Humor verrathen, den einzig und allein eine durch selbstständiges Denken erworbene, tiefere Lebensauffassung zu verleihen vermag. Und diesem steinern Ausdrucke des Gesichts entsprach die hohe, gewölbte Stirn, die denn doch noch auf ganz andere Gedankenkreis hinter sich schließen ließ, als die eines einfachen Landwirths zu sein pflegen. Herr Bärwald war jedenfalls, abgesehen von seiner gutmüthigen Tüchtigkeit, nebenbei ein Original, und ich begriff leicht, wie gerade diese Persönlichkeit auf die menschenverachtende, leidengeprüfte Frau v. Krey einen offenbar nicht unbedeutenden Eindruck hatte hervorbringen können.

Er nahm auf die Aufforderung der Letztern schon fast wie ein alter Bekannter Platz und zwar in der Weise, daß ihm deutlich anzumerken war, wie wohl er sich auf diesem Platze fühlte. Mochte er nun die Absicht haben, nach Art seiner beiden letzten Besuche die Unterhaltung zu führen, oder nicht, Frau v. Krey kam ihm, der noch immer etwas schwerfällig und unbeholfen erschien, kurz zuvor, indem sie sagte: „Herr Bärwald, Sie wollten mir noch eine Frage vorlegen; darf ich bitten, dieselbe zu stellen?“

Er ward sehr verlegen, der gute Herr. „Ja wohl,“ stotterte er, „ja wohl; deshalb komme ich ja – natürlich!“ Aber dieses „natürlich“ klang höchst unnatürlich, und wenn ich mich nicht völlig getäuscht, so möchte ich behaupten, daß eine leise Röthe über sein Gesicht flog. Er empfand wohl selbst den komischen Eindruck, den er in diesem Augenblicke machte, denn um seine Mundwinkel zuckte es wie leiser Spott über sich selbst, als er halblaut vor sich hinmurmelte: „Ja, fragen, wenn ich nur wüßte, wie?“ Dann besann er sich kurze Zeit, rückte etwas unruhig den Körper auf dem Stuhle zurecht und begann darauf: „Gnädige Frau, Sie sind klug“ (in Frau v. Krey’s Auge blitzte es wie ein Gefühl freudiger Genugthuung). „Sie sind klug und einsichtsvoll. Sie haben mich kennen gelernt, und ich habe mich Ihnen gegenüber gezeigt, wie ich bin, denn Sie haben mir tiefen Respect eingeflößt. Sehen Sie, bitte, nicht in meine Hand; sehen Sie mir in’s Gesicht, sehen Sie den ganzen Menschen an, und dann antworten Sie mir ehrlich und offen auf die Frage, die ich Ihnen heute, nachdem ich in Folge Ihres neulichen Ausspruchs [221] meine beabsichtigte Verlobung mit der siebenzehnjährigen Tochter eines meiner Nachbarn und Freunde aufgegeben, vortragen werde. Also offen und ehrlich, Frau Priesterin des Apollo: bin ich überhaupt dazu bestimmt und fähig, ein ordentlicher Ehemann zu werden, oder nicht?“

Meine Ohren hörten gespannt auf diese Worte des Herrn Bärwald; meine Augen aber ruhten unverweilt auf Frau v. Krey’s Antlitz, das trotz aller Selbstbeherrschung, die diese Dame in so hohem Maße besaß, der Reihe nach die Gefühle der Verwunderung, der Genugthuung und der holdesten Befangenheit wiederspiegelte. Arme Pythia! Jetzt nimm all Deinen liebenswürdigen Scharfsinn, alle Deine bewunderungswürdige Beobachtungsgabe und Menschenkenntniß zusammen; da wird eine Frage gestellt, wo Du nicht blos den Fragenden, nein, auch Dich beobachten und Dein Inneres erforschen mußt, denn die Antwort berührt nicht blos seine, sondern auch Deine ganze Zukunft. Wohl hast Du nicht geahnt, als Du im Vertrauen auf Deine geistige Kraft diesen gefährlichen Beruf ergriffst, daß Du nun schließlich Dir selbst Glück oder Unglück Deines Lebens prophezeien müssest! Wie sehr setzt Dich diese Frage schon in [222] Verlegenheit; wie röthet Dir jetzt schon echt weibliche Scham das bleiche Antlitz, und doch – wenn er wenigstens nur weitersprechen wollte! wenn Du nur nicht antworten müßtest!

Frau v. Krey hatte den Blick zur Erde geheftet; erst nach langer Pause hob sie ihn langsam und schaute mit dem großen, offenen Auge dem ängstlich auf Antwort harrenden Manne in’s Gesicht. Und langsam und ernst, klar und rein wie Glockenton klangen auf’s Neue die Worte aus ihrem Munde, die er schon einmal vernommen hatte: „Nur bei vollständigem gegenseitigen Vertrauen und festen Glauben an das glückliche Gedeihen des Vorsatzes kann er zur That, die Segen bringt, werden.“

Ich sah, wie Herr Bärwald ihr Hand ergriff; wollte er die Rollen vertauschen und jetzt ihr weissagen? und Frau v. Krey ließ ihm diese Hand und hörte, halb vorgebeugt, mit niedergeschlagenen Augen auf die Worte, die er mit leiser Stimme, aber tief erregtem Gefühl ihr zuflüsterte. Da schlich ich mich lautlosen Schrittes durch das Zimmer, in dem ich mich befand, zu der mir gegenüberliegenden Thür, öffnete sie unhörbar und eilte durch die Küche zum Ausgang der Wohnung, um das Paar allein zu lassen.

Ich glaube, er hat noch viel gefragt und sie noch viel geantwortet! Warum sollte ich auch das Ende abwarten? Der Geist des Wahrsagens war nun auch über mich gekommen, und ich konnte das Ende selber prophezeien.

Etwa acht Tage später erhielt ich von Frau v. Krey ein Billet, worin sie mir ihre Verlobung mit dem Rittergutsbesitzer Bärwald mittheilte und mich aufforderte, sie in ihrer neuen Wohnung, die sie noch für die kurze Zeit ihres Aufenthalts in Berlin gemiethet, zu besuchen. Ich eilte zu ihr und ward von ihr nicht minder mit Freundlichkeit als mit heiterem Frohsinn empfangen. Sie erzählte mir, wie sie ihrem Verlobten an jenem Tage ihre ganzem Lebensgeschichte mitgetheilt und, als er trotzdem um ihre Hand angehalten, ihm nicht die Besorgniß verhehlt, daß irgend einmal der Zufall ihren bisherigen seltsamen Beruf, zu dem die Noth sie gezwungen, in den Kreisen seines Umgangs zur Sprache bringen und ihn in Verlegenheit setzen könnte. Er hatte ihr aber lachend geantwortet, daß er selbst zuerst es erzählen werde, daß er eine Prophetin geheirathet, und wenn dann die Leute nicht aus Respect vor der Rache der Hexe sich hüten würden, sie zu lästern, so sei er der Mann dazu, ihr bei aller Welt Achtung zu verschaffen. Gleich darauf erschien ihr Bräutigam; sie stellte mich ihm vor, und es entspann sich schnell zwischen uns eine lebhafte Unterhaltung, in der er sich als einen geist- und kenntnisreichen Mann von vielem und geübtem Nachdenken offenbarte, der auf seinem fernen pommerschen Herrensitz die langen Mußestunden des Winters mit eifrigen literarischen Studien verkürzte und für die politischen Aufgaben der Zeit nicht minder als für die Entwicklung der Naturwissenschaften reges Interesse zeigte. Um so unbegreiflicher erschien es mir, daß ein Mann von solcher Bildung habe nach Berlin reisen können, um eine Wahrsagerin über seine Verlobung mit einem Backfisch um Rath zu fragen, und ich konnte nicht umhin, ihm dies zu sagen und ihn zu bitten, mir das Räthsel zu lösen.

Er antwortete mir unbefangen, er fände dabei eigentlich nichts Wunderbares. „Sie haben,“ sagte er, „sicherlich oft, wenn Sie sich in der unbehaglichen Lage befanden, einen Schritt zu thun, der Ihnen vielfache Vortheile bot, über dessen Richtigkeit Sie aber trotzdem Zweifel hegten, die Erfahrung gemacht, daß kein sicheres Mittel denselben zu prüfen existirt, als daß man sich auf Reisen unter fremde Menschen begiebt und dann aus der Ferne, gleichsam aus der Vogelperspective, die Dinge betrachtet, über die man in der Nähe keinen richtigen Ueberblick gewinnen konnte. Dies war wohl auch bei mir der Hauptgrund für meine Reise, und ich war kaum vierundzwanzig Stunden in Berlin gewesen, als ich bereits Abneigung gegen mein ursprüngliches Heirathsproject empfand, und diese Abneigung vermehrte sich nicht nur durch meine Bekanntschaft mit Frau v. Krey, sondern auch durch den trefflichen Orakelspruch, durch den mir das Mißliche meines ursprünglichen Planes klar wurde. Fragen Sie nun aber, warum ich mich entschloß, hier zu einer Wahrsagerin meine Zuflucht zu nehmen, so war das nichts Anderes, als was so Viele in der Unentschlossenheit thun, wenn sie die Knöpfe auf Ja oder Nein abzählen. In Wahrheit wirft man sich gar nicht damit dem Fatalismus in die Arme, sondern folgt seiner Weisung nur in dem Falle, daß dieselbe mit unserm stillen, uns selbst noch unklaren Wunsche übereinstimmt.“

„Ei, ei!“ sagte Frau v. Krey lächelnd und mit dem Finger drohend zu ihrem Bräutigam. „Da scheint mir ja das unbedingte Vertrauen und der feste Glaube an meine Befähigung schon vor der Hochzeit geschwunden zu sein.“

Herr Bärwald ergriff ihre Hand, küßte sie und erwiderte: „An Ihre übernatürliche Prophetengabe habe ich nie geglaubt und glaube ich auch jetzt nicht, aber mein unbedingtes Vertrauen auf Sie und meinen festen Glauben, daß Sie mich glücklich machen werden, will ich und werde ich nicht aufgeben.“