Die Wahl des Berufes
Die Wahl des Berufes.
Mit Sehnsucht harren alljährlich Tausende lebhafter Kinder dem bedeutungsvollen Tage entgegen, der das Kindesalter äußerlich abschließt und den Jüngling, die Jungfrau in neue Pflichten und neue Rechte eintreten läßt. Die Kindheit ist unwiederbringlich dahin, und oft erst nach Jahren, wenn der rauhe Ernst des Lebens die Seelen erschüttert hat, fällt der Blick zurück in das Paradies der Jugend und der Wunsch steigt aus dem Herzen: „wenn ich ein Kind noch wär’“ –. Dann ist vielfach eine Lebensbahn durchmessen, die auf Irrwege und an den Abgrund geführt hat und die haltlos war vom ersten Augenblicke an – haltlos darum, weil der rechte Führer fehlte, der den Unerfahrenen hinausgeleitete auf den nicht immer leichten Weg der Pflicht und ihm das Ende desselben zeigte: ein erstrebenswerthes, festes Ziel. Im Deutschen Reiche verlassen jährlich etwa 950 000 Kinder die Schule, und von diesen, die alle hoffnungsfreudig in das Leben treten, ziehen Tausende nichts als das Los verfehlter Existenzen – Tausende, die, in den rechten Beruf eingeführt, Tüchtiges zu leisten vermocht hätten. Es ist gewiß, daß nur ernstes Streben vom Erfolg gekrönt wird, ebenso gewiß ist aber auch, daß nur ein klar vorgestecktes Ziel aller Hindernisse ungeachtet zu erreichen ist. Von diesem Ziele, welches den herangewachsenen Knaben und Mädchen vorgesteckt wird, von der Wahl des Berufes, in dem sie Befriedigung und Auskommen finden sollen, hängt Wohl und Wehe ihres ganzen Lebens ab, und kein Fehlgriff rächt sich gleich bitter wie ein solcher am Scheidewege zwischen Schule und Beruf.
Aus diesem Grunde ist es erklärlich, wenn der Wahl des Berufes eine immer höhere Wichtigkeit beigemessen wird und einsichtige Männer und Frauen in Rede und Schrift darauf hinzuwirken suchen, daß die Entscheidung darüber nur nach den sorgfältigsten Erwägungen getroffen werde. Aber viele dieser Reden verhallen ungehört, und die meisten der auf die Berufswahl bezüglichen Schriften finden nicht die nöthige Zahl von Lesern. Was soll aus dem Knaben, dem Mädchen werden? ist die Frage, die um Ostern nach wie vor wiederkehrt, und diejenigen, welche über das Schicksal der ihnen Anvertrauten berathen, sind selbst der Berathung am meisten bedürftig. Das Nächstliegende wird von ihnen nicht selten übersehen, und dafür werden allerlei Pläne entworfen, die bei jeder ernsten Prüfung sofort gleich Kartenhäusern in sich zusammenfallen müssen. Was soll der Junge werden? Handwerker? Bewahre, dafür ist er „zu gut“, „zu begabt“! Kaufmann? Das geht nicht, der Kaufmannsberuf ist überfüllt. Gelehrter? Nein, auch das nicht, die Studien erfordern zu beträchtliche Mittel, und die Laufbahn des Juristen, des Mediziners etc. ist eine zu langsame. Seemann? Die Mutter würde sich zu Tode ängstigen. Schließlich langt man wieder beim Handwerker an und sträubt sich gegen den Gedanken aufs neue.
Hier nun ist ein ernstes Wort am Platze an alle, die vernünftigen Erwägungen zugänglich sind. Wir reden deshalb nicht zu denjenigen Männern und Frauen, welche von den Vorurtheilen ihres eigenen Standes so völlig in Bann geschlagen sind, daß sie auf den „Handwerker“ mit Nichtachtung herabsehen und die Erlernung eines gewerblichen Berufes [275] mit der Phrase „Unser Junge kann doch kein Handwerker werden!“ oder mit der anderen: „Unser Junge soll es besser haben als wir“ glauben weit von sich weisen zu müssen; unsere Darlegungen gelten denjenigen Einsichtigen, welchen die Zukunft nicht nur durch die Brille des Vorurtheils schätzenswerth erscheint.
Wir sehen von der Militär-, Seemanns- und Gelehrtenlaufbahn, vom Beamten- und Kaufmannsstande ab und wenden uns einzig denjenigen zahlreichen Berufsarten zu, welche man zusammenfassend als die gewerblichen bezeichnen kann und die seit langen Jahren in demselben Maße unterschätzt worden sind, wie die vorerwähnten Berufsarten entschieden überschätzt. Die Zeiten, in denen das Sprichwort: „Handwerk hat goldenen Boden“ in hohen Ehren stand, scheinen ja leider vorüber zu sein; aber der goldene Boden selbst ist unzweifelhaft geblieben, und tüchtige Handwerker können auch heute noch, ja gerade heute sich zu wirthschaftlichen und socialen Stellungen emporarbeiten, welche denen vieler Kaufleute und Beamten sowohl bezüglich des Ansehens wie namentlich hinsichtlich der Selbständigkeit entschieden vorzuziehen sind. Handwerk und Gewerbe ehren und nähren auch heute den Mann, und gerade die gewerblichen Berufe, die noch nicht an Ueberfüllung leiden, bieten ergiebige Arbeitsfelder für zielbewußtes Vorwärtsstreben und tüchtige Leistungen.
Vor allein ist kein Knabe „zu begabt“, um ein Handwerk zu erlernen. Je begabter er ist, um so Tüchtigeres wird er in seinem Fache leisten, um so eher das Ziel, welches ihm vorgesteckt ist, erreichen. Nicht darum also sollte es sich handeln, ob ein Knabe, dem durch Neigung oder Mittel ein anderer Beruf nicht vorgezeichnet erscheint, ein Gewerbe erlernen, sondern darum, welches er erwählen soll, und hier ist allen Berufenen und Wohlmeinenden Gelegenheit geboten, mit Rath und That zur Ermittelung des Richtigen Beistand zu leisten! – Wir konnten uns nicht die Aufgabe stellen, hier eine größere Auswahl der zahlreichen gewerblichen Berufsarten näher zu besprechen; aber einige der wichtigsten Gesichtspunkte, welche bei der Wahl von entscheidendem Einflüsse sein sollten, möchten wir kurz andeuten und dann auf einige wenige Schriften verweisen, welche für die weitere Orientirung mit Nutzen herangezogen werden können.
In erster Linie wichtig für die Wahl des Berufes ist die Neigung des Knaben selbst, die sich vielfach schon früh deutlich oder in kleinen charakteristischen Zügen verräth. „Was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten,“ sagt schon das Sprichwort, und die Jugendgeschichten vieler bedeutender Männer bestätigen die Wahrheit vollauf. Ist aber eine besondere Neigung nicht vorhanden, oder doch nicht erkennbar, so bietet wieder der jeweilige Grad von Intelligenz Fingerzeige und die Frage ist dann: was kann der Knabe werden? Der eine Beruf erfordert wesentlich höhere Intelligenz als der andere.
Von großer Wichtigkeit ist auch die Berücksichtigung der physischen Beanlagung des Lehrlings, da davon, ob diese genügend, die Erreichung des vorgesteckten Endzieles, wenn nicht der Meisterschaft und Selbständigkeit, so doch der ihm eine gesicherte Lebensstellung verschaffenden Leistungsfähigkeit in seinem Fache abhängt. Thöricht wäre es, einen schwächlichen Knaben dem Schmiede- oder Bauhandwerk zuzuführen oder einen Farbenblinden Maler und einen notorisch Kurzsichtigen Uhrmacher, Nadler oder Kupferstecher werden zu lassen. Auch die Vermögensverhältnisse sollten nicht übersehen werden, keineswegs dann, wenn Selbständigkeit in einem Berufe von vornherein angestrebt wird, da diese in vielen Fällen erhebliche Mittel zur Voraussetzung hat, wie z. B. bei Brauern, Kürschnern, Metallgießern, Wagenbauern, Gold- und Silberarbeitern etc., während bei anderen Berufen, wie dem der Bäcker, Drechsler, Färber, Sattler etc. auch ein kleineres Kapital für den Anfang genügt.
Nicht weniger als 107 verschiedene gewerbliche Berufsarten bespricht Bezirksschuldirektor Emst Rudolph in Chemnitz in seinem übersichtlich zusammengestellten Buche „Die Berufswahl unserer Söhne“ (Wittenberg, R. Herrosés Verlag), das schon darum der Beachtung dringend zu empfehlen ist und jedenfalls in vielen Fällen ein ausschlaggebender Berather werden kann.
Bei weitem schwieriger als bei den Söhnen gestaltet sich die Berufswahl bei den Töchtern, zumal auch hier ein Vorurtheil zu bekämpfen ist, das immer bedauerlicher um sich greift. Wer wagt heute noch das Wort dienen auszusprechen und von einer „gebildeten Tochter“ zu verlangen, sie solle in eine dienende Stellung eintreten! Daß das dienende Mädchen durch die häuslichen Arbeiten auf seine künftige Stellung als Hausfrau vorbereitet wird, findet meist nicht mehr die geringste Beachtung, und daß die Arbeiten im häuslichen Kreise dem Weibe am angemessensten sein sollten, ist lange ein überwundener Standpunkt!
Auch bei der Berufswahl der Mädchen sind natürlich Neigung, Bildung, körperliche Fähigkeit und etwaige pekuniäre Mittel Faktoren, mit denen gerechnet werden muß. Vor allem sollte aber der Grundsatz, daß das Mädchen naturgemäß in die Häuslichkeit gehört, wieder in erhöhtem Maße zur Geltung gelangen. Läßt sich indeß die Wahl eines Berufes, dessen Schwerpunkt außerhalb des Hauses liegt, aus maßgebenden Gründen nicht vermeiden, so wäge man auch hier die Vor- und Nachtheile der verschiedenen Berufsarten speciell für das in Frage stehende Mädchen genau ab, damit dieses in dem erkorenen Berufe dann wenigstens Erfolg habe und festen Fuß fasse. Auch hier wieder kann ein mit Sachkenntniß verfaßtes Werk: „Die Berufswahl unserer Töchter“ von A. v. Fragstein (Wittenberg, R. Herrosé) und der zweite Abschnitt: ,Was kann ein Mädchen werden?‘ in dem ebenso lehrreichen als anziehend geschriebenen Buche: „Aus der Töchterschule ins Leben“ von Amalie Baisch (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt) gute Dienste leisten.
Und noch ein viertes Büchlein, ein dünnes Heft, das für den geringen Preis von 20 Pfennigen aus dem Verlage der Gewerbeschau (Minden und Wolters) in Dresden zu beziehen ist: „Die Berathung bei der Wahl eines gewerblichen Berufes“ von Oberregierungsrath Dr. Roscher, möchten wir zum Schluß der Beachtung empfehlen. Es stellt die Bedingungen, welche bei der Wahl eines gewerblichen Berufes zu berücksichtigen sind, kurz, aber übersichtlich zusammen und bietet daneben eine sehr dankenswerthe Aufzählung alles dessen, woran bei Abfassung des Kontraktes über Eingehung und Fortführung des Lehrlingsverhältnisses zu denken ist, um jeden unliebsamen Streitfall für die Zukunft thunlichst auszuschließen. So ist in dem Vertrage festzusetzen: die Dauer der Probezeit, Dauer der Lehrzeit, Höhe und Zahlungszeit des Lehrgeldes, Beköstigung des Lehrlings, Verpflegung desselben in Erkrankungsfällen, tägliche Arbeitszeit, Beschaffung der Werkzeuge, Besuch von Fortbildungs- oder Fachschulen u. s. w., alles wichtig genug, um ebenso ernstlich erwogen zu werden wie die Wahl des Berufes selbst. –
„Vermauert ist den Sterblichen die Zukunft“, heißt es zwar in der „Braut von Messina“, aber sie kann erschlossen werden, wenn wir ein festes Ziel hineinverlegen und dieses mit Energie und Umsicht zu erreichen suchen. Dietrich Theden.