Die Vestalin
[408] Die Vestalin. (Zu unserer Kunstbeilage.) Angelika Kauffmann, die Schöpferin des Bildes, welches unsere heutige Kunstbeilage wiedergiebt, steht am Anfang einer neuen Blüte der Malerei, welche sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vorbereitete. Die Antike und die klassischen Meister der italienischen Renaissance wurden ihre Leitsterne, Winckelmann hat sie beeinflußt, und so sind ihre Bilder neben denen eines Raphael Mengs und eines Tischbein Marksteine einer neuen Epoche der Kunstgeschichte. Goethe hat sie bewundert und sein eigenes Kunstideal war ganz dem ihrigen verwandt. Als Goethe auf seiner zweiten italienischen Reise sie kennenlernte, da lebte sie in Rom, und ihr gastliches Haus diente einem anregenden Kreise von Künstlern und Gelehrten zum Mittelpunkt. Ein schicksalsreiches Leben lag hinter ihr. Geboren 1741 in Chur, wurde sie von ihrem selbst malerisch begabten Vater früh zu ihrer Ausbildung nach Italien geführt, dorthin kehrte sie nach kurzem Verweilen in der elterlichen Heimat Schwarzenberg zurück, und dort hat sie auch die letzten Jahre ihres Lebens zugebracht. Nur eine größere Unterbrechung erfuhr ihr italienischer Aufenthalt – und diese ward für sie von folgenschwerster Bedeutung. Sie siedelte im Jahre 1765 nach London über. Dort lernte sie einen Menschen kennen, der sich als ein schwedischer Graf Horn ausgab. Durch einschmeichelndes Wesen und allerlei Verführungskünste wußte er die vom englischen Hofe und von der gesamten englischen Gesellschaft bewunderte und verhätschelte Künstlerin zu einer heimlichen Ehe zu bewegen, und wenn auch das Band wieder gelöst wurde, als der Betrug an den Tag kam, so war Angelika Kauffmann doch um einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens geschädigt und ihr Gemüt tief verbittert. Sie vermählte sich später mit dem nicht eben bedeutenden, aber achtungswerten Maler Antonio Zucchi, mit welchem sie 1781 nach Italien zurückkehrte. Am 5. November 1807 starb sie zu Rom. – Die „Vestalin“, wohl das bekannteste Werk der Künstlerin, bildet heute eine Zierde der Dresdener Gemäldegalerie.