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Die Verteidigung des Vaterlandes

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Die Verteidigung des Vaterlandes
Untertitel:
aus: Mit 5 PS Seite 133-137
Herausgeber:
Auflage: 10. – 14. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Ernst Rowohlt
Drucker: Herrosé & Ziemsen
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Zyklus: ZOLLSCHRANKE UND PASSKONTROLLE
Erstdruck in: Weltbühne, 6. Oktober 1921
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[133]
Die Verteidigung des Vaterlandes

„Angora, 4. August (W.T.B.). Die große Nationalversammlung beschloß, daß alle Mitglieder der Versammlung an der Verteidigung des Vaterlandes teilnehmen sollten. Die militärischen und medizinischen Mitglieder reisen an die Front ab, während die andern mit Versorgungsangelegenheiten hinter der Front sich befassen werden.“

Das steht in zweihundert Provinzzeitungen, und der Prozentsatz der Leser, die von Angora nur wissen, das es solche Kater gibt, dürfte neunundneunzig sein. Der kluge Rest rät entweder auf Jugoslawien oder einen Balkanstaat … Und was denken alle hundert? Was sie denken sollen: „Die Verteidigung des Vaterlandes!“

Es ist durchaus nicht festgestellt, wer gegen wen den Katerstaat Angora zu verteidigen sich bemüßigt fühlt. Das ist dem Leser auch völlig gleichgültig. Wenn nur ein Vaterland verteidigt wird. Vaterländer lassen sich gern verteidigen, und die deutschen Zeitungsleser lieben das. Haben die Katermänner in Angora nun auch ihre große Zeit? Das ist recht. Und des Lesers Blick schweift in die Verlobungsanzeigen.

Wir aber, lieben Freunde, lasset uns ein wenig spintisieren.

*

„Die große Nationalversammlung beschloß …“ Die große Nationalversammlung, das große Lalula Angoras – wer mag das sein? Ich bin noch nie im Vaterland Angora gewesen – aber ich sehe sie alle vor mir: die würdigen Vollbärte, gewaschen in allen Wassern des Parlamentarismus, unentwegt treu irgendwelche Fahnen hochhaltend und nach guter alter Katersitte auf den jeweiligen Miezislaus den [134] Ersten schwörend. Die Vollbärte zittern. Fette Hände senken sich wohlwollend auf junge Schultern, Beruhigung klopfend, alles im Leben endet mit einem Arrangement. Und ich sehe die andern, die jungen, sportgebräunten Schieber mit den schwarzen Lacktollen und den französischen Stiefelchen. Laßt sie Schlachten liefern –: wir liefern Brotbeutel. Und essen Kuchen.

„Die militärischen und medizinischen Mitglieder reisen an die Front ab …“ An die Front – ja. Noli me tangere – sagte die Schwangere.

Die Militärischen also werden nah an die Front reisen und dort von Villen und Schlössern aus den andern sagen, wie sie zu sterben haben. Das ist nicht einfach. Man muß Reden zu diesem Zweck halten. „Kater Angoras! Wahrt eure heiligsten Güter! Bis zum letzten Hauch von Mann und Roß …!“ Ich sehe die tausende zusammengeprügelter Bauernjungen, die, ein wenig ängstlich, ein wenig müde vom langen Warten und ein wenig angeregt vom Anblick der vielen glänzenden Uniformen, da im Karree stehen; vor ihnen eine prachtvolle Suite und dann irgendein ER. Ein glorreicher Oberbefehlshaber, ein Präsident, ein General, was weiß ich. Knapp legt er die Hand an den blinkenden Mützenschirm. „Ich danke, meine Herren!“ Furchtlos hält der tapfere Mann die ordenübersäte Brust den photographischen Objektiven hin, die alle auf ihn gerichtet sind. Ein ff. historischer Moment –! Danke, meine Herren!

Die Medizinischen sind auch an die Front gereist. Oho! kein wilder Negerstamm ohne einen Medizinmann. Dickbäuchige Zivilärzte werden, schnaufend in der ungewohnten Uniform, an Grobheit es den aktiven Kollegen gleichzutun suchen – mit Erfolg, mit Erfolg. Wer noch keine Kassenpraxis gehabt hat: hier lernt er, wie man mit Leuten umzugehen hat. „Zum Sterben tauglich – raus!“ Und was sich [135] vor vierzehn Tagen noch katzbuckelnd und händereibend vor den reichen Kommerzienräten Angoras verbeugt hat, weiß sich hier nicht zu lassen vor Manneskraft.

„… während die andern mit Versorgungsangelegenheiten hinter der Front sich befassen werden.“ Beim Katzenschwanz Angoras und beim heiligen Sankt Baldrian: das werden sie! Ja, wenn wir diese andern nicht hätten –! Während vorn, noch vor den Militärischen und den Medizinischen, Menschen in Ackergräben verlausen und verrecken, befassen sie sich. Womit du willst: mit Proviant und mit Leder, mit Granaten und mit Pferden, ein wenig auch mit sich selbst; auf Samtpfoten und leise schnurrend buckeln sie zum Bezirkskommando Angoras. Miau! Wir sind alle, alle unabkömmlich …

Ich sehe Angora. Branntwein wird ausgeteilt; ein paar Narren, die nicht glauben wollen, daß ihr Vaterland auch über das Leben verfügen dürfe, fliegen ins Gefängnis; Redakteure schreiben sich die Federkiele heiß – vom Sterben der andern; das Kater-Lampesche Telegraphenbureau fertigt gut sitzende Originalsiege an, an denen alle Welt seine Freude hat; wer „mies, mies, mies“ macht, bekommt Prügel; die Regierung streicht den sozialistischen Katzen solange über das Fell, bis sie vor Behagen schnurren und alle auf dem Bauch liegen; in allen Schaufenstern prangt das Bild jenes historischen Moments, mit jenem großen Mann, einem Ludendorff, der einmal desertieren wird: ein wahrhaft gestiefelter Kater. Alle Generale vergessen Gicht und Gallenstein und wettern wieder auf den Kasernenhöfen daher, daß es eine Lust ist; der ganze Militärstand wacht auf und sträubt die Katerbärte, bereit zum Sterben der andern und froh der eignen so aktuell gewordenen Wichtigkeit. Ja, und die Berufssoldaten werden doppelt froh ihren Lohn einstecken, und ihre Onkel und Neffen, die sich schämen, nicht selbst mitzumarschieren, [136] und die sich ärgern, in jeder Gesellschaft – und noch dazu vor Damen – von so einem uniformierten Kater ausgestochen zu werden, werden auch nicht hinter der Zeit zurückbleiben wollen. Und so werden sie in ihren Büchern und in ihren Kollegs, in ihren Kirchen und in ihren Lesezirkeln davon sprechen, wie heilig, wie notwendig und wie edel der Krieg ist, sie werden das Sterben der andern loben, und wie süß es sei … Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.

Es ist nicht nur gefährlich; stirnrunzelnd wird der Kaufherr von seinen Lieferungsverträgen aufblicken und den neben ihm stehenden militärischen Handlanger fragen, wer denn da toll geworden sei – winkend, man möge den Verräter einsperren. Was geschieht. Es ist nicht nur das, weshalb so viele Leute es scheuen, nein zu sagen. Es ist ja so schön, im großen Strom der Masse mitzuschwimmen – Windstoß und Wasserrichtung tragen das Schiff –; und wenn es dann so stolz dahinsegelt, denken die Leute, es fahre aus eigner Kraft … Es ist auch bekömmlicher, sich der Macht zu unterwerfen – wer sich vor ihr verbeugt hat, auf den geht ein Quentchen der großen Macht über, und aus einem kleinen Lehrer oder Delikateßwarenverkäufer ist über Nacht plötzlich ein gewaltiger Mann geworden. Ein Tyrann macht viele. Das ist ein großes Geheimnis …

Und die Frauen Angoras werden jubeln und schnurren und miauen und Charpie zupfen und rosenrote Gedichtchen schreiben und über blau gekleidete Leichen jauchzen und über rot gekleidete jammern und am lautesten nach dem Oberkater schreien … Auf den Dächern Angoras …

Und in den Schulen Angoras lehrt man die Lehre von der Herrlichkeit des Krieges. Man lehrt: Du sollst nicht töten! [137] und man lehrt: Du mußt töten! – und weil niemand in der Geschichtsstunde an die Religion denkt, so hat beides in den jugendlichen Gehirnen sehr wohl Platz, um so mehr, als ja das staatliche Töten mit vielen herrlichen, leuchtenden, bunten Farben verbunden ist, mit Musik und Ehren, mit Feiern und Orden und mit sehr viel Kaisern, die man ganz aus der Nähe ansehen darf. Und weil der Mensch immer glaubt, alles, was er auf der Schule, als er noch klein war, gelernt hat, ohne nachzudenken, nur, weil es ihm so eingetrichtert ward, das sei als absolute Wahrheit vom Himmel gefallen, so werden die jungen Angoristen später im Leben gute Staatswürger abgeben.

So wird in Angora das Vaterland verteidigt. Der Deutsche liests, bejahts und nimmt sich vor, es bei nächster Gelegenheit grade so zu machen.

Und keiner steht auf – in Angora nicht und in Potsdam schon gar nicht – und sagt dem Tier Masse, dem Tier Zeitgeist, dem Tier Staat: Nein! Du, die blinde, schwarze Kollektivität, bist der große Krumme, der Teufel, ein wütiges Tier, bar jeder Verantwortung. Denn ist das Katzenfest vorüber, so löst du dich in einzelne Lebewesen auf, von denen es keiner, keiner gewesen sein will. Und auch keiner war. Einzeln sind sie ganz vernünftig.

Und nicht eher wird die Kateridee der absoluten Souveränität des Staates schwinden, als bis die einzelnen, die unter ihm seufzen, sich hochrichten und klar und bestimmt sagen:

Wir wollen nicht mehr.