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Die Unfälle auf Eisenbahnen und ihre Ursachen

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Autor: M. M. von Weber
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Titel: Die Unfälle auf Eisenbahnen und ihre Ursachen
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[258]
Die Unfälle auf Eisenbahnen und ihre Ursachen.
Von M. M. von Weber.
I.

Es giebt wenige Erscheinungen im Völkerleben, welche so allgemeines und lebendiges Interesse erwecken, als die Unfälle auf Eisenbahnen.

Diese ernsten Vorkommnisse haben immer etwas Dramatisches, spielen sich häufig vor dem mehr oder weniger großen Publicum eines Eisenbahnzuges ab, und jeder glücklich davongekommene Zuschauer hat dabei das unbehagliche Gefühl, vielleicht bei nächster Gelegenheit selbst leidender Acteur bei solcher Scene sein zu müssen, während Schreck und Angst die Empfänglichkeit für den erschütternden Eindruck der oft überaus düster-grandiösen Erscheinung eines verunglückten Eisenbahnzuges vermehren. Der Anblick dieser entweder tief in die Erde gewühlten oder weit ab vom Gleise, auf der Seite, oder gar mit nach oben gekehrten Rädern auf dem Rücken liegenden Locomotiven, die, wie im Todeskampfe, ihren glühenden Athem stöhnend ausgestoßen; der Anblick dieser oft bis zu ihrer zwei- und dreifachen Höhe übereinander und ineinander geschobenen Wagentrümmer, die wie mit Mauerbrechern zusammengekeilt erscheinen; der Anblick endlich dieser blassen Menschen, die das Chaos umstehen – Alles das ist wohl geeignet, auch in einem festen Herzen einen mächtigen Eindruck, und in der Erinnerung ein leicht über die Wirklichkeit hinaus sich vergrößerndes, schwer verwischbares Bild zurückzulassen. Hier sehen wir die Hälfte eines Güterwagens in einem Wagen dritter Classe stecken, dort den Puffer einer Lowry, mit dem Sammtfetzen eines Saloncoupés phantastisch drapirt, zum Dache einer ersten Classe hinausragen, hier die Räder eines Personenwagens unbegreiflicher Weise im Innern eines Gepäckwagens stecken, dort ein Quader, von einem der letzten Stein-Lastwagen dahergeschleudert, sich auf zertrümmerten Sammtfauteuils breit machen, zerschmetterte Balken, gebogene Eisenstangen, wie Strohhalme zerknickte, mannsschenkelstarke Stahlachsen aus dem Chaos herausstarren, geplatzte Koffer, Säcke, aufgesprungene Kisten mit zerschmettertem Porcellan oder Glas den Boden um den Trümmerhaufen bedecken, unheimlich aussehende Rothweinbäche aus zerdrückten Fässern hervorrieseln. Glücks genug, wenn nicht noch das Elend der Verbandsstätte, der Jammer Verwaister oder die entsetzliche Spannung dazu kommt, die sich mit dem Hervorholen von Gefährdeten oder gar Verwundeten aus den ungeheuern Lasten der Haufen von Holz- und Eisentrümmern verknüpft, wo an der athemlosesten Eile Menschenleben hängen, und doch eine nicht mit höchster Vorsicht und Besonnenheit angesetzte Hebewinde einen neuen, alles in seinem Innern Befindliche zerquetschenden Zusammensturz des Trümmerhaufens herbeiführen kann.

Während sich nun einerseits, im Angesicht dieses düstern Bildes, die ganze Kraft der Menschentreue und des Pflichtbewußtseins in jenen entschlossenen schmutz- und rußbedeckten Männern zeigt, die im Augenblicke schon, wo sie kaum selbst dem Tode entgingen, ernst und besonnen Winde und Hebel ansetzen, Meißel und Schraubschlüssel handhaben und sich kaum Zeit lassen, von der schreckensbleichen Stirn den Schweiß oder auch hier und da vielleicht einen Blutstropfen abzuwischen, da es gilt, Leben oder Eigenthum zu retten, oder ihre Bahn wieder frei zu machen, wird andererseits – natürlich und daher entschuldbar – die menschliche Schwäche laut.

Die verletzte, fieberisch unklar erregte Menschennatur fordert ein Sühnopfer, und schnell bildet sich unter denen, welche die Trümmerstätte umstehen, die Meinung über die Ursache des Unfalles und häuft sich der Zorn auf den Armen, den, nach der Ansicht dieser Umstehenden, die unumstößlich bewiesene Schuld der Katastrophe trifft. Wenn sie zu Gericht zu sitzen hätten, so gäbe es nur Lynchjustiz für sie, und doch würden selbst die, welche der Unfall selbst mit betraf, die den ganzen Verlauf mit ansahen, sofort nach demselben dessen ganze Scenerie klar erfaßten, in neunundneunzig unter hundert Fällen einen Justizmord begehen – wenn sie nicht erfahrene, besonnene Eisenbahntechniker sind – und diese würden wieder in neunundneunzig unter hundert Fällen nicht sofort urtheilen.

Das Eisenbahnwesen theilt das Schicksal der Kunst, daß jeder es verstehen, jeder es regieren zu können glaubt. Werden doch Eisenbahn- wie Theater-Regenten meist aus Holz geschnitzt, das möglichst weit vom Schauplatz ihrer Thätigkeit entfernt gewachsen ist; aber fast über nichts im Bereiche des Eisenbahnwesens herrschen so wenig reife Anschauungen, selbst unter Gebildeten, als über das Maß der Sicherheit oder Unsicherheit des Eisenhahnverkehrs und die Momente des Betriebes, welche zur Vermehrung oder Verminderung desselben sachgemäß beitragen.

In Nachstehendem soll der Versuch gemacht werden, an der Hand der zur Zahl gewordenen Erfahrung, der Statistik, auf das Hauptsächliche von Dem hinzuweisen, worauf es dabei wirklich ankommt.

Die Statistik ist aber ein scharfes Werkzeug, mit dem der Weise sehr Nützliches bilden kann, der Unweise aber sich selbst, und der Unredliche, was schlimmer ist, die Wahrheit verletzt. So haben die officiellen Rechenschaftsberichte der Eisenbahnverwaltungen den Begriff der „Selbstverschuldung“ in die Zahlennachweise der Unfälle eingeführt, und die kritiklose Statistik hat es nachgebetet. Damit ist das Mäntelchen fertig, das sich jeder administrativen und technischen Mißwirthschaft in Bezug auf Sicherheit des Betriebes umhängen läßt.

Fast immer wird eine redlich geführte Untersuchung wahrheitsgemäß nachweisen, ob ein Passagier durch seine eigene Verschuldung oder durch die der Bahnverwaltung verunglückte. Es ist nicht seines Amtes, beim Eisenbahnreisen kühn zu sein und zu wagen. Ganz anders verhält es sich aber mit dem Verschulden der Beamten und Arbeiter. Dieses stellt sich nur zu häufig da heraus, wo sich, im Grunde genommen, lediglich Schuld der Verwaltung zeigen sollte.

Wenn ungeheure Dimensionen und unpraktische Anlagen der Stationen ein so complicirtes, unübersichtliches Gebahren beim Arrangiren der Züge, ein so rasches Durcheinanderschieben von Hunderten von Wagen mit mehreren Maschinen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen her, ein gleichzeitiges Signalisiren mit Pfeifen, Fahnen, Hörnern etc. an allen Seiten bedingen, so daß das verwirrte, vielfach gefährdete untere Personal fortwährend kühn Leib und Leben daran setzen muß, damit nur überhaupt der Dienst prompt und stramm gethan werde, die Züge rechtzeitig abgehen können – und ein Mann wird dabei zwischen den Puffern erdrückt oder todtgefahren – Selbstverschuldung!

Wenn einem Weichensteller weit auseinander liegende Weichen zu bedienen gegeben werden, so daß er bei Nacht und Nebel, Schnee und Glatteis zwischen rasch bewegten Wagen, eilenden Maschinen hindurch, über Gleise hin, von der einen Seite zur andern springen muß, und er gleitet aus, fällt und wird getödtet oder verkrüppelt – Selbstverschuldung, Unvorsichtigkeit!

Wenn absurde Glockensignale, deren zahlreiche Töne- und Pausengruppen fast das wache Ohr eines Mozart zu ihrer Unterscheidung bedürfen, von einem schlaftrunken auftaumelnden Wächter im Wintersturmgeheul und Regenplätschern mißverstanden werden und er kommt zu Schaden – Unaufmerksamkeit, Selbstverschulden!

Wenn kauderwelsch gefaßte Instructionen, unklare, widersprechende Ordres, undeutliche Zeichen den schwer beweglichen Sinn des schlichten Mannes verwirren und er wird zum Krüppel gefahren – Selbstverschulden, Unaufmerksamkeit!

Wenn für den vom übermäßigen Dienste todtmüden, auf der Locomotive stehenden Führer, den halberstarrten Schaffner, den durchnäßten Weichensteller, der seit Tagen nur stundenweise geschlafen hat, Wirklichkeit und Halbtraum sich in sonderbaren Hallucinationen durcheinander schieben und er rechts statt links schreitet, nach oben statt nach unten greift – und er verunglückt – Selbstverschulden, Schlaftrunkenheit! Wehe ihm, wenn er etwa, zur Belebung seiner gesunkenen Lebensgeister, vielleicht nur um seinen Dienst treu leisten zu können, einen Tropfen geistigen Getränkes getrunken, das, wie bekannt, drastisch auf den Müden wirkt! Wird er dann schwer verletzt – Selbstverschulden! – geheilt, wird er von Amt und Brod gejagt.

Eine dreißigjährige Eisenbahnpraxis hat den Verfasser mit der Ueberzeugung gesättigt, daß die Disciplin im Eisenbahndienste eine eiserne, unerbittlich arbeitende Maschinerie sein muß, die jeden wirklich Schuldigen erdrückt, aber ein kategorischer [259] Imperativ giebt auch den Bahnverwaltungen auf, durch ihre technischen und administrativen Einrichtungen dafür zu sorgen, daß der Mechanismus der Disciplin nicht zur Fußangel werde, in der auch der Beste und Treueste sich einmal fangen kann, wahrscheinlich einmal fangen wird. Unzweifelhaft aber ist es, daß die reine Wissenschaft, welche die Thatsachen zu Ideen läutert, die Statistik, unrein beeinflußbare Begriffe, wie den der „Selbstverschuldung der Functionäre“, von ihren Folien fern halten soll.

Für sie giebt es nur Verunglückte, die bei dem Eisenbahnbetriebe oder durch denselben zu Schaden kommen. Von Liebedienerei für, oder Uebelwollen gegen die Verwaltungen, von Wissen und Wollen junger die Untersuchung führender Laien im Eisenbahnwesen kann sie sich dieselben nicht willkürlich rubiciren lassen.

Und sie hat dabei den Trost, daß in der Praxis das zu viel Verzeihen hier gegen das zu viel Beschuldigen dort, die stumpfere Intelligenz in diesem Beamtenkreise gegen die überspitzige in jenem sich heilsam ausgleichen und die nicht kritisirte Zahl zuletzt immer die richtigste und gerechteste ist.

II.

Fünf Elemente sind es, die hauptsächlich auf die Sicherheit des Betriebes der Eisenbahnen Einflüsse üben.

Selbstverständlich zunächst die Zweckmäßigkeit und Tüchtigkeit der Construction und Ausführung, sowie der Erhaltung der Bahn und ihrer Betriebsmittel; sodann die Schnelligkeit der Fahrt; ferner die Dichte des Verkehrs und die technische Form desselben; die Construction der Stationen, und endlich das System der Administration und der Betriebsleitung, die Verständigung durch Telegraphen und Signale eingeschlossen.

Den Ermittelungen über das Maß dieser Einflüsse werden wir die Eisenbahnstationen von England, Preußen und Oesterreich vom Jahre 1869 zum Grunde legen, als eines vom Kriege nicht beeinflußten, in Bezug auf Verkehr und Unfälle ungefähr mittleren Jahres und des letzten, über welches die veröffentlichte österreichische Eisenbahnstatistik Auskunft giebt.

Von diesen drei Elaboraten verdient nur das preußische den Namen einer organisch geordneten, der wissenschaftlichen Praxis des Eisenbahnwesens wirklich förderlichen Statistik.


Ueber die Einflüsse des ersten der oben erwähnten Elemente ist kein Wort zu verlieren; selbstverständlich ist eine gut gebaute und erhaltene Bahn, mit guten Betriebsmitteln befahren, sicherer als eine andere, der diese Eigenschaften mangeln. Hingegen sind die im Publicum überaus verbreiteten irrigen Ansichten über die Gefahren, welche aus vermehrter Fahrgeschwindigkeit erwachsen, zunächst zu berichtigen.

Schnellfahren ist nur da gefährlich, wo es auf nicht dafür construirten Bahnen geschieht.

Ein Blick auf die Statistik der erwähnten Länder wird dies lehren. Es waren im Jahre 1869 im Betrieb:

in England 3331 geographische Meilen Eisenbahnen
in Preußen 1370 " " "
in Oesterreich 1056 " " "

Auf diesen Bahnen fuhren:

in England 312 Millonen Menschen
in Preußen 62 " "
in Oesterreich 18 " "

das heißt: auf derselben Wegstrecke bewegten sich in England 41/2 Mal, in Preußen 23/4 Mal so viel Passagiere als in Oesterreich.

Bei diesen Völkerwanderungen kamen zu Schaden, theils durch Tödtung, theils durch Verwundung:

in England 1525 Menschen
in Preußen 782 "
in Oesterreich 412 "

das heißt: auf jede Million beförderte Passagiere wurden durch den Betrieb beschädigt

in England ca. 5 Menschen
in Preußen ca. 12 "
in Oesterreich ca. 23 "

Zur Beruhigung unserer eisenbahnreisenden deutschen Leser müssen wir hier einschalten, daß sich unter diesen großen Zahlen zu Schaden Gekommener in Deutschland und Oesterreich nur ein sehr keiner Procentsätze von ihresgleichen, das heißt von Passagieren befinden. Es wurden deren

in Preußen 4 getödtet, 17 verletzt;
in Oesterreich 3 " 17 "
in England 39 " 1043 "

das heißt: es kam zu Schaden ein Passagier

in Preußen von 3 Millionen Passagieren,
in Oesterreich " 0,9 " "
in England " 0,3 " "

sodaß die Sicherheit für die Passagiere in Preußen 10 Mal größer als in England, 2,7 Mal größer als in Oesterreich war.[1] Die erstgenannten Zahlen umfassen aber auch Beamte, Arbeiter, solche, die beim Ueberschreiten der Bahn getödtet wurden, Selbstmörder etc.

Wir bemerken indeß ganz ausdrücklich, daß unsere Betrachtungen der Sicherheit des Eisenbahnbetriebes im Allgemeinen nicht der Sicherheit der Passagiere allein gelten, daß wir unter Sicherheit eines Eisenbahnbetriebes die Garantien gegen Unfälle verstehen, die er allen Menschen, die mit ihm in Berührung zu kommen haben, gewährt, und daß uns daher der Betrieb derjenigen Eisenbahn als der bestorganisirte und sicherste erscheint, wo bei gleicher Leistung die wenigsten Menschen überhaupt zu Schaden kommen, gleichviel ob dies Passagiere erster Classe oder Weichensteller sind.

Man hat wohl den Tod des Eisenbahnbeamten im Dienste mit dem des Soldaten auf dem Felde der Ehre vergleichen wollen und behauptet, daß der Functionär für die Sicherheit des Passagiers sich opfern müsse. Der Vergleich ist uncorrect, die Behauptung nur halb richtig.

Wie der Soldat für hohe menschliche Güter, Freiheit und Vaterland, zu sterben, ist im höchsten Grade manneswürdig; durch ein falsches Signal, eine unklare Instruction, eine falsche Weichenstellung zu Grunde gehen, ist ein Elend. Auch liegt es nicht im Amte des Eisenbahnbeamten, zu sterben, und hinter seinen Wunden stehen nicht der Ruhm und das eiserne Kreuz, sondern oft Untersuchung, Entlassung, wenn nicht Schlimmeres.

Wenn es gilt, für die Rettung eines Passagiers einzutreten, hat noch kein wackerer Eisenbahnbeamter gezaudert, sich selbst in die Schanze zu schlagen; aber durch das Opfer derjenigen Leute, die auf übel angelegten Stationen zwischen Puffern erdrückt, in Schlaftrunkenheit äußerster Ermüdung überfahren wurden, die sich in complicirten Signalen irrten, beim Billetcoupiren von den Wagentritten fielen etc., ist noch keinem Passagier das Leben gerettet worden. Für sehr viele dieser Opfer haben Unverstand, Geistesträgheit und Schlendrian in der Administration vor dem Gerichte der Menschlichkeit Rechenschaft abzulegen.

Sehen wir nun, welchen Theil der Schuld an den oben aufgeführten Unfällen die Fahrschnelligkeit in den verschiedenen Ländern trug.

Es wurden 1869 expedirt in runden Zahlen.

in England 3 Millionen Züge, davon 600,000 Schnellzüge
in Preußen 900,000 Züge, davon 64,000 Schnellzüge;
in Oesterreich 200,000 Züge, davon 8058 Schnellzüge.

Die Fahrgeschwindigkeit ist durchschnittlich.

in England für Schnellzüge 6,5 Meilen,
" " " für alle Züge 5,1 "
in Preußen für Schnellzüge 6,0 Meilen,
" " " für alle Züge 4,1 "
in Oesterreich für Schnellzüge 5,2 Meilen,
" " " für alle Züge 5,2 "

Die Gesammtgeschwindigkeit der Bewegung verhält sich daher in Oesterreich, Preußen und England wie 1 : 7,2 und 24,6, während die Zahlen der in diesen Ländern getödteten Passagiere sich wie 1 : 1,3 und 13 und die der Verletzten wie 1 : 1 und 61 verhalten. Die Gesammtzahlen aller Verletzungen und Tödtungen in jenen Ländern, die der Beamten und Arbeiter mit inbegriffen, [260] verhalten sich wie 1 : 1,9 und 3,7. Es geht aus der Vergleichung dieser Zahlen bis zur Evidenz hervor, daß die Gefährlichkeit der Eisenbahnfahrt durchaus nicht im Verhältniß zu der Schnelligkeit derselben steht. Die Schnelligkeit wird in der That nur da verhängnißvoll, wo sie zu groß für die Construction und den Dienstorganismus einer Bahn ist.

Unter Dichte des Verkehrs einer Eisenbahn versteht man die Häufigkeit, mit der jeder Theil derselben von Zügen befahren wird, unter Form des Verkehrs die Art, in der dies geschieht.

Der Verkehr zweier Bahnen kann, obgleich von gleicher Dichte, doch von sehr verschiedener Gefährlichkeit sein, wenn die Form der beiden verschieden ist.

Die Dichte würde z. B., obwohl vielleicht sehr groß, doch ohne alle Gefahr sein, wenn sich alle Züge auf einer Bahn mit gleicher Geschwindigkeit bewegten; hingegen kann ein nicht sehr dichter Verkehr sehr gefährlich sein, wenn er eine complicirte Form hat, worauf wir sofort zurückkommen.

Es üben hier noch eine Menge Verhältnisse Einfluß, deren Erwähnung in den Rahmen dieser Skizze nicht paßt. Hier läßt sich nur die in Zahlen auszudrückende Dichte der Verkehre in Rechnung ziehen.

Nun wurde jeder Punkt der Bahnen im Jahre 1869 befahren:

in England 18000 Mal,
in Preußen 6000 "
in Oesterreich 4600 "

Trotz der großen Dichte dieses Verkehrs in England, die dreimal stärker ist als in Preußen, viermal stärker als in Oesterreich, war der Gesammtverlust an Leib und Leben dort verhältnißmäßig geringer als hier, und nur die Zahl der Verletzungen der Passagiere durchbricht abnorm, für England ungünstig, die betreffenden Verhältnisse. Die Dichte des Verkehrs allein macht daher denselben im Allgemeinen auch nicht unsicherer und scheint nur, fast im Extrem auftretend wie in England, die Sicherheit der Fahrt selbst in gewisser Weise abzumindern.

Der Ausdruck „Form des Verkehrs“ umfaßt einen weitern Begriff. Diese Form wird gebildet durch die Art und Weise, wie sich Züge von sehr verschiedener Geschwindigkeit und Natur (Expreß-, Eil-, gemischte, Güter-, Arbeitszüge etc.) auf der Bahn bewegen, wie sie einander folgen, sich kreuzen, überholen, aufeinander warten, auf den Stationen expedirt werden, auf ihnen Wagen absetzen und von ihnen mitführen, wie sie Züge oder Theile von Zügen von einmündenden Bahnen aufnehmen und an diese abgeben, wie sie sich aus Durchgangs- und Localverkehrswagen combiniren, sich auf Knotenpunkten auflösen und neu zusammensetzen, wie sie Zweigbahnen in größerer und kleinerer Anzahl mit mehr oder minderer Frequenz zu bedienen haben, wie sie ihre Wagenparke auf den Stationen rangiren, wie oft sie halten, Wasser nehmen, wie sie von den Signalen etc. beeinflußt werden etc. etc.

Außerdem wirkt auf die Form des Verkehrs einer Bahn vor Allem der Umstand, ob sie ein- oder zweigleisig ist, ferner die Richtung, in der sich die Hauptmassen bewegen, die Steigungen und Gefälle der Bahn, das Klima, die meteorologischen Einflüsse und eine Menge Verhältnisse, deren Aufführung hier zu weit führen würde. Es ist einleuchtend, daß die Gefährlichkeit des Verkehrs sehr mit der Complication dieser Verhältnisse steigen muß, und in der That wird ein doppelt so complicirter Verkehr mindestens viermal gefährlicher sein.

Das Maximum der Complication der Verkehre wird in England erreicht, wo (1869) 6840 Stationen in Wechselwirkung treten, mithin 2 auf jede deutsche Meile Bahn kommen, während in Preußen (1276 Stationen) und in Oesterreich (1064 Stationen) fast genau 1 sich auf jeder Meile fand. Das Netz der Bahnen ist in England so dicht, daß eine Einmündung oder Kreuzung sich durchschnittlich immer auf 3 Meilen Bahnlänge befand. Die Züge sind hier kleiner, folgen sich rasch in großer Anzahl und überholen einander auf unglaublich vielen Punkten. Die Frequenz der großen Stationen und Kreuzpunkte ist bis zu einer auf dem Continent noch ungeahnten Höhe gestiegen. So fahren z. B. in jeder der beiden Londoner Stationen Cannon-Street und Charing-Croß täglich über 600 Züge ein und aus; die große Kreuzung bei Clapham Junction passirten am Derby-Renntage 1871 volle 1023 Züge in 24 Stunden, während die Frequenz keiner deutschen und österreichischen Station 200, beziehentlich 120 Züge täglich übersteigt.

Die Gefährlichkeit der Form des Verkehrs wird wesentlich erhöht, wenn derselbe hin und her auf demselben Gleise erfolgen muß, mit andern Worten: wenn die Bahn eingleisig ist. Der Umstand, daß von 3331 Meilen englischer Bahnen (1869) 2680 Meilen doppelgleisig waren, ist ein Hauptmotiv dafür, daß auf ihnen ein verhältnißmäßig so geringer Gesammtverlust an Leib und Leben stattfindet. Von den preußischen Bahnen war im genannten Jahre noch nicht die Hälfte, von den österreichischen noch nicht ein Sechstheil mit Doppelgleisen versehen.

[274]
III.

Die vorstehenden statistischen Daten haben uns gelehrt, daß die Gefahr für Leib und Leben beim Eisenbahnbetriebe durchaus nicht ausschließlich an die Schnelligkeit der Fahrt, oder die Dichte des Verkehrs oder dessen Form geknüpft sei. In der That wirken diese Momente, wie erwähnt, nur dann verhängnißvoll, wenn ihre Einflüsse bei der Construction der Bahn und beim Organismus ihres Betriebes nicht genügend vorgesehen wurden, beides ihnen nicht gemäß ist. In noch weit höherem Grade ist dies der Fall bei den weiteren, die Betriebssicherheit beeinflussenden Elementen, der Construction der Stationen und der Organisation der Betriebsleitung.

Es giebt wenig Momente im Culturleben, wo die moralische Individualität der Nationen, ihre spezielle Begabung für dieses oder jenes Fach so drastisch zur Darlegung käme, wie bei diesen Elementen des Eisenbahnwesens. Zugleich tritt, in lehrreichster Weise, die Erscheinung zu Tage, daß durch Organisationen und Constructionssysteme, welche specifisch die Herbeiführung des höchstmöglichen Sicherheitsmaßes bezweckten, aber auf praktisch ungenügend begründete Speculationen basirt waren, gerade das Gegentheil des beabsichtigten Zweckes erreicht wurde.

Die ersten deutschen Eisenbahnstationen waren nach englischen Mustern angeordnet; die ersten Wagen für deutsche Bahnen kamen von England. Die ersten Unfälle, die sich auf deutschen Bahnen ereigneten, wurden durch fehlerhafte Manipulationen der Drehscheiben herbeigeführt; das große Eisenbahnunglück bei Versailles schien durch den Bruch einer Achse an einer vierrädrigen Maschine verursacht zu sein. Diese Thatsachen genügten, um die Anwendung von Drehscheiben zur Manipulation der Züge und Wagen auf Stationen streng zu vervehmen und als Sicherheitsevangelium zu verkündigen, daß alle Bewegung der Fuhrwerke von Gleis zu Gleis nur mittels Ausweichen erfolgen dürfe; andererseits führten sie zu dem Irrwahne, daß ein Fuhrwerk nur auf drei oder mehr Achsen und sechs oder mehr Rädern sicher rolle. Aus diesen falschen Grundsätzen wuchsen die Constructionen jener Ungeheuer von sechs- und achträdrigen Wagen, die so lange alpschwer auf dem deutschen Eisenbahnbetriebe lasteten und die Anwendung jeder gesunden Betriebsmanipulation unmöglich machten.

Es kam endlich noch die gedankenkurze „Ideenmode“ hinzu, welche die kostbareren Transportgüter eigentlich nur in Wagen für sicher erklärte, die mit festen Dächerkasten versehen sind. Hierdurch wurde die Anwendung aller mechanischen Hebevorrichtungen, wie hydraulischer Dampf- und Handkrahne und anderer Lastenbewegungsapparate aller Art etc., durch welche diese Geschäfte um ein Vielfaches beschleunigt und vereinfacht und vor Allem sicherer gemacht werden, unmöglich, während man in Frankreich, England, Belgien etc. dieselben Güter in offenen, nur mit guten wasserdichten Decken versehenen Wagen ohne jeden Anstand transportirt und sich dadurch die Verwendbarkeit jener mächtigen Betriebshülfsmittel sichert. Hiermit hat man alle Elemente beisammen, durch welche deutsche und österreichische Eisenbahnstationen zu wahren Schlachtfeldern werden, auf denen jährlich Hunderte von braven und muthigen Beamten und Arbeitern die redliche Ausübung ihrer Pflichten mit Leib und Leben bezahlen.

Durch die Verbannung der Drehscheibenreihen, vermittels welcher auf englischen, französischen, belgischen Stationen auf kleinsten Räumen Züge zusammengestellt und auseinandergeführt, einzelne Wagen beliebig aus in Ruhe bleibenden Zügen herausgenommen, beliebige Zugtheile ohne Störung der anderen Manipulationen, von Gleis zu Gleis, von Ladeplatz zu Ladeplatz gesetzt und fast alle Betriebsbewegungen selbstständig aus den ihnen eigens zugewiesenen, sparsam beschränkten, concentrirten Räumen, ohne hastige, gefährliche Schnellbewegung vorgenommen werden können, wurden die deutsch-österreichischen Stationen zu jenen unübersehbaren Gleiswirrsalen und wüsten Flächen auseinandergezogen, auf denen keine einheitlich geleitete Betriebsmanipulation mehr möglich und das fortwährende Mißverständniß, die Hauptquelle der Unsicherheit, heimisch ist. Um einzelne Wagen von Gleis zu Gleis zu stellen, einen Zug in einige Theile zu zerlegen, einige Fuhrwerke von oder nach einem Ladeplatze zu bringen, oder sie an rechter Stelle in einen Zug zu schalten, müssen oft Hunderte von Wagen, um viele Meilen weit, durch Locomotiven verschoben werden, die ihre Fahrgeschwindigkeit umsomehr zu vergrößern haben, je stärker der Verkehr, je größer die Zahl der in kurzen Zeiträumen auf einander zu expedirenden Züge wird; Hunderte von Weichen müssen geöffnet und geschlossen, Hunderte von Malen die Fahrtrichtungen der Maschinen gewechselt, Hunderte von Signalen gegeben [275] und verstanden werden, – – und dies Alles in immer fieberhafterer Hast, je stärker die Verkehre, je größer die Stationen werden – und wieder dies Alles oft bei Nacht, Nebel, Glatteis, Schnee, Sturm, wo jedes Signal undeutlich, das Rollen der Züge, das Bewegen der Wagen unvernehmbar, das Ueberschreiten der Gleise gefährlich, das Oeffnen und Schließen der Weichen gehindert wird.

Nicht das ist das Wunder dabei, daß in diesem unlenkbaren Dienstwirrsal, welches, unter Verhältnissen, zum wahren Chaos wird, viel Unfälle geschehen, sondern daß deren nicht noch viel mehr vorkommen. Daß dem aber so ist, das ist gewiß der Intelligenz, dem Muth und der Diensttreue des unteren Personales weit mehr zu danken, als der Weisheit jener Pontifexe der Eisenbahnconstruction, die, wenn die Verkehre auf dieser oder jener Station stocken, jenen unfähigen Mechanikern gleich, die beim Bruche eines Maschinenteiles kein anderes Mittel kennen, die Wiederholung des Unfalles zu verhindern, als den Theil dicker zu machen, auch hier keinen andern Rath haben, als die Station größer zu machen, statt gerade in deren zu weiter Ausdehnung den Quell des Uebels zu suchen.

In der That haben die deutschen und österreichischen Stationen Raumverhältnisse angenommen, von denen sich das Publicum und auch mancher Eisenbahntechniker keine klare Vorstellung macht. In Berlin bedecken die Stationen so viel Raum (1,960,000 Quadratmeter) wie die ganze innere Stadt; in Wien ist ihre Fläche (3,360,000 Quadratmeter) doppelt so groß wie die Stadt innerhalb der ehemaligen Glacis; in Leipzig, Frankfurt, Cöln, Prag beträgt die Fläche der Bahnhöfe fast halb so viel als die Gesammtfläche der betreffenden Städte, und diese ungeheuren Flächen liegen fast überall innerhalb des Bebauungsraumes dieser Orte, die Areale verteuernd und einengend; eine bei Weitem noch nicht in ganzer Bedeutung gewürdigte, aber ganz hauptsächliche Ursache der Wohnungsnoth in großen Städten.

Vergleicht man mit diesen colossalen Flächen, die sich bei den größten Stationen, wie z. B. der der Nordbahn und Staatsbahn in Wien, auf über eine Million Quadratmeter für jede beziffern, die der leistungsfähigsten englischen und französischen Bahnhöfe, aus denen bedeutend größere Verkehrsmassen als auf jenen bewältigt werden, so finden wir, daß die Fläche keiner der Pariser Stationen sich nur bis auf die Hälfte, keiner der Londoner sich auf das Viertel derjenigen der großen Wiener und Berliner Bahnhöfe erhebt. Nichts stellt deutlicher den praktischen Werth der Systeme, die bei Construction der Stationen in den Hauptculturländern zur Verwendung kamen, in’s Licht.

Daß von einer die Sicherheit und Promptheit der Manipulation in genügender Weise wahrenden Uebersicht und einheitlichen Disposition derselben auf jenen deutschen und österreichischen Stationen von der Ausdehnung mäßiger Mittelstädte, auf deren Geleisstrecken von vier bis fünf und mehr Meilen Länge mehrere Locomotiven oft mehr als tausend Wagen in allen möglichen Richtungen in raschem Tempo, unter von allen Seiten ertönenden Pfeifen-, Horn- und Glockensignalen und in allen Himmelsgegenden erscheinenden roten, grünen, weißen Licht- und vielfach geformten Körpersignalen etc. durcheinanderschieben, keine Rede mehr sein kann, liegt auf der Hand.

Und in dieser specifisch deutschen und österreichischen (ihrerseits durch die Wagenconstruction zum großen Theil bedingten) Bahnhofsconstruction mit ihren rasch bewegten, hin- und hergeschobenen Wagenreihen, die man im Lärm der Signale oder bei Sturm und Wetter nicht kommen und gehen hört, mit ihrer Nothwendigkeit, rasch Wagen zusammenzukoppeln und zu lösen, wobei die Leute unter dieselben kriechen müssen, mit ihrem Zwange, von Weiche zu Weiche oft zwischen dicht hinter einander rollenden Wagen hindurch über die Gleise zu springen, mit ihrer Complication und Gleichzeitigkeit der Signale, mit ihrer Beschränkung der Fernsicht durch die hohen Wagen und endlich mit ihrer Unmöglichkeit, auf solchen großen Flächen Manipulationen klar zu übersehen und zu dirigiren – liegt die Hauptursache der Gefährdung der auf ihnen fungirenden Arbeiter und Beamten. Und der persönliche Muth in Ausübung jener gefährlichen Functionen, dessen Mangel bei einem Personal gleichbedeutend mit Lahmlegung jedes energisch raschen Verfahrens, ja Stockung und Stillstand des Verkehrs auf der betreffenden Station ist, grenzt hier so oft, mehr oder weniger, an Tollkühnheit und Leichtsinn und daher – Verschulden, daß sie, wie jeder praktische Betriebsmann, der sich nämlich offen zu äußern wagt, bekennen wird, nur selten zu unterscheiden sind!

Daß die eigentliche Quelle der Gefahren für Leib und Leben auf deutschen Bahnen in den Manipulationsarbeiten auf den Stationen liegt, dafür giebt die einzige Eisenbahnstatistik, die, wie erwähnt, den Namen einer solchen verdient, die preußische, genügende Bestätigung. Während auf den preußischen Bahnen, deren Verwaltung im Allgemeinen, innerhalb des Systems, zu den besten gehört, die es giebt, im Normaljahre 1869, bei einer Beförderung von zweiundsechszig Millionen Passagieren nur vier Reisende getödtet und 17 verletzt wurden, nur 160 Beamte und Arbeiter während der wirklichen Fahrt zu Schaden kamen, wurden auf den Bahnhöfen 136 der Letzteren getödtet und 210 verletzt, kamen mithin bei dieser Thätigkeit mehr als doppelt so viel Menschen zu Schaden, als beim Fahrbetriebe selbst. Die englischen Bahnen zeigen im Jahre 1871, bei einer Beförderung von nahe vierhundert Millionen Passagieren, nur einen Gesammtverlust von 213 getödteten und 323 verletzten Beamten und Arbeitern, das heißt: für die Beamten und Arbeiter war die englische Betriebsform ungefähr sechs Mal sicherer als die deutsche, während diese für die Passagiere in Bezug auf Tödtung 1,6 Mal, in Bezug auf Verletzung etwa 10 Mal sicherer sich zeigte.

Der Gesammtverlust an Leib und Leben aber war in England in Bezug auf Tödtung 5 Mal, in Bezug auf Verletzung 13/4 Mal geringer (1869) als in Preußen. Bemerkenswerth ist dabei das Factum, daß auf den englischen Bahnen die Gesammtzahl der Passagiere sich in den zehn Jahren von 1861 bis 1871 von 180 Millionen auf 300 Millionen, das heißt auf das Doppelte gehoben hat, während die Zahl der Unfälle nur von 1100 auf 1500, das heißt um die Hälfte stieg, daß hingegen in Preußen die Gesammtzahl der Unfälle nicht allein mit dem Wachsen des Verkehrs (22 Millionen auf 62 Millionen Passagiere) Schritt hielt, sondern letzteres noch überholte, indem die Zahl der Unfälle von 211 auf 782 sich erhob.

Es ist dies nicht etwa ein Zeichen geringerer Sorgsamkeit in der Handhabung der Mittel, welche das Bau- und Betriebsystem der Eisenbahnen beider Länder für die Sicherung des Verkehrs bietet, sondern dafür, daß die Leistungsfähigkeit des Systems selbst in Bezug auf Sicherheit in Deutschland von den Anforderungen des Verkehrs überholt wurde.

Die Bestrebungen der Fachleute werden daher, ohne alle falsche Selbstliebe, auf Revision dieses Systems vor Allem hinzugehen haben, wenn nicht mit dem weiteren Steigen des Verkehrs die Unfälle in unstatthafter Weise zunehmen sollen.

Eng hiermit zusammen hängt die Unzulänglichkeit des Systems für die Bewältigung großer Verkehrsmassen auf den Stationen, trotz fast maßloser Vergrößerung derselben. Man hat hier und da selbst an Stellen, die wohlunterrichtet sein sollten, den größeren Verlust an Leib und Leben unter den Beamten bei dem Betriebe der deutschen und österreichischen Eisenbahnen einer angeborenen Mindergewandtheit der betreffenden Völkerstämme in der Manipulation mechanischer Vorkehrungen zuschreiben wollen. Es ist dies aber nur in sehr beschränktem Maße zuzugeben. Wenn es nun auch zweifellos erscheint, daß gewisse Nationalitäten mehr oder weniger Talent für die Gesammthandhabung des Eisenbahnwesens besitzen (wie es ja auch mehr oder minder kriegerische, mehr oder minder mit Geschmack und anderen Talenten begabte Stämme giebt), so wird dies Talent sich jedenfalls weit weniger in der größeren oder minderen körperlichen Geschicklichkeit der Bediensteten, als in der Wahl und Entwicklung des für die Landesverkehrsverhältnisse schicklichsten Bau- und Constructionssystems der Eisenbahnen zeigen, hier aber von durchschlagendem Einflusse sein, wie das Beispiel der anglo-germanischen Race diesseits und jenseits des Oceans zeigt.

Fassen wir schließlich in anschaulichen Vergleichen die verschiedenen Ausmaße von Sicherheit zusammen, unter denen Diejenigen, die mit Eisenbahnen zu thun haben, mit denselben verkehren, so findet sich etwa Folgendes:

Es mußte, ehe ein Reisender getödtet wurde, eine Anzahl Reisende fahren, die gleich war: [276]

in Preußen der Gesammtbevölkerung von Belgien, Holland und Luxemburg;
in Oesterreich der Gesammtbevölkerung von Baiern und Württemberg;
in England der Gesammtbevölkerung von Spanien.

Ehe ein Reisender zu Schaden kam, mußten fahren:

in Preußen die Bevölkerung des Königreichs Sachsen;
in Oesterreich die Bevölkerung von Baden;
in England die Bevölkerung von Braunschweig.

Aber nur die Bevölkerungen weit kleinerer Länder, ja sogar nur von Mittelstädten, brauchten transportirt zu werden, um beim Eisenbahnbetriebe einen Menschen überhaupt zu Schaden kommen zu lassen, und zwar:

in Preußen die von Chemnitz oder Schwarzburg-Rudolstadt;
in Oesterreich die von Wiesbaden oder Schaumburg-Lippe;
in England die von Hamburg oder Anhalt.

Das aber wäre der größte Meister des Eisenbahnwesens, der in dieser Beziehung einen dieser Kleinstaaten zu einem großen reich bevölkerten Königreiche machen könnte, ja – werth, selbst dessen Krone zu tragen!

  1. Die im Verhältniß zu den anderen Zahlen, besonders auch der Tödtungen, auffallend hohe Ziffer der Passagierverletzungen in England erklärt sich, abgesehen davon, daß deren in der That dort mehr vorkommen als in Deutschland und Oesterreich, zum Theil aus dem Umstande, daß das Publicum in England sein gutes Recht, für unverschuldet erlittene Verletzungen entschädigt zu werden, besser kennt und verfolgt, als in Deutschland und Oesterreich, wo daher eine Menge leichter Verletzungen gar nicht zur Kenntniß der Verwaltungen kommt.