Die Unabhängigen
[4] Es sei mir gestattet, in Kürze mein geistiges Vorleben zu skizzieren, bevor ich es unternehme, von selbständiger Tribüne zu einem Forum zu sprechen, auf welchem Dank dem Marktgeschrei der täglich zweimal verfälschten öffentlichen Meinung der ehrliche Mann sein eigenes Wort nicht hört. Ich habe es bisher nicht über den Ruhm hinausgebracht, in engeren Kreisen missliebig geworden zu sein. Zum Hasse einer literarischen Coterie, deren anmaßendes Streberthum und hochstaplerisch durch Geckereien und allerlei Niedlichkeiten verdecktes Unvermögen ich mir zu enthüllen erlaubte, hat sich die Wuth einer neuestens organisierten politischen Radautruppe gesellt. Sie nennen sich »Zionisten«, möchten in dem durch nationale Krakehle sattsam verunreinigten Österreich den Bestand einer neuen, der jüdischen Volkheit behaupten und harmlosen Passanten, die glücklich den antisemitischen Kothwürfen entgangen sind, Sehnsucht nach dem gelobten Lande aufdrängen. Eine kleine Satire, zu der mich dies muntere Treiben anregte, hat mich in der Folge jene bekannte Rachsucht verkosten lassen, »die da ahndet bis ins dritte und vierte Glied«, und aus jener unpolitischen Wuth, wie sie nur die Angehörigen einer noch ungeübten Nation so offen bethätigen können, ergoss sich ein rothes Meer von Beschimpfungen über mich, durch das trockenen Fußes hindurchzukommen auch mir gelang, der von dem projectierten Auszug in das gelobte Land so entschieden abgerathen hatte.
Mein Sündenregister wäre unvollständig, vergäße ich die Erwähnung des Kampfes, den ich in mehreren periodisch erscheinenden Druckschriften seit einer Reihe von Jahren gegen die periodisch erscheinenden Dummheiten und Lächerlichkeiten unseres politischen, gesellschaftlichen und literarischen Lebens geführt habe. Freilich, nicht immer mit der zum Angriff [5] nöthigen Lust, weil – ja, weil gewisse Rücksichten, die selbst die Herausgeber anständiger oder, um ein milderes Wort zu gebrauchen, »unabhängiger« Blätter gewissen Cliquen schuldig zu sein glauben, nun einmal kein befeuerndes Motiv sind. Wenn ihm der ursprüngliche Antrieb freier Wahl genommen, steht der kritische Losgeher selbst den von oben bewilligten Opfern theilnahmslos gegenüber. Nicht die Censur des Staatsanwalts habe ich gefürchtet, vielmehr die intimere eines Chefredacteurs, die, wenn ich socialen Ekels voll, einmal in das schändliche Hausierertreiben unserer Literaten, in die Zusammenhänge von Theater und Journalistik hineinfahren wollte, mit weicher Sorglichkeit all’ den Ärger in fernere Regionen abzulenken bemüht war. Galt es, dem Publicum endlich die Augen zu öffnen über eine Pressgenossenschaft, welche, feil bis auf die Knochen, die vom halb verwesten Liberalismus noch übrig geblieben sind, eine ungeahnte Werbekraft für jede von ihr bekämpfte Idee entfaltet und durch eine klägliche Opposition dem Antisemitentross täglich neue Anhänger zuführt – galt es diese oder jene von dem Treibhaus der Wiener Eitelkeiten ängstlich ferngehaltene Wahrheit auszusprechen, dann wurde mir gewiss der Stilschnitzer in der letzten Rede des Ackerbauministers entgegengehalten, den zu bekämpfen mein heiliges Amt sei.
Aber ein Kind, das von Schmerzen geplagt ist, pflegt sich im Anblick der ihm beharrlich entgegengehaltenen Puppe erst recht nicht zu beruhigen, und so ließ ich denn die schönste Gelegenheit, ein auskömmliches Dasein durch das in den weitesten Familienkreisen noch immer für »Kühnheit« gehaltene Anulken der allwöchentlichen österreichischen Minister zu führen, im Stiche, warf den Maulkorb in den Papierkorb und gieng …
Jetzt lag er hinter mir, der Kreis der wahrhaft Unabhängigen, die pseudonym und manchmal sogar mit vollem Namen jeder Regierung an den Leib rücken, [6] die den Muth haben, dem Grafen Thun »Sie« zu sagen, und weil sie alles, nur nicht den aufreibenden Kampf gegen das Geschmeiß im eigenen Hause wagen, ihrer Oppositionslust einen »weiten Horizont« zusprechen möchten. »Zu Hass und zur Verachtung gegen die Regierung« aufgereizt oder gar die Majestät beleidigt – mehr als eine Confiscation kann bei der Beliebtheit des objectiven Verfahrens da nicht passieren; unternähme man es jedoch, ausnahmsweise einmal das schmutzige Cartell journalistischer Theaterpaschas aufzustöbern, so wäre das – man lebt ja in traulicher concordia – nicht nur incollegial, es trüge auch sicher allerlei »subjective Verfolgung« ein, die schmerzhafter ist und weniger reclamedienlich als die vom Staatsanwalt besorgte objective. Und endlich: den Ackerbauminister, der selten zu Premièren geht, lernt man nie persönlich kennen, während man doch über Herrn Siegfried Löwy bei allen besseren Gelegenheiten stolpert. Die Directive für einen unabhängigen Journalisten lautet also: Die Umgebung bleibe sacrosanct; auf Wiener Boden sind natürlich die Antisemiten anzugreifen; in der innern und äussern Politik Österreichs hat man reichliche Auswahl, und wenn man dann den einen Sectionschef und die zwei liberalen Abgeordneten, die der Herausgeber von Jours her kennt, nach heißen Kämpfen abzieht, erübrigt noch immer ein weites Feld zur Bethätigung der wahren Unabhängigkeit …
Wer selbst den journalistischen Taglöhnern der Lüge, den Officiösen der Regierung oder des Capitalismus jedwede Schweinerei als ein geheiligtes Gewohnheitsrecht nachsehen wollte, den müsste die Heuchelei der angeblich unbefleckten Wöchnerinnen des Zeitungswesens in Harnisch bringen. Dort, wo zu keinem Amt, keiner Finanzgruppe, ja zuweilen selbst zu keiner Meinung Beziehungen nachweisbar sind, stellt sich pünktlich die Rücksicht auf tausend gesellschaftliche Machtfactoren ein. Hat man sie nicht, so borgt man [7] sich sie von der nächstbesten liberalen Zeitungsredaction aus, und das große Tagesblatt wird nicht verfehlen, bei jeder Gelegenheit auf die junge aufstrebende Revue hinzuweisen, die so freudig ein ansehnliches Segment seines Interessenkreises auf sich genommen hat.
So sehen wir das bischen Aufmerksamkeit, das unser Publicum nach erledigter Leibblattlectüre für bedrucktes Papier noch zu vergeben hat, in unverantwortlicher Weise allwöchentlich von Neuem missbraucht. Wer sich zum Abonnement einer Revue aufgerafft hat, fühlt sich um seine Erwartung, hier noch jene Wahrheit zu finden, die in der Tagespresse Raummangels halber ewig im »Übersatz« bleiben muss, schmählich betrogen: Statt frisch zugreifender Socialkritik und rücksichtsloser Auffassung aller Actualitäten nichts als eine hochmüthige Sachlichkeit, dazu die gangbaren politischen Radicalismen, von einem Hohn durchtränkt, der etwa nach Prossnitz zuständig ist, und einer Unentwegtheit, die nach irgendeinem freisinnigen Bezirksverein weist – und alles dies mit einer Selbstzufriedenheit vorgebracht, als ob der Völkerfrühling ein Quartalswechsel und die Machthaber die »noch rückständigen Abonnenten« wären. Ein ewiges Kokettieren mit der Correctheit einer Verwaltung, die zuweilen sogar die Aufnahme von Bankinseraten verweigert; aber die politisch und financiell so prononciert reinen Hände scheuen sich nicht, dem nächstbesten Literaturdelinquenten, wofern er nur dem bekannten »Wiener Milieu« angehört, willfährig sich entgegenzustrecken …
Ich habe rückschauend der Plage des Wochenchronisten in unfreiem Kreise gedacht und noch einmal wie von weiter Ferne gesprengte Ketten rasseln gehört. Ohne Wehmut scheide ich von einer Welt der »angenehmen Verbindungen«, seit langem schon, weil man den Störer der Gemüthlichkeit und des liberalen Ringelreihens in mir gewittert, scheel angesehen – bald vielleicht ein Vervehmter. Kein freundlicher Warner wird künftig der unbesiegbaren Lust, Gesellschaftsgötter [8] zu lästern, tactische Bedenken entgegenhalten, kein Chefredacteur, zitternd um seine Beziehungen, hinter meinem Rücken stehen und besorgt, ich könnte mich an Näherliegendem vergreifen, mit suggestiv warmer Stimme mir beständig in die Ohren raunen: »Aber – so machen Sie sich doch über den Ackerbauminister lustig! …«