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Die Ukraine der Lebensnerv Rußlands

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Textdaten
Autor: Eugen Lewicky
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Titel: Die Ukraine der Lebensnerv Rußlands
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aus: Ernst Jäckh (Hg.): Der Deutsche Krieg, 33
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Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
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Erscheinungsort: Stuttgart u. Berlin
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[2]
Der Deutsche Krieg

Politische Flugschriften

Herausgegeben von

Ernst Jäckh

Dreiunddreißigstes Heft


Deutsche Verlags-Anstalt

Stuttgart und Berlin 1915
[3]
Die Ukraine

der Lebensnerv Rußlands

Von

Dr. Eugen Lewicky

Mitglied des österreichischen Reichsrates


Deutsche Verlags-Anstalt

Stuttgart und Berlin 1915
[4]
Alle Rechte vorbehalten


Druck der
Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart
Papier von der Papierfabrik Salach
in Salach, Württemberg
[5]
I
Ukraine und Rußland

Am 22. Februar 1914 schrieb das nationalistische russische Blatt „Kiewlanin“:

„Die Ukrainerbewegung ist für Rußland gefährlicher als alle übrigen nationalen Bewegungen zusammengenommen. Wir sind verpflichtet, die Einheit und Untrennbarkeit des russischen Volkes, wie jene des Staates zu wahren. Dieser unserer Staatszitadelle droht aber einzig und allein die Ukrainerbewegung, und daher erscheint diese als die größte nationale Staatsgefahr.“

Das chauvinistische russische Blatt hat mit diesen Worten nur diejenigen Ansichten wiedergegeben, von welchen die russischen Staatsmänner und die russische Bureaukratie seit je beherrscht waren. Kein anderes Volk des russischen Reiches wurde auch so blutig und rücksichtslos verfolgt wie eben das ukrainische. Bereits der Zar Peter der Große hat im Jahre 1720 die ukrainische Sprache als Literatursprache verboten. Die Zarin Katharina II. hat die ukrainische Sprache aus dem Gebrauch im öffentlichen Leben verbannt und mit schwersten Gewaltmitteln die Autonomie der Ukraine zugrunde gerichtet. Sogar das Wort Ukraine wurde verpönt und das Land in „Klein-Rußland“ umgetauft. Die blutige Verfolgung des ukrainischen Volkes, seiner Literatur und Sprache zieht sich auch wie ein roter Faden durch die ganze russische Geschichte seit Peter I. bis auf die neueste Zeit. Der größte Dichter der wiedererwachten Ukraine, Taras Schewtschenko, hat seine besten Jahre [6] wegen seiner schriftstellerischen Tätigkeit in der Peter-Pauls-Festung und in der Verbannung am Ural verbracht, bis er – physisch gebrochen – kurz vor seinem Tode in sein Heimatland zurückkehren durfte. Dem größten Dichter der wiedererwachten Ukraine folgten bald die anderen, und schließlich erschien der berüchtigte Ukas vom Jahre 1876 (eine Schande des 19. Jahrhunderts!), mit welchem die ukrainische Literatursprache untersagt und die ukrainische Literatur im Zarenreiche ohne weiteres verboten wurde.

Die Furcht vor der Ukraine und die damit im Zusammenhang stehende blutige Verfolgung des ukrainischen Volkes wird leicht begreiflich werden, wenn wir uns die Bedeutung der Ukraine für Rußland vor Augen führen. Durch die Ukraine allein wurde der moskowitische Staat Iwans III. zur europäischen Großmacht, ohne Ukraine mußte er zu einem einflußlosen Staat zweiten Grades zusammenschrumpfen.

Durch die Erwerbung der ukrainischen Gebiete gelangte das russische Reich im Süden bis zum Schwarzen Meer.

Die Ukraine war bis zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in allen ihren Gebieten, bis zur Vereinigung Litauens mit Polen im Jahre 1569, im überwiegenden Teile unabhängig und stellte sich als ein mächtiger Staat dar, dessen Besitzungen sich vom Sanflusse im jetzigen Galizien bis zum Don und zum Schwarzen Meere erstreckten und dessen wirtschaftliche und politische Beziehungen bis nach Konstantinopel und darüber hinaus bis nach Kleinasien reichten. An der Spitze dieses mächtigen Staates stand der Großfürst von Kijiw (russisch Kijew), dem sich die übrigen Fürstentümer unterordneten und in allen wichtigen Unternehmungen Gefolgschaft leisteten. Berühmt wurden insbesondere der Großfürst Wladimir der Große, welcher bereits im Jahre 988 mit seinem Volke den christlichen Glauben annahm, und Jaroslav der Weise, dem die ukrainischen Fürstentümer [7] die erste Kodifizierung des öffentlichen und Privatrechtes sowie die Vervollständigung der staatlichen Organisation zu verdanken haben. Mit den Griechen, welche zur Vermittlung des Handelsverkehrs an der ukrainischen Küste des Schwarzen Meeres wichtige Kolonien, wie z. B. Tiras, Olvia und Cherson, gründeten, wurden die ersten internationalen Handelsverträge geschlossen, die dazu beitrugen, daß der Handelsverkehr von Kijiw aus sich immer mehr nach dem Balkan und Asien erweiterte und bereits im 11. Jahrhundert ganz feste Formen annahm. Fürst Swiatoslav, der Vater Wladimirs des Großen, besetzte sogar auf einige Zeit die bulgarischen Gebiete, und die Macht der ukrainischen Staaten im Osten und Südosten Europas ging so weit, daß das Schwarze Meer nach der damaligen lateinischen Bezeichnung „Mare Ruthenum“ genannt wurde. Allein die ersten Einfälle wilder asiatischer Horden, der Kumanen und Petschenegen, welche in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts fallen, störte den weiteren Aufschwung Kijiws und brachte es mit sich, daß die Metropole des ukrainischen kulturellen und staatlichen Lebens im Laufe des 12. Jahrhunderts mehr nach Westen, vom Dniprstrom in das Gebiet des Dnistrflusses[1] verlegt werden mußte. Allein auch diese durch ungünstige internationale Verhältnisse aufgezwungene Kräfteverschiebung vermochte bei weitem nicht die staatliche Selbständigkeit der ukrainischen Länder mit einem Schlage zu vernichten. In Halitsch, der Residenz des Halitscher Fürsten Danilo, lebte die Macht und der Glanz der ukrainischen Unabhängigkeit wieder auf. Danilo selbst erfreute sich eines so hohen Ansehens, daß er vom Papst Innozenz IV. im Jahre 1253 durch einen Gesandten zum Könige von Halitsch und Wladimir (das heutige österreichische Ost-Galizien) als Herrscher des gesamten Ruthenenreiches [8] gekrönt wurde. Das ukrainische Reich Danilos erstreckte sich damals vom Sanflusse bei Peremyschl (polnisch in Przemysl umgetauft) bis über den Dnipr zum Schwarzen Meere und war geteilt in drei Fürstentümer, welche von einem Bruder des Danilo, dem Fürsten Wasylko, und dessen zwei Söhnen, Lew[2] und Szwarno, verwaltet wurden und dem in Cholm (vulgo Chelm) residierenden Danilo, als dem Oberhaupt, unterlagen.

Die nachteiligen Folgen, welche die im 12. Jahrhundert durch die wiederholten Überfälle mongolischer Horden verursachte Verschiebung der Staatsgewalt nach Westen und die damit im Zusammenhange stehende tatsächliche Preisgabe des Dniprbassins durch die ukrainischen Herrscher haben mußte, haben nicht lange auf sich warten lassen. Die im Norden und Westen angrenzenden Völker, Polen und Litauen, wurden allmählich von den kulturell höherstehenden germanischen Stämmen aus ihren Besitzungen an der Elbe und der Küste der Ostsee verdrängt und nach Südosten geschoben, und die Folge davon war, daß die ukrainischen Fürstentümer mit ihren Metropolen von Wladimir und Halitsch gleichsam unter zwei Feuer genommen wurden. Denn von Norden und Westen drangen die Polen und Litauer, und vom Süden kamen bald die Tataren, die bereits im Jahre 1224 ihren ersten Verwüstungszug in die ukrainischen Länder machten und von nun an ihre schrecklichen Verheerungen mit nur ganz unbedeutenden Unterbrechungen weit hinauf bis nach Lemberg (Lwow) fortsetzten. Diesem Kreuzfeuer konnte nun das ukrainische Reich, welches als tatsächliche Vormauer des Christentums doch ohne jeden Schutz und Hilfe belassen wurde, auf längere Dauer unmöglich standhalten. Als erstes fiel das zumeist dem polnischen Andrang ausgesetzte Fürstentum von Halitsch, welches in der zweiten [9] Hälfte des 14. Jahrhunderts an Polen kam, während die übrigen ukrainischen Fürstentümer ihre Selbständigkeit auf die Weise zu retten trachteten, daß sie sich mit Litauen zu einem Staate auf Grund voller Autonomie vereinigten. Aber auch diese relative Unabhängigkeit dauerte nicht lange; bereits im Jahre 1569 erfolgte die berüchtigte (Lubliner) Union Litauens mit Polen, durch welche die ukrainischen Gebiete dem Königreich Polen ohne irgendwelche Rechte einverleibt und der polnischen Gewaltherrschaft wie ein erobertes Land ausgeliefert wurden.

So spielten die Ukrainer im Mittelalter volle fünf, relativ sogar volle acht Jahrhunderte im Osten Europas als ein selbständiger Staat neben Byzanz eine geradezu ausschlaggebende Rolle, und zwar in einer Zeit, in welcher von Rußland im Sinne der politischen Vormacht der moskowitischen Stämme noch überhaupt keine Rede war. Die moskowitischen Stämme bildeten damals bloß die zwei ganz unbedeutenden Fürstentümer von Suzdal und Moskau, welche Fürstentümer, ganz im Norden gelegen, fast unbeachtet ihr Leben fristeten und gar keinen Einfluß auf Osteuropa ausübten. Erst die Niederwerfung der ukrainischen staatlichen Unabhängigkeit und der bald darauf eingeleitete Kampf um den Zugang zur Ostsee und zum Schwarzen Meere, welcher Kampf mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm und die Ukraine in Blutströmen zugrunde richtete, haben das Russentum dank der günstigen geographischen Lage zu einem Machtfaktor gemacht und diesem in der Völkerfamilie jene Stellung verschafft, welche das russische Zarenreich seit dem 17. Jahrhundert, seit Peter I. und Katharina II., einnimmt.

Nach der aufgezwungenen Vereinigung mit Polen im Jahre 1569 schuf das seiner Autonomie beraubte ukrainische Volk eine neue Macht aus sich selbst heraus, welche es gegen [10] zahlreiche Feinde beschützen und die staatliche Unabhängigkeit wiedererlangen sollte – das Kosakentum. Diese militärisch-republikanische Organisation mit dem gewählten Hetman an der Spitze – in gewissem Sinne war sie dem mittelalterlichen Ritterorden nachgebildet[3] – kämpfte mit beispielloser Zähigkeit und Heldenmut volle zweieinhalb Jahrhunderte um die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine – allein alle Heldentaten und Bemühungen waren nicht imstande, den Drang der Polen und Litauer vom Westen, der Moskowiter vom Norden und der Tataren und Türken vom Süden aufzuhalten. Der Kampf um den Zugang zur Ostsee und zum Schwarzen Meere mußte unter diesen Völkerschaften um jeden Preis ausgefochten werden, und eben die ukrainischen Gebiete bildeten das Terrain, auf welchem dieses Ringen fast ununterbrochen volle drei Jahrhunderte andauerte. Es half dabei nichts, daß der geniale Kosakenhetman der Ukraine, Bohdan Chmelnytzkyj, in den Jahren 1648–1654 eine Reihe glänzender Siege über die Polen errang, ganz Polen niederwarf, ja sogar den damaligen polnischen König Kasimir gefangennahm; und es half auch nichts, daß der zweite höchst begabte Kosakenhetman Peter Doroschenko die polnischen und moskowitischen Heere aufs [11] Haupt schlug und auf Grund des Vertrages mit der Türkei (1672) auf kurze Zeit sogar die volle staatliche Unabhängigkeit der Ukraine zu erlangen wußte. Völlig konnte die Ukraine ihre zahlreichen Feinde nicht vernichten, und immer von neuem kamen – wie bereits erwähnt – in die ukrainischen Gebiete feindliche Armeen, um hier, auf dem ukrainischen Boden, in Blutströmen den Weltkampf um die Gebiete von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere zur Entscheidung zu bringen.

Der Schluß dieses langjährigen und nur mit ganz kurzen Unterbrechungen geführten Weltkrieges ist ohnehin allgemein bekannt. Der Kampf um die Besitzungen an der Ostsee, an dem sich die Polen, Schweden und Russen beteiligten, endete für die Polen im Jahre 1721, ja sogar schon im Jahre 1660 mit deren vollständiger Niederlage. Nach dem Olivaer Vertrage vom Jahre 1660 verblieb den Polen nur ein ganz kleiner Streifen der Ostseeprovinzen, und mit dem Vertrage zu Nystedt vom Jahre 1721 ging auch diese Besitzung für die Polen ein für allemal verloren. Einige Zeit verblieben die Ostseeprovinzen Kurland, Estland, Ingrien und Karelien bei Schweden; jedoch nach dem unglücklichen Kriege mit Rußland, insbesondere nach der Schlacht bei Poltawa vom Jahre 1709 (an welcher Schlacht sich auf seiten der Schweden auch der Kosakenhetman Iwan Mazeppa mit seinen Truppen beteiligte!), konnte Schweden die Ostseeprovinzen nicht mehr behaupten. Mit dem Jahre 1721 gingen diese an Rußland über, welches sich in ihrem Besitze bis auf den heutigen Tag zu erhalten wußte. – Der Kampf um die Besitzungen am Schwarzen Meere, um die Becken des Dnipr und Dnistr erforderte geraumere Zeit und hat erst Ende des 18. Jahrhunderts seinen vorläufigen Abschluß gefunden. Die von Polen, Türken und Moskau angegriffenen Ukrainer trachteten immer von neuem ihre Selbständigkeit zu erlangen, indem sie sich einmal den Polen, das andere Mal den Russen, ja sogar [12] den Türken anschlossen. Der Zweck dieser Vereinigungen war, im ungleichen Kampf sich wenigstens von einem Feinde zu befreien. Aber auch diese diplomatischen Auswege haben schließlich und endlich zu keinem Erfolge geführt. Im Perejaslawer Vertrage vom Jahre 1654 vereinigten sich die Ukrainer mit Moskau als vollkommen selbständiger Staat auf Grund einer Personalunion, aber bereits im Jahre 1667 wurde die Ukraine im Adrussower Vertrage, nach geheimer Verständigung der Herrscher beider Staaten, unter Polen und Moskau geteilt. In dieser traurigen, schweren Lage trachteten die Ukrainer doch noch, mit Hilfe der Türken und Schweden sich gegen Polen und Moskau zu behaupten und ihre Selbständigkeit wiederzuerlangen; allein der Versuch scheiterte nach kurzer Unterbrechung an den für die Ukrainer ungünstig ausgefallenen Schlachten bei Zurawno (1676) und Poltawa (1709), welche das ukrainische Volk vollständig erschöpften und es seinen Gegnern hilflos auslieferten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden dann die ukrainischen Gebiete noch zu wiederholten Malen zwischen Türkei, Polen und Rußland geteilt, bis schließlich mit der Teilung Polens die ukrainischen Gebiete, mit Ausnahme von Galizien, zur Gänze an Rußland übergingen. Und damit wurde der große Weltkampf im Westen Europas endgültig zu Ende gebracht. Rußland gelangte nach vielen Bemühungen und Kämpfen in den Besitz der Ukraine und des Schwarzen Meeres, somit jener Gebiete, welche die Besitzungen des einst kleinen moskowitischen Fürstentums von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erweiterten, und welche dem von Peter dem Großen begründeten russischen Reiche jene Machtstellung verschafften, die dasselbe im Osten Europas bis jetzt einnimmt.

Wenn man den jetzigen Weltkrieg, insbesondere mit Rücksicht auf dessen osteuropäischen Schauplatz, in Betracht zieht, so wird man nicht umhin können, der Analogie zwischen dem jetzigen Weltkriege und den geschilderten Kämpfen des Mittelalters [13] und der Neuzeit im Osten Europas gewahr zu werden. Der Zweck des jetzigen Krieges ist ja nichts anderes als eine neue Kräfteverteilung auf dem Gebiete von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere, eine neue Regelung derjenigen Frage, die zwar Ende des 18. Jahrhunderts zugunsten Rußlands entschieden wurde, deren Lösung aber dabei solche Verhältnisse im europäischen Osten schuf, die das europäische Gleichgewicht immer mehr bedrohen und die von den Zentralmächten Europas, in deren eigenem Interesse wie auch im Interesse der Erhaltung des allgemeinen Friedens, nicht weiter geduldet werden dürfen.

So erscheint der jetzige Krieg im Osten Europas im Grunde genommen nur als eine Fortsetzung des einstigen großen Weltkampfes nach einer über ein Jahrhundert langen Unterbrechung, die jedenfalls den Völkern Europas kein Glück verschaffte, sondern vielmehr zur Entfachung des jetzigen Weltbrandes wesentlich beitrug.




[14]
II
Die osteuropäische Krisis und deren Lösung

Der Appetit kommt beim Essen. Nachdem Rußland unter der Regierung Katharinas II. endgültig in den Besitz ukrainischer Gebiete am Schwarzen Meer gelangt war, dachte es sofort an die weiteren Eroberungen am Balkan. Der orthodoxe Glaube sollte dabei als Vorwand dienen. So entstand der angebliche Traum Peters des Großen, auf den Moscheen Konstantinopels das dreiarmige Kreuz zu errichten – jener Traum, der die größten Staatsmänner des Zarenreiches bis heute nicht ruhig schlafen läßt. Freilich hat sich der Traum bisher nicht verwirklicht. Der zweimalige Versuch Nikolaus’ I. scheiterte an dem Widerstande Frankreichs und Englands, und in der Verständigung der Großmächte vom 5. Dezember 1853, laut welcher im Interesse der Erhaltung des europäischen Gleichgewichtes an dem Bestande der Türkei festgehalten werden sollte, wurde dem russischen Vordringen nach Konstantinopel ein Riegel vorgeschoben. England hatte damals noch keinen Konkurrenzkampf mit Deutschland im türkischen Orient und wollte daher nicht zulassen, daß ihm die Bewegungsfreiheit in Asien durch die Besetzung der Meerengen und Konstantinopels durch die Russen genommen oder nur beschränkt werde. Denselben Standpunkt nahmen aber damals, mit Rücksicht auf ihre Interessen im Mittelländischen Meere, auch die Franzosen ein. Der für Rußland unglückliche Krimkrieg hatte die Verwirklichung der Träume Rußlands nur noch in weitere Ferne gerückt. Der Berliner Vertrag und die Okkupation von [15] Bosnien und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn bildeten für die Russen in ihrer Balkanpolitik eine neue, zweifellos sehr empfindliche Niederlage. In der Donaumonarchie ist seit dem letztgenannten Vertrage dem Zarenreiche ein mächtiger Konkurrent entstanden, ein Konkurrent, welcher jede Erweiterung der Machtsphäre Rußlands im Süden Europas zu verhindern weiß. Allein der Traum des Zaren, nach dem Bosporus und den Dardanellen zu gelangen, ist keine vorübergehende politische Schimäre, sondern vielmehr eine reelle, in der internationalen Lage Rußlands begründete Bestrebung, die sich durch rein diplomatische Mittel kaum je beseitigen läßt. Professor Mitrofanow hat ja in einem kurz vor dem Ausbruch des Krieges in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienenen und viel bemerkten Artikel die wahre Grundlage der russischen Balkanbestrebungen mit voller Offenheit der politischen Welt vor Augen geführt. Rußland strebt nach Konstantinopel, weil es im freien Zugange zum Mittelländischen Meere durch die Meerengen, die jederzeit geschlossen werden können, und damit auch in seiner imperialistischen Politik viel zu sehr gehemmt wird. Allein in der Verwirklichung dieser weitreichenden Pläne hat Rußland, wie bereits bemerkt, in der Donaumonarchie einen ebenbürtigen Gegner und Konkurrenten gefunden: denn führt der Weg Rußlands über Bosporus und Dardanellen nach Kleinasien und darüber hinaus, so läuft der Weg der Donaumonarchie in derselben Richtung über Belgrad oder Mitrowitza nach Saloniki. Beide Wege laufen demnach parallel, ohne ihr Ziel – den Zugang zum Ägäischen und Mittelländischen Meere – vorderhand bei den obwaltenden politischen Verhältnissen erreichen zu können.

Es wird nun vorläufig von den Gegnern am Balkan nach Verbündeten gesucht, mit der nicht zu leugnenden Absicht, den Konkurrenten womöglich zu schwächen. Zu welchen Ergebnissen jedoch diese Konkurrenztaktik bis jetzt geführt hat, beweisen [16] zur Genüge die gerade in den letzten Jahren in beschleunigtem Tempo erfolgten Umwälzungen auf der Balkanhalbinsel und nicht zuletzt der jetzige Krieg, der einen Weltbrand entfachte und beinahe ganz Europa mit sich riß.

Fragt man nach der eigentlichen Ursache, aus welcher die Verwicklungen im Osten Europas entstanden sind und beinahe ein ganzes Jahrhundert fortdauern, so drängt sich die Antwort von selbst auf. Nur die Eroberung der Ukraine und die Beherrschung des Schwarzen Meeres durch Rußland haben das großgewordene Zarenreich in die unmittelbare Nähe des Balkan gebracht und seine Expansionskraft nach dem europäischen Süden gerichtet.

Rußlands Streben, den Balkan unter seine Oberherrschaft zu stellen und sich eine freie Straße zum Mittelländischen Meere zu verschaffen, bildet eben mit allen daraus erfolgten Verwicklungen dasjenige Moment, welches sich zu den im ersten Kapitel geschilderten Verwicklungen und Bestrebungen im europäischen Osten gesellte und welches sich tatsächlich nur als eine Folge der mit dem Ende des 18. Jahrhunderts vorläufig zum Abschluß gelangten Kräfteverteilung daselbst darstellt. Die Lösung der seit Jahrhunderten dauernden Krisis kann daher logischerweise nur in der Beseitigung der Grundursache gefunden werden. Cessante causa cessat effectus. Das moskowitische Rußland muß vom Schwarzen Meer zurückgedrängt und zwischen Rußland und den Balkan muß ein Riegel in den Gebieten der Ukraine hineingeschoben werden. Kann Rußland durch die selbständige Ukraine wie durch einen Keil von Südeuropa getrennt werden, so wird es seine ganze Aufmerksamkeit vor allem sich selbst, seiner inneren Konsolidierung und Europäisierung zuwenden; andererseits werden die Balkanvölker, von Rußland nicht mehr aufgehetzt und [17] terrorisiert, frei aufatmen und ihre internationalen Verhältnisse auf der nationalen Grundlage in einer ernste Verwicklungen ausschließenden Weise in Ordnung bringen.

Allein an der Durchkreuzung russischer Balkanpläne ist Deutschland nicht weniger interessiert als sein Verbündeter Österreich-Ungarn. Bei der bestehenden Kräfteverteilung auf dem europäischen Kontinent, welche Verteilung sowohl in der geographischen Lage als auch in der nationalen Zusammensetzung der hier in Betracht kommenden Mächte begründet erscheint, bedeutet die Verwirklichung der russischen Balkanpläne eine dauernde und unabwendbare Schwächung der Donaumonarchie und müßte in weiterer Folge auch die Schwächung Deutschlands als politischen Machtfaktors nach sich ziehen. Allein Deutschland ist an der gründlichen Lösung der westeuropäischen Frage nicht nur mittelbar – mit Rücksicht auf seinen Verbündeten –, sondern auch unmittelbar mit Rücksicht auf die bereits erzielten eigenen Erfolge in Asien interessiert. Deutschland hat seit der Reise Kaiser Wilhelms nach Konstantinopel, Jerusalem und Damaskus im Jahre 1898 im türkischen Orient sich betätigt: diese neue Richtung in der Weltpolitik Deutschlands steht im unmittelbaren Zusammenhange mit jenem Aufschwung der einheimischen Industrie, den diese seit ungefähr 1902 genommen hat. Das Wachstum eigener wirtschaftlicher Kräfte hat Deutschland in den zwei letzten Dezennien in die große wirtschaftliche Weltpolitik eingeführt, welche die Notwendigkeit der Erwerbung immer neuer ausländischer Absatzgebiete nach sich zieht. Die im türkischen Osten durch Deutschland erzielten Errungenschaften haben nun zwischen den beiden mitinteressierten Staaten, England und Rußland, eine ganz neue Lage geschaffen, welche zur Annäherung und zur Entrevue zwischen Eduard VII. und Nikolaus II. auf der Reede zu Reval im Jahre 1908 führte, [18] der, wie bekannt, die Verständigung beider Mächte mit Frankreich nachfolgte. Für Deutschland hat demnach die Verwirklichung russischer (und englischer) Pläne auf dem Balkan und in Kleinasien die Bedeutung, daß es vom türkischen Orient abgeschnitten und aus Kleinasien überhaupt ausgeschaltet werden könnte, was Deutschland selbstverständlich nicht zulassen darf und höchstwahrscheinlich auch nicht zulassen wird. Deutschland muß im Gegenteil bemüht sein, eine Lösung der osteuropäischen Frage durch den jetzigen Krieg herbeizuführen, die ihm den freien Verkehr mit Asien dauerhaft sichert, ja womöglich noch einen bequemeren Weg dahin schaffen hilft.

Die Verdrängung Rußlands vom Schwarzen Meere und die Wiederherstellung des ukrainischen Zwischenstaates erscheint somit auch für Deutschland als die einzig radikale und vernünftige Lösung der osteuropäischen Frage. Nur durch die Verdrängung Rußlands vom Schwarzen Meere wird dem Zarenreiche die Möglichkeit genommen werden, seine imperialistischen, die Interessen beider Zentralmächte bedrohenden Pläne jemals durchführen zu können. Eine derartige Lösung der osteuropäischen Frage ergibt sich aber zugleich als eine internationale Notwendigkeit für ganz Europa, denn es ist an die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichtes und Sicherung des europäischen Friedens nicht zu denken, solange Rußland in seiner jetzigen Zusammensetzung wie ein Koloß auf dem internationalen Leben Europas lastet und durch den unmittelbaren Zugang zum Schwarzen Meere, und hiermit auch zum Balkan, auf die Ordnung der Verhältnisse störend einzuwirken imstande ist.

Bei der Erörterung der obigen Frage muß schließlich noch auf ein Moment hingewiesen werden. Die Andrássysche Außenpolitik Österreich-Ungarns hat die Expansionsbestrebung [19] der Monarchie einzig und allein dem Balkan zugewendet, und die Notwendigkeit, sich einen bequemen und sicheren Weg nach Saloniki zu bahnen, wurde in Österreich-Ungarn zum politischen Axiom. Diesem Ziele dienten die staatliche Angliederung von Bosnien und Herzegowina, die Bahnprojekte Ährenthals, nicht zuletzt die Schaffung eines unabhängigen Albanien. Der jetzige Krieg soll nun auch diese Frage der ersehnten Lösung zuführen. Allein die Lösung, wie man sie sich denkt, ist kaum möglich. Rußland wird eine Lösung, die mit vollständiger Lahmlegung seines Einflusses am Balkan gleichbedeutend wäre, nicht dulden und würde ganz gewiß nach einer kurzen Erholungspause dort mit einem neuen Intrigenspiel einsetzen, wozu es auch einen günstigen Boden bei der nationalen Zusammensetzung des Gebietes jederzeit finden dürfte. Statt einer Lösung hätten wir daher bei der Verfolgung der bisherigen Balkanpolitik Österreich-Ungarns bloß ein vorübergehendes Auskunftsmittel, welches ganz gewiß nach verhältnismäßig unbedeutenden Unterbrechungen zu neuen, vielleicht noch schlimmeren Kämpfen führen müßte. Von der Alternative, Serbien nach der Niederwerfung ganz zu besetzen oder zu teilen, zieht man aus verschiedenen Rücksichten, auf die einzugehen vorläufig nicht opportun wäre, die Teilung serbischer Gebiete entschieden vor. Die Besetzung nur eines Teiles von Serbien müßte aber ebenfalls nur neue Weiterungen nach sich ziehen, dies um so mehr, als es nicht anzunehmen ist, daß sich dieses Volk ohne weiteres in eine neue, viel ungünstigere Teilung fügen würde. Eine Balkanpolitik, die sich einzig und allein auf die Errungenschaften auf der Balkanhalbinsel beschränkt, ist aber überhaupt als im vorhinein verfehlt zu bezeichnen, da jede Kräfteverschiebung am Balkan – gleichviel ob durch Besetzung von kleineren oder von größeren Ländergebieten – noch immer freien Raum für weitere Streitigkeiten lassen, ja solche noch provozieren müßte. Dabei ist die [20] Zersplitterung des Balkans mit seinen nationalen und konfessionellen Gegensätzen welche eine ununterbrochene Unsicherheit der Lage nach sich ziehen, ebenfalls nicht außer acht zu lassen. Es wird ganz gewiß noch ein längerer Zeitraum vergehen müssen, bis sich die internationalen Verhältnisse am Balkan insoweit klären, daß dort auf eine Beständigkeit der Verhältnisse mit Bestimmtheit zu rechnen ist.

Die Abtrennung ukrainischer Gebiete von Rußland und deren Angliederung als wirtschaftlich und politisch selbständiger Zwischenstaat an die europäischen Zentralmächte gibt daher eine viel sichrere Basis für die günstige Lösung der osteuropäischen Krisis als die ohnehin zweifelhaften Errungenschaften am Balkan, auf jenem Balkan, der schon längst von der europäischen Diplomatie, und mit Recht, als Wetterwinkel von Europa bezeichnet wird.

*  *  *

Die moderne Staatspolitik ist ihrem Wesen nach nichts anderes als eine großzügige, über die Grenzen einzelner Staaten hinausreichende Wirtschaftspolitik, und es muß daher noch untersucht werden, welche wirtschaftlichen Folgen die Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates nach sich ziehen würde.

Das Schwarze Meer spielte bereits im Mittelalter als Handelsverkehrsweg zwischen Europa und Asien eine hervorragende Rolle, welche Rolle ihm nur infolge ungünstiger politischer Verhältnisse auf einige Zeit genommen wurde. Kann den mitteleuropäischen Staaten nach der Niederreißung der russischen Mauer der Zugang zum Schwarzen Meere freigemacht werden, dann wird dem Schwarzen Meer neuerlich jene welthistorische Bedeutung zukommen, für die es wie geschaffen erscheint – als eines großen und bequemen Verkehrsweges zwischen Europa, Asien und Afrika, [21] welcher Weg mit Rücksicht auf die Bagdadbahn noch an Bedeutung gewinnt.

Die ukrainischen Hafenstädte am Schwarzen Meere, wie z. B. Odessa mit seiner Bevölkerung von rund einer halben Million und seinem riesigen Handelsverkehr, ferner Nikolajew und Cherson, werden bald zum Mittelpunkt des Weltverkehrs werden und ganz gewiß den bedeutendsten Hafenstädten Europas gleichkommen. Für den Handelsverkehr mit dem fernen Osten, Zentralasien insbesondere, ferner für die Kolonisation dieser Gebiete wird ebenfalls Tür und Tor geöffnet werden.

Allein nicht weniger wichtig wie für den Weltverkehr wird das ukrainische Gebiet für die wirtschaftliche Politik der beiden hier in erster Linie in Betracht kommenden Staaten – Deutschland und Österreich-Ungarn – werden.

Die Ukraine umfaßt ein riesiges Gebiet von 680 000 qkm, wovon 75 000 qkm auf Ostgalizien entfallen. Es ist dies ein Gebiet, welches dem Staatsgebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie gleichkommt und das Gebiet des Balkan mit allen seinen Staaten um ganze 150 000 qkm übertrifft. Die Bevölkerung der Balkanhalbinsel ist ebenfalls geringer als diejenige der Ukraine; sie betrug nach der Volkszählung vom Jahre 1900 kaum 22 Millionen Einwohner (21 464 787), somit um rund 10 Millionen weniger, als die Bevölkerung des ukrainischen Volkes im selben Jahre aufzuweisen vermochte.[4]

Die ukrainischen Länder gehören dabei zu den fruchtbarsten in ganz Europa. Fast das ganze bewohnte Gebiet stellt sich als ein Ackerfeld dar und kann mit dem Balkan in dieser Beziehung [22] nicht einmal verglichen werden. Bereits im Mittelalter sagte man, die Ukraine fließt von Honig und Milch, und die polnischen Adelsgeschlechter zogen, nach der Vereinigung mit der Ukraine, scharenweise mit dem Schwerte in der Hand dorthin, um sich reiche ukrainische Landgüter mit Gewalt anzueignen. Auch jetzt bildet die Ukraine für ganz Rußland eine wahre Kornkammer; die Produktion der Ukraine an landwirtschaftlichen Erzeugnissen macht nicht weniger als ein Drittel der Gesamtproduktion Rußlands aus. Den eigentlichen Reichtum der Ukraine bilden aber ihre geradezu unerschöpflichen Schätze an Mineralien. Silber, Blei, Quecksilber, Kupfer werden in Rußland überhaupt nur in der Ukraine gefördert. An Mangan liefert Rußland ein Sechstel der gesamten Weltproduktion, wovon 32 % auf die Manganproduktion der Ukraine entfallen. Und was in wirtschaftlicher Beziehung noch mehr in die Wagschale fällt: die Ukraine besitzt überaus reiche Kohlenfelder, Eisen- und Naphthagruben, und zwar auf dem umfangreichen Gebiete zwischen Dnipr- und Donflusse. An Kohlen werden in der Ukraine jährlich über 130 Millionen Meterzentner – beinahe 80 % der Kohlenproduktion Rußlands – gewonnen; die jährliche Eisenproduktion der Ukraine beträgt über 31 Millionen Meterzentner, somit 60 % der gesamten russischen Eisenproduktion. Schließlich besitzt die Ukraine nördlich vom Kaukasus in der Gegend von Kertsch und Theodosia reichliche Naphtha- und Erdwachsfelder, deren Ausbeutung erst in neuester Zeit richtig begonnen hat, ferner zwischen dem Donflusse und der Küste des Schwarzen Meeres ein reichliches Salzgebiet, dessen Produktion beinahe 50 % der russischen Gesamtproduktion an Salz ausmacht.

Die Fruchtbarkeit des Bodens, der Reichtum an verschiedenen Mineralien, die Größe des Gebietes, ferner die hohe Bevölkerungsziffer und nicht zuletzt die unmittelbare Verbindung mit Mitteleuropa verleiht der Ukraine bei der jetzigen Wirtschaftspolitik [23] eine besondere Bedeutung. Die Industrialisierung höher entwickelter europäischer Staaten hat die Notwendigkeit der Kolonien als sicherer ausländischer Absatzgebiete mit sich gebracht, und es gibt jetzt keinen größeren Staat, welcher dieselben entbehren könnte. Österreich-Ungarn besitzt eben keine Kolonien, und wir sind seit einigen Jahren Augenzeugen dessen, wie die Donaumonarchie in ihrem Außenhandel auf immer größere Schwierigkeiten stößt, und wie infolge dieser schweren Lage die industrielle Tätigkeit im Lande immer mehr lahmgelegt wird. Aber auch Deutschland braucht bei seiner hoch entwickelten Industrie Gebiete, wo es seine Industrieerzeugnisse leicht verwerten und anderseits seinen Bedarf an Rohmaterial und Lebensmitteln mit geringem Kostenaufwande decken könnte. In bezug auf die Kolonien nimmt Deutschland nach Großbritannien, Rußland und Frankreich unter den europäischen Großstaaten erst die vierte Stelle ein, denn es hat zehneinhalbmal weniger Kolonien als Großbritannien, sechsmal weniger als Rußland und zweieinhalbmal weniger als das volkarme Frankreich. Bei den kolossalen Schwierigkeiten, die sich der Erwerbung von neuen Kolonien entgegenstellen, ist in der Handelspolitik moderner Staaten an die Stelle der Kolonien die sogenannte „pénétration commerciale“, die wirtschaftliche Durchdringung getreten, mit welcher zwar keine so sicheren, aber nicht minder günstige Erfolge erzielt werden. Es gilt nämlich dabei, eigenes Kapital und eigenes Material an Arbeitskräften in ein fremdes Land zu übertragen, um daselbst das eigene Kapital nutzbringend zu verwenden und den Absatz und die Verwertung einheimischer Produkte sicherzustellen. Welche Vorzüge und welche guten Aussichten sich gerade für eine derartige Tätigkeit in der unabhängigen Ukraine für die angrenzende Donaumonarchie und für das mit derselben verbündete Deutschland erschließen, braucht nach dem Ausgeführten nicht erst erörtert zu werden. Die Ukraine wird nach [24] dem Falle der chinesischen Mauer, die sie jetzt vom Westen trennt, nicht nur den Minderertrag an Bodenerzeugnissen und Rohmaterial bei anderen, mit ihr wirtschaftlich liierten Völkern decken, sondern auch einen sehr günstigen Boden für jene wissenschaftliche und produktive Tätigkeit von außen bieten, deren sie selbst bei ihrer bisherigen Vernachlässigung so sehr bedarf und die sie bald auf eine höhere Stufe des kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwunges bringen würde. Und wenn schon von der wirtschaftlichen Bedeutung der ukrainischen Gebiete die Rede ist, so müßte noch auf die weitergehenden Ausblicke hingewiesen werden, die mit verschiedenen Projekten der Verbindung Europas mit Indien zu Lande im Zusammenhange stehen. In dem Maße nämlich, wie die Einflüsse in Iran, Syrien und Mesopotamien steigen, werden derartige Projekte immer häufiger in Erörterung gezogen. Der Bagdadbahn werden ganz gewiß die persischen Bahnprojekte folgen: allein die einfachste Verbindung Europas mit Indien wäre sicherlich die Verbindung durch die ukrainischen Gebiete von Berlin über Kijiw und Charkiw, von da an der Wolga- und Uralmündung, am Aralsee und dem Amurdaria vorbei über Afghanistan nach Pendschab. Und wenn eine solche Verbindung je zustande kommt, dann erst wird die Ukraine als ein Transitland, eine der wichtigsten Verkehrsadern der Welt, die größte Bedeutung in handelspolitischer Beziehung erlangen – und zwar als eine mächtige handelspolitische Brücke zwischen Zentraleuropa und Asien.




[25]
III
Das Wiedererwachen der Ukraine

Die mächtige Freiheitsbewegung, die Ende des 18. Jahrhunderts wie ein erfrischender Frühlingshauch über alle Länder Europas ging, hat auch die Ukraine zu neuem Leben geweckt.

Ein Teil der Ukraine links vom Dniprstrome, die sogenannte östliche (linksseitige) Ukraine, ging schon in den Jahren 1654 und 1663 in den Verträgen von Perejaslav und Andrussow an Rußland über, die andere Hälfte, rechts vom Dnipr, die rechtsseitige Ukraine, wurde im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zu wiederholten Malen abwechselnd von Polen, Russen und Türken besetzt, bis endlich nach der Teilung Polens auch dieser Teil an Rußland fiel. Nur Galizien kam an Österreich-Ungarn, und ebenso die Bukowina, die im Laufe der Jahrhunderte ihren besonderen Weg ging und im Jahre 1777 ebenfalls der Donaumonarchie einverleibt wurde.

Der Perejaslaver Vertrag sollte zwischen der Ukraine und Moskau eine Personalunion begründen. Dieser Vertrag wurde aber bald von dem russischen Zaren mit Füßen getreten. Dem ukrainischen Hetman, dem freigewählten Oberhaupte des ukrainischen Staates, wurde bereits kurz nach der Vereinigung mit Rußland eine besondere Kommission – das „kleinrussische (!) Kollegium“, angeblich zur Erleichterung in der Landesverwaltung, aufgedrungen, welche Kommission zur Hälfte aus russischen Beamten bestand und allmählich die ganze Verwaltung der Ukraine an sich riß. Im Jahre 1782 wurde [26] auch diese Kommission abgeschafft, das „kleinrussische Gebiet“ in Gouvernements geteilt und dem russischen, einheitlichen Staatsorganismus ohne weiteres einverleibt. Wie es zweieinhalb Jahrhunderte später Finnland erging, so erging es auch dem ukrainischen Staate, welcher schrittweise aller seiner autonomen Rechte beraubt und in eine russische Provinz umgewandelt wurde. Die ukrainische Kosakenorganisation wurde ebenfalls aus der Welt geschafft. Die wählbaren Hetmane wurden anfänglich durch die nominierten ersetzt, bis auch diese Würde, die allmählich zum Schatten der einstigen herabsank, mit einem zarischen Ukas vom Jahre 1764 für immer abgeschafft wurde. Die letzte Burg der kosakischen Unabhängigkeit, die an den Stromschnellen des Dniprflusses organisierte „Saporoger-Sitsch“, die sich trotz aller Intrigen russischer Agenten nicht ergeben wollte, wurde durch Verrat im Jahre 1775 von den Russen genommen, die Festung geschleift und der Oberbefehlshaber Kalnyschewskyj in den Kasematten des Soloweckij-Manastir (Soloveck-Kloster) interniert, wo er in einer schrecklichen Einzelhaft volle 25 Jahre unter unsäglichen Qualen schmachten mußte. Schließlich wurde die ukrainische Kosakenorganisation ganz abgeschafft und die Reste des Kosakenheeres auseinandergejagt. Die Erinnerung an die einstige Unabhängigkeit der Ukraine sollte überhaupt, sogar in den letzten Nachkommen ukrainischer Hetmane, ausgerottet werden. Diese wurden entweder nach Sibirien verbannt oder dem Henker ausgeliefert …

An der Neige des 18. Jahrhunderts glich das ukrainische Land unter der „fürsorglichen“ Hand russischer Satrapen einer Ruine, und so wurde auch diese Zeitperiode des ukrainischen Niederganges vom ukrainischen Volk selbst bezeichnet!

Und doch, aus der Ruine blühte bald ein neues Leben, sobald nur der „Frühling der Völker“ auch nach dem Osten Europas hereinbrach.

[27] Bereits im Jahre 1789 erscheint in ukrainischer Sprache eine meisterhaft geschriebene Travestie der Virgilschen Äneis von Kotlarewskyj, des ersten modernen Schriftstellers der wiedererwachten Ukraine, dem bald viele andere nachfolgten. Marko Wowczok, Hulak-Artemowskyj, Kwitka-Osnowjanenko und Gogol-Vater schöpften mit vollen Händen aus dem reichen Schatze der ukrainischen Volkspoesie und dem ukrainischen Volksleben und begründeten die moderne ukrainische Literatur, die sich durch ihre Eigenartigkeit und den wahrhaft volkstümlichen Zug, der ihr zugrunde liegt, an die Literaturen anderer slawischer Völker würdig anschließt. Die Novellisten, wie Iwan Franko, Olga Kobylanska, der durchaus moderne und hochbegabte Kociubynskyj Winnitschenko und Jazkiw von der jüngeren Generation, der Dramaturg Karpenko-Karyj, die Lyriker, wie der bereits erwähnte Iwan Franko, Olena Kosacz (Pczilka) Olesj, u. v. a. könnten in jeder Literatur europäischer Kulturvölker ihren gebührenden Platz finden. Über alle ragt aber die hohe Gestalt des Taras Schewtschenko, des Dichters von Gottes Gnaden, welcher in seinen politischen Dichtungen die Feinde der Ukraine unbarmherzig geißelte und durch seine Darstellungen der ukrainischen Vergangenheit aus der Zeit der kosakischen Befreiungskämpfe mit all ihren Heroengestalten, im wunderschönen Gewande ukrainischer Volkspoesie, als wahrer Prophet seines Volkes auftrat. Der Tyrtäus der ukrainischen Nation, der ihr die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit prophezeite, mußte seine Dichtungen, die bald von Hand zu Hand gingen, mit jahrelanger Verbannung büßen, in der ihm jede schriftstellerische Tätigkeit von der russischen Regierung untersagt wurde …

Der berüchtigte zarische Ukas vom Jahre 1876 hat in die kulturell-nationale Entwicklung des ukrainischen Volkes in Rußland auf einige Zeit Bresche geschlagen – in Galizien, das sich bald in ein Piemont des ukrainischen Gedankens und [28] ukrainischer nationaler Bestrebungen umwandelte, wurde aber ohne Unterlaß weitergearbeitet. Obwohl hier der sogenannte Ausgleich mit den Polen vom Jahre 1867 das ukrainische Volk den polnischen Machthabern des Landes auslieferte, so war die Lage für die Ukrainer eben doch insofern günstiger, als ihnen die konstitutionelle Verfassung Österreichs ihren Schutz gewährte. Tausende von Volkslesehallen und Vereinen wurden hier gebildet, wirtschaftliche Organisationen gegründet, wissenschaftliche Anstalten aus eigenen Kräften ins Leben gerufen. Schließlich mußte auch hier, mit Rücksicht auf das zunehmende nationale Bewußtsein in der ukrainischen Bevölkerung, der Druck erleichtert und dem ukrainischen Volke zumindest ein Teil seiner Rechte wiedergegeben werden. Bereits vor dem Ausbruche des Krieges verfügten die Ukrainer in Galizien und der Bukowina über zwanzig eigene Mittelschulen und mehrere Lehrkanzeln an der Lemberger Universität, die zwar von Kaiser Franz I. seinerzeit eben für die ukrainische Bevölkerung bestimmt, jedoch nach dem bereits erwähnten Ausgleiche von Polen widerrechtlich besetzt worden war.

Hand in Hand mit der kulturellen, literarischen und wissenschaftlichen Arbeit, um die sich insbesondere der Schewtschenkoverein in Lemberg (Ukrainische Gesellschaft der Wissenschaften) verdient machte, ging auch die politische Erhebung des ukrainischen Volkes. Tatsächlich gelang es dem Zarentume trotz aller Gewaltmaßregeln nie, den politischen Gedanken im ukrainischen Volk ganz auszulöschen. Unter den Trümmern der Vergangenheit glomm ununterbrochen der Funke des nationalen Selbstbewußtseins, der nur wartete, um in hellen Flammen aufzulodern. Bereits im Jahre 1791 ging Graf Kapnist an den preußischen Hof, um als Gesandter des ukrainischen Adels die Hilfe des Königs von Preußen für die Ukraine zu suchen. Die Dekabristenverschwörung vom Jahre 1825 wurde von der russischen Regierung vielfach auf die geheime Wühlarbeit ukrainischer [29] Nationalisten zurückgeführt. Im Jahre 1846 gründeten die Ukrainer in Kijiw, mit dem ukrainischen gelehrten Historiker Kostomarow, dem Publizisten Kulisch und dem Dichter Schewtschenko an der Spitze, die „Bruderschaft des Ciryll und Method“, die sich die Losreißung der Ukraine in der Form einer zu gründenden slawischen Föderation zum Ziele setzte. Der Verein wurde behördlich aufgelöst und die Führer mit Verbannung bestraft.

Nicht imstande, bei den in Rußland herrschenden Verhältnissen immer offen und in legaler Form aufzutreten, hat sich die ukrainische Intelligenz aus nationalen Beweggründen allen Befreiungsbewegungen in Rußland angeschlossen, und der Historiker der russischen Revolution, Thun, konstatiert in seiner Geschichte der russischen revolutionären Bewegung, daß jede Erhebung gegen das moskowitische Zarentum in Rußland eben aus dem ukrainischen Süden hervorging. Notstandsunruhen der ukrainischen Bauernschaft vom Jahre 1905 sowie die Meuterei der Schwarzen-Meer-Flotte in den Jahren 1905, 1912 und 1914 waren ebenfalls ein Werk ukrainischer Nationalisten und Revolutionäre, die auf diese Weise die moskowitische Herrschaft über die Ukraine zu unterwühlen trachteten.

Nach der Einführung der scheinkonstitutionellen Verfassung von Rußland entsendete die ukrainische Bevölkerung in die erste russische Duma nicht weniger als 40 Abgeordnete, die einen selbständigen „Ukrainischen Klub“ bildeten, und erst die „verbesserte Wahlreform“ hat die ukrainische Vertretung aus der sogenannten dritten Duma auf einige Zeit zu verdrängen vermocht. In Österreich haben die Ukrainer eine, der Zahl nach verbürgte, parlamentarische Vertretung von 32 Abgeordneten, die sich in den letzten Jahren im politischen Leben immer ansehnlichere Bedeutung zu verschaffen wußte, und die als legitimierte Vertreterin des ukrainischen Gedankens und der [30] ukrainischen nationalen Bestrebung auch dem Auslande gegenüber auftrat.

Wie stark sonst die ukrainische Bewegung bereits in den Massen der ukrainischen Bevölkerung Rußlands in den letzten Jahren zunahm, beweist der Umstand, daß mit dem Ausbruche des Krieges sämtliche in ukrainischer Sprache erscheinenden Blätter und Zeitschriften, mit dem Kijiwer Tageblatt „Rada“ an der Spitze, von der russischen Behörde suspendiert, sämtliche ukrainischen Vereine und Klubs aufgelöst und unlängst an einem einzigen Tage nicht weniger als 600 Ukrainer als „staatsgefährlich“ in Haft genommen wurden!

Auf diese Weise trachtet die russische Regierung die russische „Staatszitadelle“ zu retten, die angebliche Einheit des „russischen“ Stammes vor der Spaltung zu bewahren!

Ob alle obenerwähnten Mittel russischer Gewaltherrscher genügen, um die bevorstehenden großen politischen Umwälzungen im europäischen Osten aufzuhalten, ist sehr zu bezweifeln. Jedenfalls erhoffen die Ukrainer vom jetzigen Weltkriege, daß er sie vom schrecklichen Joche doch einmal befreit und daß die ukrainische Nation, nach so vielen Prüfungen und harten Schlägen, dank den siegreichen verbündeten Armeen zu ihrem heißersehnten Ziele gelangen wird!

Das ukrainische Volk hat im Laufe seiner geschichtlichen Vergangenheit stets einen Anschluß an den europäischen Westen gesucht, und dieses Streben nach Europa erstreckte sich nicht nur auf das kulturelle Leben des Volkes, sondern auch auf dessen Politik. Bereits im 12. Jahrhundert bestanden Bündnisse und Handelsbeziehungen zwischen Ukrainern (damals nach der lateinischen Nomenklatur Ruthenen genannt) und Deutschen, der ukrainische Fürst Danilo wurde im 13. Jahrhundert – wie bereits eingangs erwähnt – vom römischen Papst zum König von Halitsch gekrönt, und sein Sohn Roman, der eine Babenbergerin heiratete, hielt sich sogar einige Zeit auf dem österreichischen [31] Thron. Auch in späterer Zeit standen die Ukraine und ihre Kosakenhetmane in militärischen und internationalen Beziehungen zu europäischen Staaten. Kaiser Rudolf, ferner die schwedischen Könige Gustav Adolf und Karl XII. fanden zu wiederholten Malen Unterstützung in der Ukraine, und Karl XII. kämpfte zusammen mit dem ukrainischen Hetman Iwan Mazeppa auf dem Schlachtfelde bei Poltawa gegen die russische Übermacht. Noch mächtiger als in politischer Beziehung wirkte aber der europäische Westen auf das national-kulturelle Leben des ukrainischen Volkes. Bereits im 16. Jahrhundert gingen zahlreiche junge ukrainische Gelehrte nach Westeuropa, um hier, an den berühmtesten Universitäten, zu studieren und die westeuropäische Kultur und Wissenschaft von da in ihr Heimatland zu verpflanzen. Dank dieser Annäherung an den europäischen Westen entstanden auch im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zahlreiche ukrainische Schulen in der Ukraine – wie z. B. in Luzk, Lemberg, Ostrog und Brest, ja sogar eine ukrainische Hochschule, die sogenannte Mohylansche Akademie, die sich den europäischen Universitäten jener Zeit würdig anschloß. Erst die brutalen Gewaltakte russischer Herrscher haben dieser nationalen kulturellen Arbeit der Ukrainer ein jähes Ende bereitet. Auch im 19. Jahrhundert, trotz äußerst ungünstigen Verhältnissen, hat das ukrainische Volk in Rußland in der mächtigen „Schtunda-Bewegung“ seinen Anschluß auf religiösem Gebiete an den europäischen Westen und zugleich seine Abneigung gegen das russifizierende „Prawoslavie“ des heiligen Synods in Petersburg bekundet, und es hat die russische Regierung große Mühe gekostet, dieser, für das Moskowitertum gefährlichen, Bewegung Herr zu werden.

Die Ukrainer unterscheiden sich eben von den Moskowitern unter anderem dadurch, daß sie sich stets und auf allen Gebieten dem Westeuropäertum zu nähern trachten, während [32] die Moskowiter mit wahrer Vorliebe ihre eigene „Kultur“ dem „faulen Westen“ entgegenstellen. Für das ukrainische Volk galt und gilt immer der Grundsatz: „Ex Occidente lux“ – und daher ist es kein Wunder, wenn vom ukrainischen Volke auch im jetzigen Weltkriege die Befreiung vom nivellierenden Osten und die Annäherung der befreiten Ukraine an Europa und in erster Linie an die europäischen Zentralmächte erwartet wird!




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WS: Karte aus dem Exemplar der SB Berlin


  1. Der russischen und polnischen Nomenklatur nach werden die obenerwähnten Flüsse auch in Westeuropa irrtümlich Dnjepr und Dnjestr genannt.
  2. Für Lew hat Danilo die Stadt „Lwiw“ gegründet, die jetzige Hauptstadt von Galizien (Lwow, Lemberg).
  3. Diese Organisation ist daher mit dem Kosakenheere des jetzigen Rußlands, einer vielfach mißlungenen Nachbildung der ersteren, nicht zu verwechseln. Außer dem Namen haben beide Organisationen gar nichts Gemeinsames. Die russischen Kosaken, die auch im jetzigen Kriege eine so traurige Rolle spielen, wurden vom russischen Zaren als besondere privilegierte Kavallerieabteilungen gebildet und sind aus verschiedenen nationalen Elementen, hauptsächlich jedoch Großrussen, zusammengesetzt. Nur die Kubankosaken sind Nachkommen ukrainischer Kosaken, wurden aber in letzter Zeit mit Russen gemischt, da sie der russischen Regierung wegen ihrer nationalen ukrainischen Gesinnung und Traditionen „gefährlich“ vorkamen. Das ukrainische Kosakentum stand in Europa wegen seiner Tapferkeit und hohen militärischen Ausbildung seinerzeit in großem Ansehen, und es waren mächtige Staaten und Herrscher, die sich in manchen Bedrängnissen um seine militärische Hilfe bewarben (Rudolf II., Fürsten von Walachei und Siebenbürgen, Könige von Schweden, die venezianische Republik u. v. a.).
  4. Nach der russischen, für die Ukrainer gewiß nicht besonders günstigen Nationalitätenstatistik vom Jahre 1897 belief sich die Zahl der ukrainischen Bevölkerung auf rund 27 000 000. – Die Gesamtzahl der Ukrainer in Österreich-Ungarn muß nach der Zählung vom Jahre 1910 mit rund 4 300 000 angenommen werden. Mit Berücksichtigung des jährlichen Zuwachses wird die Gesamtzahl der Ukrainer auf einheitlich ukrainischem Territorium mit zumindest 32 700 000 angenommen.