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Die Todtenbeschwörung

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Textdaten
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Autor: Rudolf Kleinpaul
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Titel: Die Todtenbeschwörung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 120–123
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Nekromant.
Nach dem Oelgemälde von A. Adamo.

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Die Todtenbeschwörung.
Von Rudolf Kleinpaul.

Wenn wir zu Johannis oder am Allerseelentage auf den Friedhof gehen und das Grab einer Person besuchen, die uns im Leben theuer gewesen ist, so thun wir es nicht, ohne einen Kranz und Blumen, mitunter im Ueberflusse, mitzunehmen, und wenn uns gesagt wird, daß der reiche Blumenschmuck mehr um der Lebenden als um der Todten willen da ist, welche Letzteren nichts davon haben, so schütteln wir den Kopf, denn wir mögen von dem Glauben nicht ablassen, noch in einer gewissen Verbindung mit den Abgeschiedenen zu stehen, sie besuchen und ihnen etwas mitbringen zu können. Reiner und seliger, wie man zu sagen pflegt, verklärt, scheinen sie aus höheren Regionen auf uns herabzusehen und uns mit ihrem lichten und himmlischen Einfluß fort und fort zu leiten und zu segnen, aber an der Stätte, wo ihre irdischen Reste ruhen, sind sie uns vorzugsweise nahe, auf den grünen Hügeln schwebt es mit lautlosem Flügelschlag um uns wie ein Nachtvogel oder wie ein grauer Abendfalter. Das ist der Schatten oder der Geist des Verstorbenen, der gleichsam sein Bild lebendig erhält, nachdem er selbst erstarrt und als Leiche ein überirdisches, grauenvolles, verhülltes Wesen geworden ist, das Schauer erregt – es ist die unsterbliche Seele, die den Leib wie ein Gefängniß verlassen hat. Seele, was heißt Seele? Aller höheren Psychologie zum Trotze ist die Psyche für uns nichts weiter, als ein Gespenst, das bei Lebzeiten in der zerbrechlichen Hülle des Körpers spukt und das, nachdem die Hülle eingefallen, außerhalb derselben umgeht.

So haben die Menschen allezeit gedacht: die Mehrzahl bleibt immer in der Kindheit, und gewisse Irrthümer scheinen zur Natur des menschlichen Geistes zu gehören. Der Verkehr mit den Abgeschiedenen war bei den alten Griechen und Römern gerade so wie bei uns, nur noch materieller. Auch die Alten hatten ihre Allerseelentage und ihre Todtenfeste, an denen sie die Gräber ihrer Lieben besuchten, mit Guirlanden bekränzten und mit Lampen erleuchteten; aber mit diesen dürftigen Liebeszeichen begnügten sie sich nicht; sie erwiesen den Manen eine solidere Pietät. Sie brachten ihnen auch zu essen und zu trinken, als ob sie das noch im Stande gewesen wären – namentlich zu trinken; denn feste Speisen konnten die Schatten allerdings nicht mehr gut zu sich nehmen. Man setzte ihnen also Mehl, Oel, Milch, Honig, Wein und das frische Blut von Opferthieren vor, die man ihnen zu Ehren schlachtete, zum Beispiel das Blut eines schwarzen Schafes oder einer unfruchtbaren Kuh, zugleich machte man ihnen noch andere Geschenke. Das Todtenfest der alten Römer, an welchem allgemein Speisen auf die Gräber getragen wurden, war die Cara Cognatio, das heißt, die Liebe Verwandtschaft, sie fiel auf Ende Februar, denn der Februar galt bis zu Cäsar’s Kalenderreform für den letzten Monat des Jahres, und das Todtenfest beschloß das heidnische Jahr, wie unser Todtensonntag oder das katholische Allerseelenfest das Kirchenjahr beschließt. Die Cara Cognatio dauerte bis tief in die christliche Zeit hinein und wollte sich durchaus nicht ausrotten lassen. Die Kirche wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie wie so oft das heidnische Fest in ein christliches verwandelte: aus den Todtenmahlen wurden Liebesmahle zu Ehren des Apostelfürsten, und es entstand das Fest Petri Stuhlfeier, welches am 22. Februar gefeiert wird.

Weßhalb aber eiferte die Kirche gerade gegen dieses unschuldige Fest, das der natürlichen Pietät gegen die Verstorbenen entsprang? Weil viel heidnischer Zauber damit verbunden war. Solcher Zauber mußte sich bei dem Kultus der Todten leicht einschleichen. Da man sich einmal in Verbindung mit Wesen fühlte, die man für weise und für prophetisch ansah, da man in der Lage war, sie zu beschenken und einzuladen, so kam man auf den Gedanken, sich diese Annäherung zu nutze zu machen und die Geister wie [122] ein Orakel zu befragen, von ihnen über verborgene oder zukünftige Dinge Aufschlüsse zu erbitten. So entstand die Nekromantie, die Todtenbeschwörung, die man auch (weil das Volk Nekromantie irrthümlich in Nigromantie verwandelte) die Schwarze Kunst genannt und als solche mit Feuer und Schwert bekämpft hat, die aber zunächst die harmlose Unterredung mit einem theuern Abgeschiedenen war, nicht anders, als wie etwa ein guter Sohn vor einem wichtigen Entschlusse auf das Grab seiner Mutter geht und ihr mit kindlichem Vertrauen seine Sache vorträgt. Sie soll ihn erleuchten; sie soll ihn wie bei Lebzeiten berathen, sie soll ihm sagen, was recht ist.

Nur daß schon frühzeitig ein natürliches Raffinement in sofern eintrat, als man sich in derselben Absicht auch an fremde Geister wandte, zu denen man von Haus aus gar keine Beziehung hatte. Man merkte, daß sie sich alle durch Vorsetzen ihrer Lieblingsspeisen, durch passende Geschenke und Opfer locken ließen, man hatte daher ein Mittel in der Hand, die erste beste Seele, namentlich aber die eines Mannes zu beschwören, der schon auf Erden ein berühmter Seher gewesen war, wie zum Beispiel der Seher Tiresias. Wer hätte nicht die Odyssee gelesen? Nun, so wird man sich erinnern, daß ein ganzes Buch: „Todtenopfer“ überschrieben ist. Odysseus wird von der Circe angeleitet, im äußersten Westen der Erde, wo die Sonne nicht scheint und ein ewiges Dunkel herrscht, am Eingange des Hades eine Grube zu graben, den Todten eine Spende von Honig, Milch und Wein zu machen und ihnen einen schwarzen Widder und ein Schaf zu opfern, aber keinen Schatten heranzulassen, bis Tiresias von dem Blut getrunken und ihm geweissagt habe, die Procedur erfolgt und hat das gewünschte Resultat. Dabei fällt noch ein anderer Fortschritt ins Auge, den die Nekromantie gemacht hat: die Beschwörung erfolgt nicht mehr auf dem Grabe des Abgeschiedenen, sondern an den Pforten der Unterwelt. Solcher Pforten gab es aber in Griechenland mehrere, und an jeder derselben bestand auch ein Todtenorakel. Einer der ältesten und berühmtesten Plätze dieser Art war der sumpfähnliche See in der epirotischen Landschaft Thesprotia, in dem sich der Acheron verliert. Der öde und schauerliche Anblick, welchen der zwischen steilen Felswänden hindurchströmende und in dunklen Abgründen verschwindende Fluß gewährt, verbunden mit der unheimlichen Tiefe und den ungesunden Ausdünstungen des ebenerwähnten Sees, mag die Ursache gewesen sein, weßhalb der hellenische Volksglaube hier so zu sagen die Hölle offen und eine Gelegenheit sah, an die Geister der Verstorbenen zu gelangen. Hierher schickte seine Boten der Tyrann von Korinth Periander, einer der sieben Weisen, als er von seiner verstorbenen Gemahlin Melissa wissen wollte, wo das Depositum seines Gastfreundes hingekommen sei, und hier offenbarte sie es ihm.

Von dieser Art der Todtenbefragung ist es abermals nur ein Schritt bis zu der gewerbsmäßigen Nekromantie, wo die Rolle des Beschwörens und Befragens von einem Dritten übernommen wird, der sich ausdrücklich darauf eingeübt hat. Das ist Sache der Hexen und Hexenmeister und der Priester aller Nationen, und zwar von langer Hand. Bereits in den Schriften des Alten Testaments wird die Nekromantie als eine Art Zauberei verboten: „daß nicht unter dir gefunden werde ein Weissager oder Beschwörer oder der die Todten frage“, heißt es V. Mose 18, 11. Später ließ Saul, wie wir im ersten Buche Samuelis lesen, die Nekromanten gewaltsam ausrotten – derselbe Saul, der am Ende seines unglücklichen Lebens selbst seine Zuflucht zu einer Nekromantin nahm. Das war die Hexe von Endor. Abgeschnitten von jeder Gelegenheit, den göttlichen Willen zu befragen, von allen Propheten verlassen, beschloß der König im letzten Kriege gegen die Philister, sich beim Schatten Samuel’s Rathes zu erholen, und wandte sich deßhalb inkognito an ein Weib, das der allgemeinen Verfolgung angeblich als die Mutter Abner’s entgangen war. Nach langer Weigerung verstand sich die Frau dazu, den Richter zu citiren: in dem Augenblick, wo der erhabene Greis in dem seidenen Rock erschien, erkannte sie den König. Dieser sah anscheinend nichts: tief niedergebückt klagte er dem Propheten seine Noth; der aber verkündete ihm zornig den Verlust seines Reiches und den bevorstehenden Tod. Saul, der riesenstarke Mann, fiel der Länge nach auf die Erde und blieb unbeweglich liegen, bis ihn die Umstehenden nöthigten etwas zu essen. Bücher sind darüber geschrieben worden, ob der Schatten Samuels wirklich erschienen oder das Ganze ein satanisches Blendwerk gewesen sei: die Kirchenväter schwanken, Josephus feiert die Hexe von Endor als ein höheres Wesen, die Septuaginta bezeichnet sie als eine Bauchrednerin. Der Bericht selbst neigt offenbar dazu, die Erscheinung als wirklich darzustellen.

Aber die Kunst der Hexe von Endor war nicht bloß im heiligen Land bekannt, sie verbreitete sich vom Orient aus über die ganze alte Welt. Italien hatte schon in früher Zeit seine Nekromanten, die im Jahre 466 vor Christo nach Sparta geholt wurden, um den Schatten des Pausanias zu versöhnen, in Griechenland war Thessalien das Vaterland allen Zaubers, auch ein Herd dieser schauerlichen Praxis, und ein Seitenstück zu dem König von Israel bildet ein Jahrtausend später der große Pompejus, der vor der Schlacht bei Pharsalus zu den thessalischen Nekromanten geht und damit dem Dichter Lucan Veranlassung giebt, die zweiunddreißig Riten der Todtenbeschwörung zu beschreiben.

Diese zünftigen Nekromanten benöthigten wieder die irdischen Reste der Verstorbenen. Sie gingen nicht auf die Gräber, aber sie holten die Gebeine, die Schädel, ja die ganzen Leichname aus den Gräbern in die Laboratorien, wo sie dieselben mit warmem Blute und mit Weihrauch behandelten, und wo sie gewiß waren, eine Antwort herauszubringen, wenn der Fragesteller den Schatten vorher versöhnt und durch Opfer günstig gestimmt hatte. Zu allen Zeiten und unter allen Völkern bediente man sich der Todtengebeine zu magischen Zwecken, und in der Geheimlehre der Juden haben sich die betreffenden Recepte bis auf den heutigen Tag erhalten. Die Kabbalisten nehmen an, um den Geist eines Verstorbenen zu citiren, müsse man auf den Habal Garmin, das ist, auf den Hauch der Knochen wirken. So nennen sie die Elementarseele, durch deren Kraft der Leib gebaut wird, welche die Gestalt des Leibes hat und die vom Tage der Zeugung bis zur Auferstehung nicht vom Leibe weicht. Oft schwebt sie über dem Grabe und kann, sagt das rabbinische Buch „Sohar“, von Denen gesehen werden, denen die Augen geöffnet sind. Mit dem sterbenden Leibe verfällt der Habal Garmin der Herrschaft der finstern Mächte, und indem die letzteren ihn zu bannen und zu erregen im Stande sind, vermögen sie auch mit seiner Hilfe die Seele des Verstorbenen zu bewegen, besonders wenn das im ersten Jahre geschieht, wo die Seele ihre Verbindung mit dem Leibe noch nicht ganz verloren hat. In den Gebeinen besitzt also der Nekromant eine Handhabe, zunächst den Habal Garmin und mittelbar die Seele vor sich zu fordern. Immer aber ist die Beschwörung eines Abgeschiedenen eine gewaltsame Aufregung für dessen aus der Ruhe gebrachte Seele, daher Samuel’s Schatten den Saul fragt: „Warum hast Du mich erschüttert? Warum hast Du mich unruhig gemacht, daß Du mich herausbringen lässest?“

Weßhalb aber gleichzeitig den Leichnam mit warmem Blut begießen? Das beruht auf einer Art von Sympathie. Wie in den Knochen, so wohnt im Blute des Menschen ein eigener Lebensgeist, eine Seele, die der Nekromant ebenfalls brauchen kann. Die Litteratur der geheimen Wissenschaften weiß viel von „merkwürdigen Fällen“ zu erzählen, wo ein Seifensieder, der das Blut eines Menschen destillirte, im Destillirkolben eine Menschengestalt erblickte oder wo ein Scheidekünstler, der mit abgezapftem Blute experimentirte, plötzlich den Geist des Verstorbenen vor sich sah und in der Retorte einen Menschenkopf fand. Es wurden demnach geradezu Kinder geopfert, um Blut zu gewinnen und den Dämon desselben über die Zukunft zu befragen. Bei Leichen aber mußte sich der Nekromant mit fremdem Blute helfen.

Was unsere Nekromanten bei besagtem Hokuspokus unterstützte, war wesentlich Zweierlei. Erstens die Bauchrednerei, die sogar die Schamanen und die Medicinmänner wilder Völker gut verstehen, zweitens die Räucherung mit narkotischen Substanzen, welche letztere wieder den doppelten Zweck hatte: einmal die Sinne der Anwesenden zu betäuben und den einziehenden Visionen aufzuschließen. sodann in den weißlichen Dämpfen thatsächlich etwas wie Geister und überirdische Erscheinungen zu bieten. Ich will hier nicht wiederholen. was Benvenuto Cellini in seiner Selbstbiographie erzählt, die Goethe übersetzt hat. Niemand versteht sich so gut auf die Theorie der Dünste. als die Geisterbeschwörer; Schröpffer citirte in Dresden den Marschall von Sachsen niemals eher, als bis Punsch getrunken und Tabak geraucht worden war. Und diese Art Nekromantik dauert heute noch fort. wenn man auch nicht mehr Kinder mordet und Leichname verstümmelt.

[123] Noch immer sitzen die Gläubigen zusammen und warten der Geister, die da kommen sollen, und hängen an ihrem Nekromanten, während der wahre Nekromant aufstehen sollte und sagen: Geliebte Freunde, ich kann allerdings Geister rufen, was auch Ihr könnt; ob sie aber kommen, das mögt Ihr erwarten, wenn Ihr so lange warten wollt.

Unser Bild führt uns in die Werkstatt eines antiken Nekromanten, ein verfluchtes, dumpfes Mauerloch, mit Gläsern, Büchern rings umstellt und mit Instrumenten vollgepfropft wie die Halle Faust’s; man bemerkt mehr als einen Todtenkopf und andere Stücke, die an eine Anatomie erinnern. Die dunkle Bogennische im Hintergrunde ist die Scene, auf der hinter wallenden Dämpfen und Schleiern die auf die Oberwelt citirten Schemen dem Publikum erscheinen. Der Meister dieser Gaukeleien, nach Gesichtstypus und Tracht ein Sohn Kleinasiens, der vielleicht zugleich Gift mischt und Liebestränke bereitet, betrachtet mit prüfendem Auge den geheimnißvollen, aus dem brodelnden Kessel und aus den umstehenden Gefäßen zusammengebrauten Saft, ob er gut gerathen sei, und wir glauben fast in seinen Zügen den Gedanken lesen zu können: Mundus vult decipi: ergo decipiatur! (Die Welt will betrogen sein, darum sei sie betrogen!)