Die Pulver-Explosion in Mainz
Der achtzehnte November dieses Jahres war für die Stadt Mainz ein Tag, dessen schreckliches Andenken in dem Gedächtnisse ihre Bewohner fortleben und in den Blättern der Geschichte dieser alten deutschen Stadt für alle Zeiten seine Stelle behaupten wird. Wer je einen Augenblick der Todesangst erlebt hat, dessen Seele wird die scharfen Züge des Momentes unauslöschlich bewahren. Einen solchen Moment hat Mainz am 18. November dieses Jahres überstanden; es ist nicht Einer in dieser volkreichen Stadt gewesen, den an diesem Tage nicht eine Minute lang der Todesschrecken erfaßt; und eine solche Minute läßt sich nicht vergessen.
Es ist sehr begreiflich, daß sich die Kunde einer Explosion des Pulverthurmes dicht vor den Thoren der Stadt Mainz rasch nach ganz Europa verbreitete und daß alle Zeitungen sich beeilten,
[697]ihren Lesern umständlich über die Katastrophe zu berichten. Die Berichte der Tagespresse außerhalb Mainz sind jedoch nicht geeignet, ein zusammenhängendes, klares und wahrheitsgetreues Bild des furchtbaren Ereignisses zu bieten; wir unternehmen es daher, in Folgendem eine ausführliche Schilderung desselben zu veröffentlichen, die als um so zuverlässiger betrachtet werden darf, als wir Augenzeuge des ganzen Herganges gewesen sind.
Wenn irgend eine Stadt schon durch ihre geographische Lage zur Festung bestimmt ist, so ist es Mainz; schon seit zwei Jahrtausenden steht es gepanzert mit Wällen und Mauern da, die Beherrscherin zweier Ströme, der Schlüssel zu Deutschland. Jeder von Westen kommende Feind muß sich vor Allem in den Besitz dieses wichtigen Platzes setzen, der, am Mittelpunkte des Rheinlaufes gelegen, ihm den Weg nach Nord- und Süddeutschland öffnen würde. Das erkannten schon die Römer und darum setzten sie sich hier zuerst fest; auf den Anhöhen der Mainmündung schräg gegenüber bauten sie das alte, feste Moguntiacum; und gerade die Stelle, wo dieses gestanden, das Castrum romanum, der jetzige alte Kästrich, war es, die zunächst zum Schauplatze des schrecklichen Unglücks bestimmt war, dessen Bild wir zu entwerfen versuchen wollen.
Die Wichtigkeit von Mainz rechtfertigt die starke Befestigung desselben von Seiten des deutschen Bundes seit 1814; Mainz ist die erste und stärkste Bundesfestung Deutschlands, bestimmt, im Kriege eine Besatzung von 24,000 Mann aufzunehmen; selbst im Frieden hat es eine Garnison von 5000 Mann österreichischen [698] und eben so vielen preußischen Truppen. Von allen Seiten umstarren es mächtige Wälle, aus denen 13 Bastionen hervorspringen und außerhalb derselben sind noch Schanzen und Forts errichtet.
Der deutsche Bund hat hier eine Masse von Kriegsmunition aller Art angehäuft: es sollen sich nicht weniger als 7000 Centner Pulver hier befinden. Dieselben lagerten bis auf den heutigen Tag zum großen Theile in Pulverthürmen und Magazinen innerhalb der Festungswälle. Seit langen Jahren wurden zwar Unterhandlungen wegen Verlegung der Magazine in die Außenwerke und Erbauung von Friedensmagazinen in gehöriger Entfernung von der Stadt, wie solche fast bei allen anderen Festungen bestehen, geführt; im Jahre 1839 begann der deutsche Bund auch damit, aber die Sache kam in’s Stocken; in den unruhigen Jahren von 1848–1851 konnte die Entfernung ebenfalls nicht stattfinden und von da ab entschuldigte sich der deutsche Bund mit dem orientalischen Kriege, der eine Verlegung der Pulvervorräthe nicht gestattet habe. Auch seitdem zog sich die Sache in die Länge. Schon vor sechs Monaten begann man mit der Ausleerung der inneren Pulvermagazine, allein auch jetzt nahm dieselbe keinen Fortgang, weil von Bundeswegen die nöthigen Mittel noch nicht bewilligt waren. So blieb das drohende Wetter über der Stadt Mainz hängen, die nichts davon ahnte, bis es sich endlich, schnell wie ein Gedanke, unerwartet und plötzlich entlud. Blut und Trümmer predigen nun beredt genug das Gebot der Humanität, eine friedliche, lebensfreudige Stadt nicht mitten im Frieden mit allem Schrecken und Verderben des Krieges zu bedrohen. Mainz steht auf einem Vulcan; diese schreckliche Wahrheit hat es jetzt erst recht erkennen gelernt und jetzt kann es sich vergegenwärtigen, was ihm, der heitern, fröhlichen Rheinstadt, bevorgestanden hat, wenn nicht die gnädige Hand der Vorsehung es vor noch größerem Unheil geschützt hätte!
Dies zum Verständniß der Ursache des Ereignisses; bevor wir dasselbe in seinen Details dem Leser vorführen, sei es uns erlaubt, noch einen Blick auf den Ort zu werfen, welcher zum Schauplatze desselben werden sollte.
Die Stadt Mainz liegt am Fuße einer Anhöhe, die der Mainmündung gegenüber bis dicht an das Ufer des Rheines vortritt, sich von da aber landeinwärts wendet; zwischen der Anhöhe und dem Rheine liegt also ein Dreieck, auf welchem die Stadt Mainz sich erhebt. Vom Rheine an steigt sie allmählich an, bis zum Fuße der Anhöhe, auf welcher noch eine Straße, aus alten Häusern bestehend und meistens von ärmeren Leuten bewohnt, – der alte Kästrich – sich erhob. Und eben auf dieser Anhöhe, dem Mittelpuncte der Stadt so ziemlich gegenüber, stand das in die Luft geflogene Pulver-Magazin, also an einer Stelle, welche die ganze Stadt beherrscht.
Nimmt man vom Rheine aus seinen Weg gerade auf den Dom zu und verfolgt von hier aus die mitten durch die Stadt in gerader Richtung führende breite und schöne Ludwigsstraße, so gelangt man auf den Thiermarkt, auf welchem das Gouvernements-Gebäude steht; von hier führt links die Gaustraße bergauf; auf der Anhöhe steht oben die schöne, im dreizehnten Jahrhundert erbaute gothische St. Stephanskirche mit hohem Thurme, der die ganze Stadt hoch überragt. Rechts hat man den alten Kästrich. Den Ausgang der Gaustraße bildet das Gauthor, von dem eine auf 9 Bogen gestützte Brücke über den Stadtgraben führt. Von hier geht die Straße nach dem innern Rheinhessen, nach der Pfalz und Frankreich. Gauthor und Gaustraße sind daher auch immer belebt; der ganze Verkehr der Stadt Mainz mit den genannten Landstrichen nimmt diesen Weg. Daher kam es auch, daß im Augenblicke der Explosion drei Fuhrwerke die Gauthor-Brücke passiren wollten.
Kaum hundert Schritte rechts vom Gauthore stand ein großer, viereckiger Thurm, der Stockhausthurm, im 13. Jahrhundert erbaut, und dicht neben demselben das Pulvermagazin, einstöckig und massiv in Stein ausgeführt; in diesem Magazine entstand die Entzündung und dasselbe flog mit dem Stockhaus- (Martins-)Thurme in die Luft, einen furchtbaren Steinregen nach allen Seiten hin schleudernd.
Diese Bemerkungen werden zur Orientirung des Lesers hinreichen, dem wir nun die Schreckensscenen der Explosion selbst zu schildern versuchen wollen.
Es war am Mittwoch den 18. November, Nachmittags um drei Uhr, als auf einmal ein Donnergetöse die Luft erschütterte, die Erde schwankte, die Häuser erzitterten und schienen zusammenzustürzen, Dächer wurden zertrümmert, die Fenster flogen klirrend mit zerrissenen Rahmen und zerschmetterten Scheiben in die Zimmer, die Thüren wurden aus Schloß und Riegel gerissen, Bilder und Spiegel fielen in Scherben von den Wänden – es war ein Moment der allgemeinen Todesangst.
Die lebhafteste Phantasie ist nicht im Stande, sich diesen schrecklichen Augenblick zu malen: die allgemeine Bestürzung und Verwirrung, mit welcher ein Jeder sich zu retten suchte und doch nicht wußte, warum und wohin? In ganz Mainz dachte Niemand anders, als das Haus stürze ihm über dem Kopfe zusammen.
Nur wer die Menschen gesehen hat, wie sie aus ihren Wohnungen wankten, sich sammelten und mit bleichen Gesichtern einander anstarrten – der vermag sich den Schrecken vorzustellen, der alle Bewohner einer 40–50,000 Seelen zählenden Stadt ergriff.
Das Alles füllte einige Secunden aus. Was war geschehen? Die Plötzlichkeit des Ereignisses und die Schnelligkeit, mit der es vorüberging, waren so verwirrend, daß innerhalb der Stadt die beiden Donnerschläge, mit welchen das Pulver-Magazin und der Thurm in die Luft geflogen, kaum gehört wurden; allein, man brauchte nur den Blick zu erheben, um eine schwarze Rauchwolke den Himmel verfinstern zu sehen und zu errathen, was geschehen war.
Das war der erste Eindruck der Katastrophe auf diejenigen, die in der Stadt wohnen und in ihren Häusern anwesend waren. Zermalmender war der Anblick noch für diejenigen, die außerhalb der Stadt Augenzeugen der Explosion sein mußten. Am schrecklichsten war der Anblick von der Rheinbrücke aus, denn von hier sieht man die Gegend des Gauthors und die Stephanskirche, in einer Entfernung von 20 Minuten, hoch über die Stadt ragen.
Man sah den zuckenden Blitzstrahl aufflammen, aber sogleich in einer furchtbaren, schwarzen Rauchsäule verschwinden; zugleich hörte man zwei heftige Donnerschläge erdröhnen und die Luft wurde so heftig erschüttert, daß die Spaziergänger zu Boden geworfen wurden. Ganz Mainz war unter einer dicken Rauchwolke verhüllt. War die unglückliche Stadt von einem Ende bis zum andern ein Trümmerhaufe, der seine Bewohner erschlagen hatte? Gottlob, nein, denn einen Augenblick später, so lüftete sich der schwarze Nebel und der St. Stephansthurm wurde wieder sichtbar, selbst das Kreuz auf seiner Spitze ragte noch hoch über der Unglücksstätte. Der Martinsthurm aber war verschwunden.
Liebe Leser, vermögt Ihr Euch wohl zu denken, was in dieser gräßlichen Minute in den Gemüthern derer vorgegangen, die draußen diesen Anblick und in der Stadt theure Familienglieder hatten, die jetzt vielleicht in ihrem Blute schwammen? Hättet Ihr sie sehen mögen, wie sie mit wankenden Knieen und Leichenblässe auf dem Gesichte nach der Stadt eilten? Oder soll ich auch noch schildern, was mir diejenigen erzählten, die ganz in der Nähe der Explosion gewohnt, blutend aus ihren zusammengestürzten Häusern flohen – froh, daß ihnen noch das Leben geblieben und sie nicht, wie viele andere, den Tod ihrer Gatten und Kinder zu beklagen hatten? – – – Sollte ich das, so müßte ich mit dem Dichter fragen:
Wer, wer gibt mir den Pinsel, wer Farben, dies zu entwerfen?
Kaum hatte man sich von der ersten Bestürzung einigermaßen erholt, so war der erste Gedanke natürlich derjenige: wie wird es im obern Stadttheile erst aussehen, wo die Zerstörung sicherlich viel größer sein muß? In wenigen Minuten eilte Alles nach dieser Gegend hin, um einer Verheerung ansichtig zu werden, die alles überstieg, was man in banger Ahnung erwartet hatte. Der alte, düstere Thurm und das Magazin waren verschwunden; ihre Steinmassen waren über die ganze Gegend geschleudert worden. Der alte Kästrich und der obere Theil der Gaustraße waren ein Trümmerhaufe. Siebenundfunfzig Häuser waren ganz und gar zerstört, an wenigstens sechzig anderen waren Mauern und Dächer eingestürzt und aus dem Schutt dieses vernichteten Stadttheils drang der Jammerruf der lebendig Begrabenen. Ein weißgrauer Staub bedeckte die ganze Gegend und verdunkelte die Luft.
Doch was galt diese Zerstörung gegen den gräßlichen Verlust an Menschenleben, der sich herausstellte? Ueberall fand man blutige, schauderhaft verstümmelte Körper, Soldaten und Bürgersleute, zum Theil noch ächzend und mit dem Tode ringend. Die [699] Gliedmaßen getödteter Pferde zuckten im Staube. Mit herzzerreißendem Jammer rannten die Menschen umher und erfüllten die Luft mit ihren Wehklagen. Wo ist mein Vater? Ach, dort bringt man ihn todt! – Lebt meine Mutter noch? Wo sind meine Kinder, wo ist die Großmutter? So tönte es rund umher; jetzt kamen wieder Frauen und Mütter mit blutenden Wunden, jetzt zog man wieder halbtodte Verschüttete aus den Trümmern, jetzt trug man wieder zerschmetterte Leichname auf Tragbahren vorüber – – das war das Schauspiel, das sich unsern Augen darbot.
Vom Militair erlitten namentlich die preußischen Truppen bedeutende Verluste; sie haben zwölf Todte und 70–80 Verwundete zu beklagen. Es befinden sich darunter die Wachmannschaften am Gauthore und dem Pulvermagazine, die zum Theil weit weggeschleudert wurden. Auf österreichischer Seite gab es nur drei Todte.
[719] In dem Augenblicke der Explosion passirten drei Fuhrwerke die Gauthorbrücke; sie wurden in den Graben hinabgeschleudert, wo man die vier Pferde und zwei Fuhrleute in einer großen Blutlache wiederfand; der dritte – der Vater der beiden andern nämlich – kam mit schweren Wunden davon.
In nächster Nähe der Explosion war das Wohnhaus des Dachdeckermeisters Schumann. Dieser Unglückliche befand sich mit zweien seiner Söhne zu Hause und alle drei wurden unter den Trümmern begraben, während seine Frau mit einigen Kindern abwesend war. Wir sahen den heimkehrenden jungen Schumann seine zwei Brüder und andern Tags auch seinen Vaier aus dem Schutte ausgraben. Neben diesem wohnte, ein braver und thätiger Familienvater, Klingelschmitt mlt Namen, der sammt Frau und drei Kindern unter dem Schutte seines Hauses begraben wurde und erstickte, und sechs Tage später zog man ein noch vermißtes Dienstmädchen unter demselben Schutthaufen hervor. Nur zwei Kinder sind von dieser Familie noch übrig, da eines in der Schule war und der älteste Sohn beim Militär in Darmstadt steht. Letzterer eilte bei der Nachricht des ihn betroffenen Unglückes hierher, um noch einmal die sterblichen Ueberreste seiner Angehörigem zu sehen. Diese Scene zu beschreiben bin ich nicht im Stande.
Der ferner in unmittelbarer Nähe wohnende Privatdiener St., welcher, um bei einer Tafel serviren zu müssen, sich zur Stunde des Unglücks nach Hause begab, sich umzukleiden, fand seinen Tod, so wie in einem anderen naheliegenden Hause einem in der Wiege liegenden 21/4 Jahre alten Kinde, dem Tüncher C. angehörig, der Kopf zerschmettert wurde. Ergreifend ist’s, wie eine unter dem Schutte hervorgegrabene Frau fast sieben Stunden mit vollem Bewußtsein unter demselben das Schrecklichste zu befürchten hatte. In knieender Stellung lag sie, rufend und betend, halb durch eine Vertiefung in der Wand, halb durch ihren vorliegenden Arm vor dem Erstickungstode geschützt, aber unfähig, sich zu bewegen, in diesem entsetzlichen Grabe. Anfangs hatte sie, nach ihrer eigenen Aussage, noch etwas Raum über ihrem Kopfe, allein nachrieselnder Schutt verengte ihn immer mehr, zuletzt konnte sie nur noch, bei jedem Athemzugs Staub verschluckend, mit Mühe athmen. Endlich gelang es den wackeren Gräbern, mit Vorsicht eine Oeffnung an diesem Orte zu erlangen und so die Arme verletzt hervorzuziehen, während nur einige Schritte von ihr ihr Mann, St., ohne daß sie es wußte, den schmählichen Tod gefunden: als der edle Soldat, der unermüdlich bei der Arbeit ausgehalten hatte, die Gerettete hervorzog, sahen wir ihn vor Freude ohnmächtig niedersinken.
Zwei junge Bildhauer wurden in ihrer Werkstätte erschlagen; einen in der Stadt allbekannten Kellner ereilte auf einem Spaziergange ganz in der Nähe der Unglücksstätte der Tod. Einem [720] Kinde wurde von einem Steine in einem Hause mitten in der Stadt der Kopf weggerissen; in der Stephanspfarrschule kamen die Kinder mit dem Leben davon, der Lehrerin aber wurden beide Beine zerschmettert, und ist sie nach einigen Tagen auch gestorben. – Doch wenden wir uns ab von diesen blutigen Scenen, um ein Gesammtbild der angerichteten Zerstörung zu gewinnen!
Wir haben schon gesagt, daß die ganze Häuserreihe des alten Kästrichs niedergeschmettert wurde; ebenso die Häuser im obern Theile der Gaustraße; dort, wie in der Stephansstraße und der Weisgasse wurden alle Dächer zertrümmert. In der ganzen Stadt zersprangen in Folge des Luftdrucks fast alle Fensterscheiben; selbst Fensterrahmen und Thüren wurden größtentheils zersplittert. Auch die schönen gemalten Fenster des Doms und der Quintinskirche wurden zertrümmert; an der Emmeranskirche brachen nicht weniger als 4000 Scheiben entzwei, und am Frankfurter Hof, der den Sitzungssaal des großen Carneval-Vereins enthält, aber keineswegs das größte Gebäude der Stadt ist, desgleichen 544 Scheiben.
Das in die Luft geflogene Pulvermagazin enthielt eine Masse von 200 Centnern Pulver und 700 Stück Granaten, außerdem eine große Masse Zündhütchen und 600 Leuchtkugeln, woraus man auf die Gewalt der Explosion schließen kann.
Die Umgebung der Stadt war denn auch mit Steinen wie besäet. Aber auch über die Stadt selbst ergoß sich ein wahrer Regen von Steinen und Kugeln. Das stärkste Bombardement hatte die Stephanskirche auszuhalten, die nun wie eine Ruine dasteht. Das Dach ist fast vernichtet, die Fenster sind total zertrümmert, die Orgel ebenfalls; auch der Thurm litt sehr. Doch ist der Schade, den die Kirche genommen, nicht so groß, als man Anfangs glaubte; die Wiederherstellung wird jedoch mindestens 20–30,000 Gulden erfordern. Die Zahl der ganz zerstörten Häuser wird auf 57, die der Häuser mit zerschmetterten Dächern auf 64 angegeben.
Die weggeschleuderten Steine fielen in Entfernungen von einer Viertel-, ja bis zu einer halben Stunde nieder, und zwar in dieser Entfernung noch mit unglaublicher Wucht.
Ein solcher Stein, im Gewichte von drei Centnern, brach durch das Dach und zwei Stockwerke des schönen Café de Paris, bis in’s Erdgeschoß desselben, ohne in den sonst so viel besuchten Localen desselben Jemand zu verletzen. Auch in andere Häuser brachen solche Steine ein; der colossalste aber, der deswegen auch verwogen und 1362 Pfund schwer befunden wurde, suchte ein Haus auf dem Ballplatze heim, wo er ebenfalls durch das Dach und zwei Stockwerke in das Zimmer eines preußischen Oberstlieutenants drang, und ebensowenig irgend Jemand beschädigte. Andere Steine beschädigten die Dächer des Gymnasiums und der evangelischen Kirche, sowie viele Privathäuser.
Von der Gewalt des Luftdrucks, den die Explosion hervorbrachte, mag man sich einen Begriff machen, wenn wir anführen, daß Wände einstürzten (z. B. in einem Schullocale und einem Saale des Theatergebäudes), Thüren aus Schloß und Riegel sich losrissen und die Schlußsteine der Brunnen in die Höhe fuhren. Im Hofe des Theaters, der durch das 120 Fuß hohe Gebäude von allen Seiten eingeschlossen ist, sprangen sogar die Thüren eines Weinkellers auf, eiserne Stangen wurden mit den Quadersteinen, in welchen sie befestigt waren, aus den Mauern herausgerissen. Nicht blos in Mainz selbst zersprangen die Fensterscheiben, auch in allen umliegenden Orten; in dem zwei Stunden entfernen Niederolm fielen Kaffeetassen von den Tischen. Die Lufterschütterung und das Donnergetöse hat man weithin vernommen, z. B. in Wiesbaden und Bingen, selbst jenseit des Taunusgebirges; ja, was fast unglaublich erscheint, aus Entfernungen von 30, 40 und 50 Stunden hat man eine Menge Berichte erhalten, die davon Meldung machen, daß man genau zur Zeit der Explosion eine Luft- und Erderschütterung und ein Getöse, wie das Rollen eines fernen Donners wahrgenommen habe.
Solche Meldungen liegen z. B. aus Alsfeld in Oberhessen, aus Fulda in Kurhessen, aus Arolsen im Fürstenthum Waldeck, aus Würzburg und Kissingen im Königreich Baiern, sowie aus Mergentheim und mehreren andern Orten des Königreichs Würtemberg vor; sie sind zum Theil in einer Zeit geschrieben, wo man an den betreffenden Orten von der Mainzer Katastrophe noch nichts wissen konnte.
Der an den Gebäulichkeiten der Stadt angerichtete Schaden beläuft sich auf mindestens eine Million Gulden; an den Festungswerken hat die Explosion einen Schaden von beiläufig 150,000 Gulden hervorgebracht. So sind z. B. an den Militairgebäuden allein 25,000 Fensterscheiben zerbrochen. Der Gemeinderath von Mainz beschloß, den Antrag auf Schadloshaltung beim deutschen Bunde zu stellen; dieser Antrag, dem sich die öffentliche Meinung mit seltener Einstimmigkeit anschloß, wird von der großherzoglich hessischen Regierung unterstützt werden. Dann aber ist auch die Wohlthätigkeit der ganzen deutschen Nation mit Recht in Anspruch genommen worden und ist es für die schwer heimgesuchten Bewohner von Mainz ein wahrer Trost, aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes Beweise des allgemeinen Wetteifers zu erhalten, den Verunglückten Hülfe zu bringen.
Bis jetzt sind bürgerlicherseits allein dreißig Opfer der Katastrophe gestorben; meistens an den empfangenen Wunden, einige aber auch, und darunter zwei junge, blühende Mädchen von achtzehn und zwanzig Jahren, in Folge des Schreckens. Verwundet wurden wohl mehrere Hundert, davon zwanzig bis dreißig schwer; die andern (und besonders viele Frauen) kamen mit Kopf- und Handwunden davon. Viele aber werden für ihr ganzes Leben entstellt werden und ihren Familien als Krüppel übrig bleiben.
Gewiß, da thut es Noth, daß die Mildthätigkeit in allen Theilen Deutschlands wetteifert, zu helfen.
Und doch, so groß die Verwüstung, so bitter die Noth ist, muß man dennoch staunen, daß die Zerstörung nicht noch ärger, der Verlust an Menschenleben nicht noch größer ist. Ueber vierzig Todte hat zwar die kühle Erde in ihren Schooß aufgenommen; wer aber die Unzahl von Steinen, die umher geschleudert worden ist, die Masse von Geschossen, die nicht explodirt sind oder nicht getroffen haben und all die glücklichen Zufälle, denen so viele ihre Lebensrettung verdanken, zusammennimmt, der muß allerdings an das Walten einer höheren Hand glauben. Zur Zeit der Explosion waren die meisten Bewohner des alten Kästrichs – sie sind durchgängig Arbeiter – nicht zu Hause; die Wirthshäuser waren unbesucht und die Promenaden des schlechten Wetters wegen ohne Frequenz. Viele Bewohner der Gaustraße, z. B. mehrere Officiere, deren Wohnungen ganz und gar demolirt wurden, waren ebenfalls nicht zu Hause und blieben verschont, während mehrere Soldaten in der ersten Bestürzung aus den Fenstern der ersten Etage eines Brauhauses in der oberen Gaugasse wenigstens dreißig Fuß tief in den Garten sprangen und sich durchaus nicht verletzten.
Gleich wunderbar entging der Generalstab der Bundesfestung und das österreichische Officiercorps dem Tode. Es war nämlich für dasselbe auf den Nachmittag des 18. November ein Turnfest im Graben neben dem explodirten Magazine angesagt, aber der ungünstigen Witterung wegen Mittags abgesagt worden. Welch ein entsetzliches Unglück hätte dieselben treffen können, wäre das Turnfest wirklich abgehalten worden!
Ja, es ist nicht unwahrscheinlich, wenn auch sehr zweifelhaft, daß dieses beabsichtigte Turnfest gerade der Anlaß zu diesem unheilvollen Ereignisse geworden ist. Von Seiten des Festungs-Gouvernements wurde eine Untersuchungs-Commission niedergesetzt, um wo möglich die Ursache der Explosion zu ermitteln. Die Nachforschungen derselben haben festgestellt, daß man kurz vor der Katastrophe einen österreichischen Soldaten in dem Magazine bemerkt hat; daß der Artillerie-Corporal Wimmer um die Mittagszeit des 18. November sich im Hause des Artillerie-Directors des Schlüssels zu dem aufgeflogenen Magazine bemächtigt hat und seitdem verschwunden ist. Bis jetzt ist noch keine Spur von demselben aufgefunden. Die zur Ermittelung der Veranlassung der Pulverexplosion niedergesetzte Commission, sagt man, habe indeß thatsächlich festgestellt, daß Wimmer das Magazin wirklich in Brand gesteckt habe, indeß ist diese Nachricht nicht authentisch.
Kommen wir nun, sagt eine in Mainz erschienene Schrift, auf die Hauptsumme des furchtbaren Unglückes der Stadt Mainz zurück, wir müssen es aufrichtig gestehen, so wird es uns schwer, eine Zahl zu finden, die den daraus entstandenen Schaden zu decken vermag! Wenn auch von unseren Rechtsgelehrten „Worte der Beruhigung“, betreffs der Entschädigung, an uns gerichtetet wurden, und uns aus allen deutschen Gauen Trost, Unterstützungen zur augenblicklichen Linderung der Noth zufließen; wenn auch so viele edle Herzen durch Rechtsgefühl sich bereits für uns erschlossen haben, und mit der wahrhaftesten Menschenliebe Opfer der Mildthätigkeit bringen; wenn, wo
eine deutsche Zunge sich befindet, die regeste Thätigkeit herrscht, herbeizuspringen und zur Steuer der Noth ihre Gaben zu spenden, so wird Alles nur die Schale der Wunde, bei weitem nicht ihr Inneres erreichen, somit nicht das Uebel mit der Wurzel entfernen können. Bedenkt man, wie groß das Unglück so vieler braver und fleißiger Bürger ist, wo Eltern sammt Kindern mit einem Schlage umkamen, wiederum, wo Eltern ihren Kindern und Kinder ihren Eltern in einem Nu entrissen wurden; bedenkt man, wie groß die Zahl derer ist, deren Wohl auf lange, lange Zeit untergraben worden, die theils ihrer Habe, theils ihres Obdaches, ihrer Gesundheit und Nahrung beraubt, theils nur mit dem, was sie an und um sich hatten, also mit dem Leben davon kamen; bedenkt man, wie so manche Familie in stiller Zurückgezogenheit in ihrem Kämmerlein sitzt, worin sie nicht einmal bei dieser rauhen Jahreszeit vor der eindringenden kalten Luft geschützt ist, und unter Thränen des Kummers sich fragt: „Was beginnen wir, und wie und wo werden wir Hülfe erlangen?“ –; bedenkt man endlich auch den Punkt, daß durch diese Katastrophe der Abfluß so mancher Fremden stattfand, welch ein Nachtheil auch hierdurch unsere Stadt betrifft: so wird es jedem Sachverständigen wohl einleuchtend sein, daß diese Zerstörung nicht mit mehreren Millionen Gulden zu ersetzen ist.
Es ist, wie bereits vielseitig gesagt wurde, „eine Ehrensache der deutschen Nation,“ hier hülfreich zu sein, und ist ganz besonders unser Aller Blick auf den deutschen Bund gerichtet, dessen Entscheidung gewiß nicht anders als: „vollkommene Entschädigung der unglücklichen und unschuldigen Stadt Mainz“ lauten wird.