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Die Obstkammer Berlins (Die Gartenlaube 1894/41)

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Textdaten
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Autor: Richard Nordhausen
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Titel: Die Obstkammer Berlins
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 693, 696–699
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Werder (Havel) als Produzent von Äpfeln und anderen Obstsorten für Berlin
vgl. Die Obstkammer Berlins, 1874, Heft 27, S. 440–442
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Der Werdersche Obstmarkt in Berlin.
Nach einer Originalzeichnung von A. Kiekebusch.

[696]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Obstkammer Berlins.

Von Richard Nordhausen. Mit Zeichnungen von A. Kiekebusch.

Es ist noch früh. Die Herbstsonne kämpft tapfer mit den braunen Schwaden, die aus der Stadt aufzusteigen scheinen und sie immer wieder zu verhüllen drohen; tapfer verteidigt sie die an den Kirchturmspitzen schon eroberten festen Positionen und endlich gelingt es ihr, all das Gewölk zu durchbrechen und eine flackernde Lichtflut über das schlummernde Berlin im Grunde auszugießen. An den Ufern der Spree wird es lebendig, Rauchwölkchen steigen aus den kleinen Ofenessen der plumpen Holzkähne auf, Möwen, die schon ins Winterquartier kamen, flattern eifrig umher und äugen, als erwarteten sie liebe Gäste. Und siehe – weit hinten in der Ferne, wo Dämmerung und Sonnenglanz, braungoldne Schatten und Himmelsblau ineinander tauchen, mischt sich ein neuer Farbenton in das Herbstgemälde, schwärzlicher Qualm, wie von einem Schornstein.... Man weiß schon, das sind die Werderaner, die Frühaufsteher, die auf überreich beladenen Schuten, auf großen Raddampfern, den Obstfreunden der Hauptstadt Tag um Tag die wohlschmeckenden Gaben dieses lachenden Herbstes bringen. Nicht eben lange, und die immer wieder gern gesehenen Fahrzeuge schwimmen heran. Wer gerade die Uferstraße passiert, bleibt stehen und betrachtet sie mit sonnigem Wohlbehagen. Denn von den unzähligen, das ganze Verdeck füllenden Bütten voll prächtig rotbäckiger Aepfel strömt ein Duft aus, der den geborenen Berliner immer wieder berauscht, der eine Reihe lieber, köstlicher Erinnerungen auslöst und ihn zwingt, zu schauen und zu träumen. Wessen Familie in der Hauptstadt erbeingesessen ist, wer nicht zu jenen „Zugezogenen“ gehört, die nur dem Namen, nicht der Sinnesart nach Berliner sind, der liebt die spießbürgerlich gemütliche Poesie, die halb hausbackene und halb himmlische Poesie, welche so ein „Aeppelkahn“ ausstrahlt, den nimmt sie stets von neuem gefangen. Ach, die Tage, wo man mit „Muttern“ auf den Obstmarkt gehen, lüstern zwischen all den gesteckt vollen „Tienen“ herumlaufen durfte und überall da, wo Mutter etwas kaufte, keck in die Fülle der Früchte hineingriff, um zu „kosten“! Ach, die Tage, die lieben Tage, wo man auf dem Wege zur „Klippschule“ bei den „Werderschen“ vorüberkam und alle Sorgen, die Angst um den fehlenden Aufsatz, um die ungelernten Bibelsprüche über ihrem hinreißenden Anblick vergaß! Wo man Herkulesthaten verrichtete, um einen Dreier als Lohn zu erlangen und sofort in „Aeppeln“ oder „Flaumen“ anlegen zu können! Herbstlich sonnige Tage, weiße Fäden in der Luft – wie erinnert ihr hold an die Jugendzeit, da das Laub auf den Bäumen noch nicht bunt und das Haar auf dem Kopfe noch nicht weiß war … Reifer Apfel unten im Kahn, wir haben dich schon im Lenze bewundert, als du noch Blüte warst, und es ist schwer, zu sagen, wann du uns besser gefielst, damals oder heute ....

Zur Zeit der Baumblüte auf dem Wachtelwinkel bei Werder.

Die schönen Tage der Baumblüte – wie schön dünken sie uns erst im Herbst, wenn ihre Früchte so lockend und freundlich herauflachen!

Wißt ihr denn, was der Frühling ist für die sandige Mark Brandenburg, der Maienfrühling, die Auferstehungszeit? Was die Mitternachtssonne, nein, was das Nordlicht ist für die Polarlande, was eine plötzliche Sturmflut großer und schöner Gedanken für den lange fruchtlos brütenden Geist, was eine Flasche Sekt für den armen Poeten, was Schimmer der Ballnachtskerzen und ein knisterndes weißes Atlaskleid für die sechzehnjährige Mädchenknospe! Meiner Heimat mildes Antlitz strahlt wie ein beglücktes Menschengesicht, glänzt wie von neuem Leben und lacht im Frühling, während es in den anderen Jahreszeiten ernst und schweigsam bleibt. Der Frühling ist nirgends schöner, kann nirgends schöner sein als in der Mark, denn nirgends bleibt ihm mehr zu thun als hier. Nirgendwo tritt der Gegensatz zwischen Winter und Lenz so überraschend hervor wie im seenreichen Flachlande. Indes die Landschaft lohnt auch dem Lenze seine Liebe, und wenn bevorzugtere Gegenden ihren vollen Reiz erst im Juni oder Juli oder gar im Herbst entfalten, so bedeuten für uns Märker die Tage der ersten Blüte auch die der höchsten Blüte des Jahres.

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Beim Obstpflücken.

Des märkischen Frühlings Lieblingskind aber ist die Havellandschaft um Werder.

Ein so mitleidig ironisches Lächeln man auch immer als Antwort bereit hat, wenn die Rede auf Brandenburgs Naturschönheiten kommt, und so gern die, denen ihr schlichter Zauber unbekannt ist, die Redensart von „des Deutschen Reiches Streusandbüchse“ anwenden – „Potsdam und Umgebung“ läßt selbst Baedeker gelten, und er greift tüchtig in seinen Vorrat an Sternen, um sie nach Gebühr zu feiern. Sogar der Berliner, der bei allem Lokalpatriotismus seine engere Heimat gemeinhin wenig kennt und den wider sie genährten Vorurteilen kurioserweise am bereitwilligsten anhängt, läßt es sich nicht nehmen, Logierbesuche aus der Provinz und dem Reiche nach Potsdam zu führen. Von der stillen Nachbarresidenz, die breite Havelarme zärtlich umwinden, geht dann die Fahrt weiter nach Werder, dem Inselort, der mitten auf dem breiten, im Mittagssonnenglanz blau und silbern flackernden Havelbecken wie ein riesiges Nymphäenblatt ruht. Man pflegt in Baumgartenbrück, dem ehemals durch seine „Referendarpresse“ hochberühmten, reizenden Flecken, zu rasten und dann den Weg bis zum Ziele zu Fuß zurückzulegen. Machtvoll nimmt das zauberhafte Landschaftsbild die Phantasie jedes Naturfreundes gefangen, der hier zur Zeit der Baumblüte entlang gezogen kommt. Daß ich doch hinzustellen vermöchte vor eure Augen in greifbarer Klarheit diese funkelnden Wasserflächen, diese duftumwobene Ferne, diese weißschimmernden Blütenhaine, diese ragenden Wälder und lieblichen Hügel, von denen sich immer neue Fernblicke eröffnen! Wer einmal hinabgeschaut hat in das Gefild, auf das in Blütenschnee gehüllte Werder, das wie ein großer, weißer Blumenstrauß in amethystener Schüssel ruht, wessen Blick dann weiter schweift über die Wassermassen der Havel, die im Halbkreise das Land umwindet, über schwarzgrüne Wälder nach Potsdams emporsteigenden Türmen und über die unruhvollen Wellen des stolzen Schwilowsees – der spottet nicht mehr über die Mark, dem erstirbt später, wenn er einmal ihre sandverwehten Heiden, ihre Brüche durchstreift, das herbe Verdammungswort auf der Zunge. Der Anblick, den Werder zur Zeit der Baumblüte gewährt, steht nicht hinter dem der vielbesungenen Darmstädter Bergstraße zurück.

Ist der Frühlingssonntag gekommen, an dem sich all die weiße Pracht von Werder entfaltet, jeder Obstbaum sich unzählige Blüten ins grüne Gelock geflochten hat, dann strebt halb Berlin der kirschengesegneten Havelinsel zu. Man erreicht sie mit Dampfern und mit den „Extrazügen“ der Eisenbahn; tüchtige Fußgänger wandern auch den größeren Teil des Weges, der immer am Fluß entlang, durch hübsche, auch in Obstbaumwäldern eingebettete Schifferdörfer führt. Dann entwickelt sich hier ein echtes, rechtes Volksfest, eine lärmende Fröhlichkeit sondergleichen, und je näher man Werder kommt, desto lebhafter geht es zu. Nicht lange, und die Obstpflanzungen treten dicht an die Landstraße heran. Wir schlendern an ihnen, die aus weißem Sande, dem unverfälschten „Brandenburger Schnee“, aufsteigen, tief aufatmend vorbei. Unter Kirschen- und Pflaumenblüten, zwischen die sich der Pfirsichblüte feines Rot drängt, verschwinden nun Blätter und Stämme vollkommen; kaum hier und da wagt sich ein wenig Grün hervor, das dann wie etwas Ungewohntes, Seltsames anmutet, oder eine sonnenvergoldete, phantastisch verkrüppelte Baumform.

Nun, wo der Weg auf die Höhe des sandigen Galgenberges führt, weht der Wind Wellen würzigen Duftes herüber, um den Ceylon unsern Norden beneiden könnte; nun sehen wir unter uns leise wogende, schier unendliche Blütenmassen, die wie köstlicher Schnee die Dächer der Häuser, ja selbst die Havelfluten zu bedecken scheinen. Wer uns entgegenkommt, trägt einen dichtbeblühten Kirschbaumzweig in der Hand – so überreift mit dem Frühlingssegen ist der Galgenberg, daß selbst die sparsamen Werderaner ihren Gästen freie Hand lassen. Unter den breit ausladenden Wipfeln wandeln, wie trunken von Luft und Sonne und Freude, jubelnde singende Menschenkinder, und all die leuchtenden Augen rings sprechen noch deutlicher, als Worte es vermöchten.

Beim Obstwein auf der Gerlachshöhe.

Wo sich zwischen zweien der größten Gärten des Galgenberges ein schmaler Rain hindurchwindet, ragt eine junge Kiefer in die blaue Luft und unterbricht in eigen reizvoller Weise mit buschigem Grün die silbern leuchtende Herrlichkeit ringsum. Sie ist eben dabei, ihr Winterkleid abzustreifen und neue Nadeln zu treiben, und man sieht’s ihr an, wie arm sie sich in dieser gesegneten, farbenfunkelnden Flur vorkommt und wie sie mit allen Fibern, dankbar und bescheiden, an der wonnereichen Lenzfeier teilnimmt.

Auf dem „Wachtelwinkel“, von dessen Höhe man wie vom Galgenberge das ganze Landschaftsbild erfassen kann – hier sogar „kostenfrei“, während der Zutritt zum Nebenbuhler besteuert wird – lockt eine gemütliche Frühlingskneipe, die nur für die Tage der Baumblüte aufgethan wird und wo man unter einem noch kahlen, „1830 gepflanzten“ Nußbaum Werderschen Obstwein oder Werdersches Bier genießen kann. Es giebt sogar Menschen, die irrtümlicherweise beide Säfte in einem Magen vereinigt haben und doch wieder leidlich gesund geworden sind. Der Werdersche Apfelwein wird von Kennern sehr gepriesen, ob aber auch getrunken, ist eine andere Frage. Der erste Schoppen erweckt unbestimmte Befürchtungen; man merkt, daß die Hersteller des Saftes es sich sauer werden ließen und daß der märkische Apfel nicht allen Mägen die Traube vom Rhein ersetzen kann. Aber bei einiger Uebung [698] gelangt man schon hinter die Süßigkeit dieser „kühlen Blonden“. – Das Werdersche Bier, schlechtweg „die Werdersche“ genannt, hat sich vor Jahren der besonderen Gunst des Berliners erfreut; man schrieb ihm nährende Eigenschaften zu und kredenzte es mit Vorliebe den nützlichen Spreewald-Ammen. Ein großer Teil der hauptstädtischen Bevölkerung verdankt ihm also mittelbar Kraft und Wohlbeleibtheit. War es der Werderschen seiner Zeit gelungen, dem Weißbier ganz erheblichen Abbruch zu thun, so mußte sie später ihrerseits einem überlegenen Gegner, dem Bayerischen, weichen; und jetzt sieht man sie in Berlin nur noch hin und wieder in Kellerfenstern angekündigt, neben Käse, Hülsenfrüchten, Bückingen und anderen Viktualien. Leider scheint sie keineswegs erbittert über diesen Niedergang ihres Ansehens, sondern ist im Gegenteil noch süßer und fader im Geschmack als früher geworden; ihre Brauer legen offenbar mehr Wert auf Erzielung einer tiefschwarzen Farbe als auf gaumenreizende Süffigkeit. Hierdurch tragen sie ihr gut Teil dazu bei, den Werderanern ihren jahrhundertelang aufrecht erhaltenen Ruf strengster Nüchternheit auch ferner zu bewahren.

Berühmter als Werderscher Apfelwein und Werdersches Bier, unentbehrlich für den Berliner Markt ist das Werdersche Obst. Der Wohlstand der „Insel“ beruht ausschließlich auf ihrer Obstkultur, und es ist deshalb ganz selbstverständlich, daß dieser Erwerbszweig hier als der vornehmste gilt und man ihm mit größter Liebe, peinlichster Sorgfalt obliegt. Denn die Fischerei z. B., der trotz Werders günstiger Lage kaum einige dreißig Familien unter 6000 Einwohnern nachgehen, wirft nur kärglichen Gewinn ab. Jeder Werderaner, vom kleinsten Ziegeleiarbeiter und Anbauer bis zum Tienen-Kapitalisten, ist Gärtner; nahezu alle Arbeitskraft der Familie wird auf dies eine Gebiet beschränkt. Man muß wissen, daß Werder im Jahre 1893 über 700000 „Tienen“, d. h. 5 Millionen Liter Obst im Werte von fast einer Million Mark, nach Berlin gesandt hat, und wird sich dann eine Vorstellung davon machen können, welch gründlicher Betrieb hier auf räumlich ungemein begrenzter, anscheinend unfruchtbarer Scholle entfaltet wird. Wenn man daneben bedenkt, welch aufopfernde Pflege der Obstbau erheischt, wenn anders er lohnend sein soll, wie sorgsam der Boden bearbeitet, das junge Grün behütet werden muß, wie oft Schädlinge ganze Ernten vernichten, wie viel von der Gunst des Wetters abhängt und wie andererseits gerade die Wettergunst einen Segen bringen kann, der bei unseren wirtschaftlichen Zuständen zum Fluch ausschlägt, indem er das allzu reichlich geratene Obst entwertet – dann wundert man sich wohl nicht darüber, daß die Werderaner zwar meist in auskömmlichen Verhältnissen leben und schuldenfreie Häuschen ihr eigen nennen, daß sie es aber zu Bankdepots nur selten bringen. Eingeschaltet sei gleich hier, daß der, wenigstens in früheren Tagen, schlechte Ruf der Werderaner bei allen Marktbesuchern sich zwanglos aus ihrer damaligen Armut und ihrer angespannten Thätigkeit erklärt, die ihnen nicht Zeit ließ, sich um Fremde liebenswürdig zu bemühen, und die ihnen die Mittel verweigerte, sie gastlich aufzunehmen. Wenn deshalb Martin Zeiler im 16. Jahrhundert schrieb, daß sie „gar unfreundliche Leut“ seien, „dem Gaste das Wasser von gesottenen Eiern um Gotteswillen geben“ und daß der, „dem sie eine reine Streu zum Nachtlager machen, sich für einen großen Herrn achten solle“, so muß man immer der Gründe denken, die solche Selbstsucht hervorgerufen. Und von den heutigen Werderanern darf man gewiß nicht mehr behaupten, was ein anderer Reiseschriftsteller jener Tage über ihre Ahnen sagte: „Sie hassen alles Fremde, thun fast treuherzig, sind aber habgierig und unbarmherzig, von außen gleißnerisch, von innen reißende Wölfe. Immer nur auf Geld und Erwerb bedacht, halten sie nicht viel von Künsten und Wissenschaften.“

Auf der Fahrt nach Berlin.

Ihre Kunst und ihre Wissenschaft bestand darin, sich den Markt der nahen Hauptstadt erst zu erobern, dann zu sichern. Frühzeitig schon, gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts, fingen sie an, edlere, feinere Fruchtsorten als die landläufigen zu kultivieren und dadurch die Feinschmecker aufmerksam zu machen. Der königliche Hof bezog lange Jahre hindurch sein Tafelobst aus Werder, und Berlin zahlt für Werdersche Produkte noch heute gern Vorzugspreise. Den alten Ruf unerschüttert zu bewahren, wenden die Werderaner alles auf, ihre Pflanzungen fortzuentwickeln, so daß die von ihnen auf den Markt gebrachten Früchte wirklich den Ehrennamen „Wunder Pomonens“ verdienen. Beobachten wir die fleißigen Leute an einem Wochentage, der im allgemeinen wenig Besucher auf die Insel bringt, bei ihrem Werke, das hart und mühsam genug ist, das zur Sommerszeit schon um zwei Uhr morgens zu beginnen pflegt und an dem die Jüngsten wie die Aeltesten mit gleichem Eifer teilzunehmen pflegen! Freie Luft und Arbeit halten gesund; neben den vier- und fünfjährigen Kleinen, die man schon zum Ausjäten des Unkrautes verwendet, machen sich auch zahlreiche Greise und Greisinnen nützlich, denen man ihre siebzig, selbst achtzig Jahre kaum ansieht.

Die Gärten bedecken ein Gebiet von über 2000 Morgen und ziehen sich von Norden nach Süden längs der Havel hin. Da der Boden unter seiner schneeigen Sandschicht fett und schwarz ist, treibt er allerlei üppiges Unkraut, Geziefer wird vom Duft und von der leckeren Süßigkeit der Blüten in unglaublichen Mengen herbeigelockt, der nötige Dung für die Bäume ist nur unter großen Schwierigkeiten, oft von weither, zu beschaffen, und so ergiebt sich, rechnet man noch die Arbeit des Pfropfens und Okulierens hinzu, für die Morgenstunden genug Gelegenheit zu rastlosem Schaffen. Die höchste Thätigkeit freilich entwickelt sich, wenn die Blüte vorbei ist und die Frucht gedeihlich heranreift. Werder exportiert neben [699] süßen und sauren Kirschen von unerreichter Vorzüglichkeit auch Erdbeeren, später Johannis-, Stachel- und Himbeeren, schließlich Pflaumen, Aepfel und Pfirsiche. Wein zieht man eigentlich nur, um die letztgenannte Edelfrucht in seine Blätter einwickeln zu können. Die vorhin genannte „Ausfuhrziffer“ von 700000 Tienen verteilt sich natürlich auf wenige Monate des Jahres, und zur Höhezeit der Saison, im Spätsommer und Frühherbst, gewährt die Brücke Werders nachmittags einen ungemein fesselnden Anblick.

Sind die Obstdampfer, die man auf gemeinschaftliche Kosten erbaut hat und die meist einen, selbst zwei gefüllte Kähne noch hinter sich herschleppen, von Berlin eingetroffen, so stürzen sich die Bootsleute begierig auf ihren Inhalt, die leeren Tienen. Jeder kennt genau die Marke oder die Farbe, welche die einzelnen Händler für ihre Gefäße wählten, und fein säuberlich werden am Strande die Tienensäulen aufgeschichtet. Und nun kommen auch schon die mit gefüllten Tienen hochbeladenen Obstwagen der Gärtner heran; während die Bootsleute noch damit beschäftigt sind, das Schiff zu leeren, packen sie es schon wieder voll, und in weniger als einer Stunde ist die ganze Arbeit vollendet. Ein Signalschuß dröhnt, sechs Schläge vom Kirchturm hallen über die Stadt, und der beuteschwere Dampfer mit seinen Anhängseln ächzt langsam auf Potsdam zu, nach Berlin weiter. Die Werderanerinnen begleiten ihr Obst in die Reichshauptstadt, und mit Schlaf, Strumpfstricken, Häkeln und Kaffeetrinken aus allerlei Tassen und Töpfen verbringen sie die Nacht. Gegen Morgen kommt man in Berlin an, bei der Markthalle in der Dorotheenstraße, dem „neuen Werderschen Markt“, wird gelandet, und hier entwickelt sich dann allmählich das immer befriedigende, glatte Verkaufsgeschäft. Diese Ware lobt ja den, der sie feilbietet, nicht umgekehrt …

Noch mancherlei Interessantes bietet die Stadt Werder, mancherlei freundliche Erinnerungen haften an ihr. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. ließ ihr eine tragfähige Brücke bauen, dank welcher sie erst mit der Außenwelt in regere Verbindung trat; er schwang sich zu dieser Ausgabe nicht aus Liebe zur Insel auf, sondern weil ihm gemeldet wurde, daß der alte, völlig zermorschte Steg kein Bataillon mehr zu tragen vermochte. Er ließ nachher Werders morastige Straßen, deren Schrecken er am eigenen Leibe erfahren hatte, pflastern; auch die von den Lehniner Mönchen erbaute, stimmungsvolle gotische Kirche baute er in seiner Art um. Diese Kirche glänzte früher durch ein eigentümliches Altargemälde, „Christus als Apotheker“, das nicht gerade geschmackvoll, aber werderisch naiv den Heiland darstellte, wie er auf einer Wage die menschliche Schuld auswog gegen „Kreuz-Wurtz“, das Gnadenmittel. Büchsen mit den Aufschriften: Liebe, Hilfe, Geduld, Friede, Beständigkeit, Hoffnung, Glauben ergänzten die Einrichtung der seltsamen Pharmacie. –

Aber soviel Kurioses wir auch von den Eigentümlichkeiten und Lebensgewohnheiten der Werderaner noch gehört haben, für heute müssen wir unsere Wißbegierde bezwingen. Die Nacht bricht herein, ungewisses Mondlicht rinnt über die Dächer, Werder geht schlafen.

So besteigen wir denn den bereit liegenden Kahn, der uns nach Potsdam zurückbringen soll. Eine wunderherrliche Fahrt. Von herbem Duft umwittert, leuchtend in silberner Klarheit, wandelt die Septembernacht über die Wasser. Wir hören nichts als das Geräusch der taktmäßig in die Flut tauchenden Ruder und das Klatschen und Gurgeln der Wellen, die sich am Kiel brechen. Im Mondenglanz sehen wir die weißen Nebel wallen, die Havel blitzen und funkeln, als bereite sie etwas Wundersames, Großes vor, als schicke sie sich an, das Märchenschloß emporsteigen zu lassen, das in ihrer Tiefe liegt. Noch einmal, ehe sie sich zu langem Winterschlafe niederlegt, öffnet die Natur ihr Schatzkästlein und zeigt ihre schönsten Juwelen. Und wir trinken, den Blick zu den Sternen gerichtet, den feuchten Odem der Nacht, und wie das Boot dahinschaukelt, dünkt uns, wir seien entschlummert und der Traumgott fahre uns thulewärts übers Meer, und gleich müsse aus süßen Düften und wehendem Licht die silberne Grotte aufsteigen, die hinunterführt in den Palast … Wir gleiten an den schlafenden Ufern vorbei, hören die jungen Kiefern, die noch nicht zur Ruhe gekommen sind, leise miteinander raunen und atmen ihren würzigen Duft. Und immer nebliger wird es, immer breiter der durch die Dämpfe flimmernde, schwankende Silberstreifen auf der Flut. Zuweilen sprüht’s und funkelt’s fern von ihm auf, als blinzle eine Nixe im Schlaf. Vorn aber, weit vorn glühen zwei rote Augen durch die weiße Nacht – das sind die Lichter der Werderschen Obstdampfer, die wie zum Dienst der Menschen gebändigte Ungetüme der Hauptstadt zu schleichen …

Keiner von uns spricht ein Wort, kein Herz offenbart laut sein Entzücken; alles sinnt und träumt und lauscht. O märkische Natur, schlichte, bescheidene, wie machst du Tausende zu Dichtern, die nie einen Reim geschrieben haben und nie einen schreiben werden!